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Corona: Schweizer erzählt vom dystopischen Lockdown in Shanghai

In this photo released by Xinhua News Agency, medical workers gather near a banner which reads "Unite as one, resolutely win the battle against epidemic prevention and control" during a depa ...
Chinesisches Gesundheitspersonal bei einer Abschiedszeremonie in Jinan. Mehr als 10'000 Menschen wurden aus dem ganzen Land nach Shanghai gebracht. Bild: keystone
Interview

Wie ein Schweizer den dystopischen Lockdown in Shanghai erlebt

Seit mehr als zwei Wochen befinden sich die 26 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Shanghais in einem strikten Lockdown. Der Schweizer Kuno Gschwend ist einer von ihnen.
15.04.2022, 07:0016.04.2022, 17:17
Dennis Frasch
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Hoi Kuno, ist dir die Quadratur deiner Wohnung bereits gelungen?
Kuno Gschwend:
(lacht) Die Decke fällt mir tatsächlich etwas auf den Kopf. Aber eigentlich geht es mir gut. Ich bin gesund, kann im Homeoffice arbeiten und habe genug zu essen.

Wie ist es für dich, in einem strikten Lockdown zu sein, während der Rest der Welt die Pandemie bereits für besiegt erklärt hat?
Es ist schon ein bisschen surreal. Aber man muss bedenken: In den letzten zwei Jahren konnte ich meiner Familie am Telefon stets von meinen Freiheiten erzählen. Wir waren – bis auf die ersten Monate der Pandemie 2020 – von keinen Massnahmen betroffen. Nun hat es halt uns getroffen.

Eingang zu Kunos Wohnquartier während eines staatlich verordneten PCR-Tests für alle Bewohnerinnen und Bewohner.
Eingang zu Kunos Wohnquartier während eines staatlich verordneten PCR-Tests für alle Bewohnerinnen und Bewohner. bild: zvg

Wie lange verharrst du schon in deiner Wohnung?
Seit rund drei Wochen. Es hat sich langsam angebahnt. Erst gingen einzelne Quartiere zu, irgendwann hiess es dann, dass die gesamte Stadt für vier bis fünf Tage in den Lockdown muss. Daraus sind jetzt Wochen geworden und ein Ende ist derzeit nicht in Sicht.

Wo wohnst du denn genau?
In Puxi, also im Westen der Stadt. Hier gibt es noch alte Siedlungen, im architektonischen Stil der Kolonialmächte gebaut. Viele Reihenhäuschen, alles sehr eng. Meine Partnerin und ich leben in einem vierstöckigen Haus, wovon wir zwei Stöcke bewohnen. Insgesamt stehen uns etwa 80 Quadratmeter zur Verfügung.

Also ziemlich komfortabel.
Ja. Mit uns im Haus wohnen alte Einheimische in Einzimmerwohnungen. Alle sind über 60 Jahre alt. Im ersten Stock teilen sie sich eine Gemeinschaftsküche, im zweiten Stock ein Bad. Sie leben in sehr einfachen Verhältnissen.

«Es gibt keine Garantien, wann das Essen geliefert wird. Das kann am nächsten Tag passieren, es kann aber genauso gut eine Woche dauern.»

Dürft ihr denn raus?
Theoretisch dürfen wir uns in unserem Quartier bewegen. Es wird aber davon abgeraten. Es ist auch mit Polizeiabsperrbändern abgeriegelt. Andere Communities sind komplett abgeriegelt, mit hochgezogenen Wänden. Das kommt auch darauf an, wann der letzte Fall aufgetreten ist.

Klingt dystopisch. Ist bei euch auch schon eine Drohne vor dem Balkon herumgeschwirrt?
Nein, zum Glück nicht. Aber man muss auch sagen, dass sich nicht alle an die Empfehlungen halten. Die Menschen in den Einzimmerwohnungen müssen zum Beispiel raus, um ihre Wäsche aufzuhängen. Die lassen sich nicht gerne was sagen.

Trotz des rigiden Überwachungsapparates?
Es ist unmöglich, 26 Millionen Menschen konstant zu überwachen. Genau wie es nicht möglich ist, einen Lockdown für so viele Menschen zu organisieren. Da läuft schon einiges falsch.

Zum Beispiel?
Es gibt zwei Dinge, die wirklich schlecht organisiert sind. Erstens die Kommunikation: Man weiss nie genau, ob heute ein Test ansteht oder wie und wo man den einreichen muss. Oder wie es generell weitergeht mit dem Lockdown. Die Informationen kommen über WeChat, das macht das Ganze nicht übersichtlicher. Letztlich ist WeChat wie WhatsApp – eine einfache Messengerapp. Das hat keinen sehr offiziellen Charakter.

