Erstmals stutzte die Tierneurologin Arianna Maiolini Ende November. Sie untersuchte einen Hund, der gemäss Besitzer plötzlich laut zu jaulen begann, extrem nervös und verstört wirkte. «Er zeigte akute Panikattacken, die sich von anderen Krankheitsbildern wie beispielsweise Epilepsie unterscheiden», sagt Maiolini, die an der Kleintierklinik der Universität Bern arbeitet.
Die Symptome liessen sie an die Nachricht denken, die sie kurz zuvor von einer deutschen Neurologin erhalten hatte. Nina Meyerhoff arbeitet an der Tierärztlichen Hochschule Hannover und beobachtete seit letztem August ein Phänomen bei Hunden, das in deutschen Medien als Werwolf-Syndrom für Schlagzeilen sorgt. Bislang unauffällige Hunde beginnen, gehetzt herumzurennen, sie jaulen oder bellen laut, sind sehr reizempfindlich und verängstigt. Zum Teil hätten die Tiere im späteren Verlauf epileptische Anfälle bekommen, berichtete Meyerhoff ihren Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland.
Rasch wurde klar, dass es sich um ein europaweites Problem handelt. Tierärzte aus Finnland, den Niederlanden, Dänemark oder Frankreich berichteten ebenfalls von solchen Fällen. Auf Nachfrage dieser Zeitung zeigt sich nun: Auch in der Schweiz sind Hunde betroffen. Die Tiere wurden unter anderem am Universitären Tierspital Zürich behandelt, in der Tierklinik Marigin in Feusisberg, in einer Aargauer Tierklinik oder an der Kleintierklinik der Universität Bern. Die dortige Oberärztin Maiolini, sagt, dass zudem Fälle aus Lausanne und der Zentralschweiz bekannt seien. Zwar sind pro Tierklinik die Zahlen gering. Auffällig ist jedoch, dass sie über das ganze Land verteilt sind.
Als das Phänomen noch unbekannt war, wurden in Europa vereinzelt betroffene Tiere eingeschläfert – aus Sicherheitsgründen oder weil ihre Symptome sehr stark waren. Einen schweren Fall hatte in der Schweiz die Tierneurologin Julia Prümmer in der Marigin-Tierklinik in Feusisberg behandelt. Es handelte sich um eine zweijährige Golden-Retriever-Hündin, ein bislang völlig unauffälliger Familienhund. «Plötzlich bekam die Hündin Panikattacken und wurde hochgradig aggressiv. Sie ist mehrfach weggerannt und musste von der Polizei eingefangen werden. Auch zu Hause liess sie sich nicht beruhigen. Sie sprang in die Scheiben, weil sie derart ausser sich war», sagt Prümmer.
Die Ursache für diese schweren neurologischen Störungen ist bislang unklar. In Deutschland führen die Tierärztliche Hochschule Hannover und die Ludwig-Maximilians-Universität in München derzeit eine Online-Studie durch. Hundehalterinnen und -halter aus der Schweiz können ebenfalls teilnehmen. Die Forschenden vermuten, dass es sich beim Werwolf-Syndrom um Vergiftungserscheinungen handelt. Im Verdacht stehen bislang noch nicht bekannte Toxine aus bestimmten Rinder-Kauknochen.
Einige Länder wie Finnland, die Niederlanden oder Dänemark haben deshalb gewisse Produkte bereits zurückgerufen. Darunter sind unter anderem Kauknochen der Marke «Barkoo». Diese vertrieb der Online-Shop Zooplus – auch in der Schweiz. Auf Anfrage schreibt die Medienverantwortliche, dass die entsprechenden Produkte Ende 2024 vorsorglich aus dem Handel genommen worden seien. Gleichzeitig habe Zooplus Labors damit beauftragt, die Produkte zu untersuchen. «Jedoch haben weder unsere Testergebnisse noch jene von europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörden bisher Hinweise auf Verunreinigungen, verbotene Substanzen oder sonstige Sicherheitsbedenken bei Barkoo-Produkten ergeben.»
Die deutsche Forscherin Nina Meyerhoff hat diese Woche gegenüber der Nachrichtenagentur DPA gesagt, dass die Laboranalysen der Hochschulen noch nicht abgeschlossen seien. Sie vermutet, dass das Gift in der Rinderhaut der Kauknochen steckt. Zumindest für einige Produkte gebe es eine Verbindung zu einem chinesischen Produzenten, sagte sie. Sie schliesst nicht aus, dass weitere Marken betroffen sind, da besagter Produzent auch andere Hersteller mit Rohmaterial wie dieser Rinderhaut beliefert.
Das verunsichert Hundebesitzerinnen und Hundebesitzer. Die Berner Neurologin Maiolini sagt dazu: «Wir haben es mit einem neuen Krankheitsbild zu tun, das zu schweren Anfällen führt. Allerdings sind verhältnismässig wenige Tiere betroffen.»
Bisher konnte kein auslösender Stoff für das Werwolf-Syndrom nachgewiesen werden, sagt Neurologin Prümmer. «Klar ist einzig, dass sich die Stoffe auf das zentrale Nervensystem – insbesondere das Grosshirn – auswirken.»
Ihre Klinikkollegin Kerstin Gerstner, die bei Marigin als tierärztliche Ernährungsspezialistin arbeitet, weist darauf hin, dass diese Kauartikel erst nach verschiedenen Herstellungsschritten so aussehen, wie sie schliesslich in den Handel gelangen. Zum Teil werden sie eingefärbt oder gebleicht. Da viele Tiere solche Produkte aufgrund der schwer verdaulichen Eiweisse nur in begrenzter Menge vertragen, rate sie sowieso dazu, diese nur zurückhaltend zu verfüttern. Zudem gelte es, auf die Herkunft der Produkte zu achten, sagt Gerstner: «Allgemein empfehle ich nur Produkte aus der Schweiz oder der EU zu verfüttern. Ist die Herkunft des Rohmaterials nicht deklariert, würde ich beim Hersteller nachfragen und im Zweifelsfall darauf verzichten.»
Die Neurologinnen haben die betroffenen Hunde symptomatisch behandelt. Sie haben ihnen unter anderem antiepileptische Medikamente und Beruhigungsmittel verabreicht und behielten die Tiere zur Überwachung in den Kliniken. In der Regel daure es einige Tage bis Wochen, bis die Symptome verschwinden. «Die allermeisten Hunde verhalten sich danach wieder völlig normal, wenn sie keine weiteren Kauknochen mehr fressen», sagt die Berner Neurologin Maiolini.
Auch die schwer betroffene Golden-Retriever-Hündin, die ihre Kollegin Julia Prümmer behandelte, erholte sich wieder. Allerdings musste sie fast eine ganze Woche in der Klinik bleiben und sei auch bei der Entlassung noch nicht die Alte gewesen, sagt Prümmer. Inzwischen sei sie wieder wohlauf.
Hundebesitzerinnen und Hundebesitzern raten die beiden Expertinnen dazu, einen Tierneurologen aufzusuchen, wenn sie bei ihrem Tier plötzlich akute und schwere Verhaltensveränderungen feststellen. Ausserdem empfehlen sie, falls möglich den Anfall mit dem Handy zu filmen. Ernährungsspezialistin Gerstner rät zudem, die Produkte in der Originalverpackung luftdicht aufzubewahren, falls die Behörden Analysen durchführen möchten.
Diese sind bislang nicht vorgesehen. Das Bundesamt für Veterinärwesen hatte auf Anfrage noch nicht einmal Kenntnisse von Fällen in der Schweiz.