Europa befindet sich heute im Krieg. Hätten Sie sich, als Sie von 2012 bis 2017 Präsident im Elysée-Palast waren, eine so dramatische Situation vorstellen können?
Nein, wer hätte damals voraussehen können, dass Wladimir Putin eine so grosse Streitmacht aufstellen und in der Ukraine einsetzen würde? Als wir zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel das Minsker Abkommen zwischen der Ukraine und Russland aushandelten, hofften wir, dieses apokalyptische Szenario vermeiden zu können. Aber in Wladimir Putins Strategie seit 2012 gibt es diesen tiefgehenden Machtanspruch, diesen Willen, das Kaiserreich oder die Sowjetunion wieder herzustellen. Nur hat er hat unsere Reaktion und vor allem den Widerstand des ukrainischen Volkes völlig unterschätzt.
Was ist Ihre Position zum Krieg?
Wir müssen die Ukraine militärisch unterstützen und gleichzeitig verhindern, dass die Waffen, die wir spenden, und die materiellen Mittel, die wir anbieten, auf russischem Territorium eingesetzt werden. Wir müssen eine Eskalation vermeiden, aber solange die Ukrainer für die Befreiung ihres Landes und die Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität kämpfen, stehen wir voll und ganz hinter ihnen.
In Ihrem neusten Buch beschreiben Sie Putins ersten Besuch im Elysee-Palast nach Ihrer Wahl: Er bat um ein Blatt Papier und zeichnete westliche Raketen , die sein Land bedrohen würden - während er gleichzeitig selbst den Krieg vorbereitete.
Als Wladimir Putin 2012 an die Macht zurückkehrte, war er ein anderer als bei seinem Amtsantritt als russischer Präsident im Jahr 2000. Er wollte sich an der atlantischen Allianz rächen und die Grenzen Russlands bis an die Grenzen der Sowjetunion vorschieben. Er wusste noch nicht, wie er das anstellen sollte. Dabei setzte er darauf, dass sich die USA von der Weltbühne zurückzögen, als Joe Biden die Taliban nach Kabul zurückkehren liess.
Aber er verheimlichte seine Pläne. Sie schildern Putin als massiven Lügner.
Lügen sind in der Politik häufig, aber bei Putin erreichen sie ein verblüffendes Ausmass. Wie oft hat er gesagt, dass Baschar al-Assad keine chemischen Waffen eingesetzt hat? Wie oft hat er mir gegenüber behauptet, er habe keine Verbindung zu den ukrainischen Separatisten, obwohl er sie bewaffnete? Wie oft hat er mir gegenüber behauptet, dass er keine Beziehung zur Wagner-Armee habe, obwohl deren Anführer Prigoschin ihm verpflichtet ist.
Eine Lüge – nämlich dass die Ukrainer Nazis seien – hat sogar den Krieg gerechtfertigt.
Die Lüge ist auch ein Element der russischen Propaganda. Putin weiss genau, dass die Ukraine eine Demokratie ist und dass ihre Armee nicht aus SS-Leuten besteht. Wenn er sagt, es gehe wie in Stalingrad gegen einen Invasor – gemeint ist der amerikanische – , will er die Russen zum Widerstand anhalten.
Sie erzählten, der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko, ein Mann von grosser Statur, hätte während der Verhandlungen über das Minsker Abkommen Angst gehabt, dass Putin physisch zu weit gehen könnte.
Ja, Putin setzt immer auf eine körperliche Beziehung zu seinem Gesprächspartner. Sein Blick, seine Haltung, seine Wutausbrüche, all das ist kalkuliert. Es ist Teil der Figur und der Kommunikation, die er aufgebaut hat. Angst zu machen ist Teil seiner Argumentation. Er weiss, dass wir an diese Art von Verhalten nicht gewöhnt sind, dass wir Konflikte nicht mögen, und doch müssen wir Entschlossenheit zeigen. Er versteht nur diese Sprache.
Haben Sie bei den Minsker Gesprächen nach einer Gegenstrategie gegen diese kalkulierte Aggressivität gesucht?
Frau Merkel und ich wollten so schnell wie möglich einen Waffenstillstand erreichen, da die von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine an Boden gewannen. Putin wollte die Waffenruhe aber vertagen. Er war bereits auf der Krim einmarschiert, als Merkel und ich uns bemühten, die Integrität der Ukraine zu wahren und das Normandie-Format zur Beilegung der Krise zu stärken.
Gibt es heute noch eine andere Lösung als der Sieg der einen Seite und die Niederlage der anderen Seite?