Kuno Gschwend.
Kuno Gschwend.bild: zvg
Zur Person
Kuno Gschwend (32) lebt seit Mai 2019 mit seiner Partnerin in Shanghai. Er ist Geschäftsführer bei Swiss Centers China, einer Non-Profit-Organisation, welche Schweizer KMU’s in China mit diversen Services unterstützt.

Und zweitens?
Man muss sich selber um Essen und Getränke kümmern. Keine einfache Aufgabe in einem totalen Lockdown. Man muss sich auf WeChat Händler für alles Mögliche suchen. Findet man jemanden, der zum Beispiel Gemüsekisten verkauft, so muss man diese in grossen Mengen bestellen, um überhaupt ins Geschäft zu kommen. Also muss man sich zusammenschliessen, um die 200 Gemüsekisten loszuwerden. Zudem gibt es keine Garantien, wann genau das Essen geliefert wird. Das kann am nächsten Tag ankommen, es kann aber genauso gut eine Woche dauern. Es ist schon skurril: Vor einigen Tagen war ich in einem wichtigen Businesscall. Währenddessen habe ich auf WeChat gesehen, dass ganz in der Nähe Eier verkauft werden und ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich noch schnell zuschlagen sollte.

Lieferung mit Gemüsesäcken und Erdbeeren kommt an, ein Sack kostete rund 110 Renminbi (ca. 16 Franken). Mindestbestellmenge: 50 Stück.
Lieferung mit Gemüsesäcken und Erdbeeren kommt an, ein Sack kostete rund 110 Renminbi (ca. 16 Franken). Mindestbestellmenge: 50 Stück.bild: zvg

Aber hungern musstest du bis jetzt nicht, oder?
Nein. Aber ich kenne die Berichte über verhungernde Menschen auch. Die gibt es tatsächlich. Es ist schwer, Menschen ausserhalb von Metropolen wie Shanghai das zu erklären: Die Stadt ist riesig, da werden zwangsweise Leute vergessen gehen. Viele können nicht mehr arbeiten und haben schlichtweg kein Geld, um sich Essen zu kaufen.

So bestellt man sich auf WeChat Essen:

Video: watson

Mir scheint es auch unverständlich, wie die Regierung Menschen sterben lassen kann, die sie ja eigentlich zu schützen versucht.
Ich denke nicht, dass das mit Absicht geschieht. Das Ganze ist einfach nicht gut durchdacht. Letztlich ist es ein Logistikproblem: Viel zu viele Leute sind zu Hause eingeschlossen und können dementsprechend nicht bei der Versorgung der Bevölkerung helfen. Ich verstehe auch nicht, wie das passieren konnte. Die Chinesen sind eigentlich Weltmeister im Organisieren. Aber man ist jetzt einfach in dieser sturen Zero-Covid-Politik gefangen.

Auf der anderen Seite schafft man es, jeden Tag Millionen von Tests durchzuführen. Apropos Tests: Was passiert eigentlich, wenn man ein positives Resultat erhält?
Offiziell muss man dann in ein zentralisiertes Quarantänezentrum gehen. Aber auch das wird nicht sehr strikt umgesetzt. Ich habe schon von mehreren Leuten gehört, dass Infizierte einfach zu Hause eingeschlossen werden. Man geht davon aus, dass es keinen Platz mehr hat in den Zentren.

In this photo released by Xinhua News Agency, workers labor at the site of a temporary hospital being constructed at the National Exhibition and Convention Center (Shanghai) in east China's Shang ...
Ein Quarantänezentrum im Expo-Gebäude in Shanghai.Bild: keystone

Werden Expats anders behandelt als Chinesen?
Es gibt Gerüchte, ja. Meinen Nachbarn, welche aus Singapur und Kanada stammen, wurde gesagt, dass sie einfach zu Hause bleiben und das Ganze nicht an die grosse Glocke hängen sollen. Es ist für die örtlichen Behörden mühsamer, die Weisungen für Expats umzusetzen, welche vielleicht kein Chinesisch sprechen, andere Ausweise haben oder gar ungewollte Aufnahmen in den westlichen sozialen Medien posten.

Lockdown auf kleinster Stufe: Nummer 16 darf noch raus, Nummer 15 nicht.
Lockdown auf kleinster Stufe: Nummer 16 darf noch raus, Nummer 15 nicht.bild: zvg

Es gibt einige Berichte über unzufriedene, gar randalierende Chinesen. Ist dir das auch schon aufgefallen? Kippt die Stimmung?
Ich bin häufig in den chinesischen sozialen Medien unterwegs und muss sagen: Ich habe noch nie so viele Konflikte gesehen. Es gibt etliche Videos von Menschen, die an den Absperrungen ihres Quartiers protestieren. Oder sich öffentlich über den Lockdown nerven. Unser Essenslieferant hat es vor Kurzem gewagt, einen Meter in unser Quartier hineinzufahren. Er wurde heftig vom Security angeschnauzt und hat noch viel heftiger zurückgegeben. Solche Dinge sieht man hier nicht oft. Die Chinesen sind meiner Erfahrung nach sehr zurückhaltend, freundlich und haben eine grosse Frusttoleranz.

Denkst du, die jetzige Situation könnte politische Konsequenzen haben?
Die meiste Kritik richtet sich gegen die Stadt Shanghai und deren Verwaltung und Politiker. Die Zentralregierung wird nicht kritisiert. Aber ja: Es werden definitiv Köpfe rollen. Erste Politiker auf lokaler Ebene mussten bereits ihren Platz räumen. Das wird auch in der Stadtverwaltung passieren, da bin ich mir sehr sicher.

«Man hat sich diese Zero-Covid-Strategie in den Kopf gesetzt und findet ohne Gesichtsverlust nicht mehr heraus.»

Der Lockdown in Shanghai scheint den Chinesen die Schwächen des eigenen Systems aufzuzeigen.
Das ist so, das Negative tritt momentan verstärkt in den Vordergrund. Das kann man an zwei Punkten festmachen: Erstens ist da diese ideologische Sturheit. Man hat sich diese Zero-Covid-Strategie in den Kopf gesetzt und findet ohne Gesichtsverlust nicht mehr heraus. Zweitens scheinen die Covid-Regeln von Personen gemacht worden zu sein, die noch nie einen richtigen Job gehabt haben. Bürokraten. In der Theorie ist bestimmt alles bestens durchdacht, aber im echten Leben funktioniert es einfach nicht.

Gibt es denn Licht am Ende des Tunnels?
Bis jetzt nicht. In Wuhan ist der Lockdown 76 Tage gegangen. Wenn es in Shanghai 76 Tage braucht, um das Virus wieder unter Kontrolle zu kriegen, dann werden auch wir so lange zu Hause bleiben. Oder noch länger. Bei mir im Quartier ist klar, dass es noch mindestens zwei Wochen gehen wird, da wir einige Fälle hatten.

Mit Omikron ist es alles andere als klar, ob die Zero-Covid-Strategie überhaupt noch funktioniert. Wie lange wirst du das noch mitmachen?
Ich hoffe, dass man mit Omikron auch in China merken wird, dass man zwar aufpassen muss, aber das Virus nicht das Ende der Welt bedeutet. Aber auch wenn dies nicht der Fall sein wird: Eine Ausreise wäre ziemlich kompliziert. Es gibt kaum Flüge in die Schweiz und wenn doch, dann sind sie sehr teuer. Wie ich während des Lockdowns an den Flughafen gelangen soll, wüsste ich auch nicht. Ich hege momentan keine Absichten, Shanghai zu verlassen. Die Situation ist zwar blöd, aber uns geht es im Grossen und Ganzen gut.

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27 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Wiwi-n
15.04.2022 08:00registriert Februar 2021
Danke für den interessanten Einblick! Sollten alle mal lesen, sie hier laut Diktatur geschrien haben, als sie im Zug eine Hygienemaske tragen mussten…
19722
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Anmerkung am Rande
15.04.2022 08:29registriert Januar 2022
Wie sollen die sich auch wehren ? Es gibt ja nicht mal Kuhglocken da.
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Butternut
15.04.2022 09:38registriert Februar 2014
Leider wird über die Situation in Shanghai zu wenig berichtet . Von nicht offiziellen Quellen weiss ich schon lange von schrecklichen Szenarien . Haustiere werden vor den Augen der Besitzer erschossen . Leute die sich vor Verzweiflung vor Hunger aus dem Fenster stürzen . Drohnen Hunde die alles Überwachen .
Aber momentan schauen alle in die Ukraine, was auch richtig ist . Aber bitte auch solche Missstände wie in China schneller aufdecken .
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