Für einen schnellen Ausgang des Konfliktes gab es schon zu viele Verbrechen, zu viel Zerstörung, zu viele Opfer. Putin glaubt, dass er noch einen Teil des ukrainischen Territoriums abknabbern kann, indem er auf die Mobilisierung von immer mehr Wehrpflichtigen zurückgreift, auch wenn diese demotiviert sind. Die Ukrainer wollen ihr gesamtes Territorium ihrerseits einschliesslich der Krim zurückerobern. Die Lösung muss daher militärisch sein, bevor sie diplomatisch wird. Es steht weit mehr auf dem Spiel als nur das ukrainische Territorium.
Was denn?
Wenn die Ukrainer die Oberhand gewinnen, wird dies nicht nur ein Rückschlag für Putin sein. Es wäre auch ein Zeichen, dass sich autoritäre Regime auch mit Gewaltanwendung nicht durchsetzen können. Das wäre eine wichtige Errungenschaft. Wenn Putin hingegen auch nur einen Quadratkilometer gegenüber der Vorkriegslage gewinnt, werden andere Länder denken, dass sie ebenfalls territoriale Gewinne erzielen können. Entscheidend wird, so denke ich, der Faktor Zeit sein.
Für wen spielt die Zeit?
Putins setzt darauf, dass die Europäer müde werden, der Ukraine zu helfen, und dass die Sanktionen aufgrund der Energiepreise irgendwann die öffentliche Meinung ermüden. Er hofft, dass sich die USA 2024 einen anderen Präsidenten als Biden geben werden. Wenn ich höre, wie Donald Trump behauptet, er würde das Problem mit Putin innerhalb eines Tages lösen, fürchte ich, dass er Putin schnell geben würde, was dieser will.
Sollte Frankreich schwere Waffen wie den Leclerc-Panzer liefern?
Man sollte den Ukrainern das geben, sie brauchen. Ist der Leclerc-Panzer die am besten geeignete Ausrüstung? Es gibt mehr Leopards, weil die Deutschen viele davon an andere europäische Länder verkauft haben. Wenn Kiew eine Offensive lanciert, ist es besser, wenn sie mit denselben Fahrzeugtypen durchgeführt wird, um eine maximale Effizienz zu erreichen.
Ist die pro-russische Lobby in Paris verschwunden oder versteckt sie sich heute?
Sie schweigt. Früher behauptete sie absurderweise, ich stehe selbst unter amerikanischer Dominanz, da ich mich Ende 2014 weigerte, Hubschrauberträger des Typs Mistral an Russland zu liefern. Aber Sie können sicher sein: Wenn sich die Situation in der Ukraine ändert, wird die extreme Rechte zusammen mit Pazifisten aller Art die erste sein, die sagt, dass man der Ukraine keine Waffen liefern und sich so schnell wie möglich mit den Russen an einen Verhandlungstisch setzen sollte.
In Deutschland waren die Putin-Freunde vor allem in Ihrer Schwesterpartei, der SPD, zu finden.
In der SPD wie auch in der CDU. Ihre Position war «Wandel durch Handel». Der Ansatz ist falsch, denn die Wirtschaft treibt nicht die Politik. Es ist umgekehrt.
Ein Wort zu Ihrem Parteikollegen Gerhard Schröder?
Er war nicht der einzige ehemalige Regierungschef, der einen verantwortungsvollen Posten in einem russischen Unternehmen annahm. Aber er war einer der letzten, die darauf verzichteten.
Hat sich Angela Merkel von Putin täuschen lassen?
Nein, Angela Merkel liess sich als eine von wenigen nicht beeindrucken. Sie verstand wahrscheinlich viel mehr von Putin und der Geschichte der Sowjetunion als andere. Frau Merkel hielt Putin stand, was ich aufgrund zahlreicher Begegnungen, die wir hatten, bezeugen kann. Andererseits war sie selbst davon überzeugt, dass Handel, Energie und Austausch eine gute Methode sind, um bewaffnete Konflikte zu verhindern.
Geht Bundeskanzler Olaf Scholz Ihrer Meinung nach schnell genug vor, um seine «Zeitenwende» umzusetzen?
Kanzler Scholz ist bereits weit gegangen, als er 100 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der Bundeswehr ankündigte und als er Waffenlieferungen an die Ukraine zustimmte. Das entsprach nicht der deutschen Tradition. Er geht auch weit, wenn er die Notwendigkeit eines ‹Europas der Verteidigung› einräumte. Natürlich bleibt Deutschland seiner Beziehung zu den Vereinigten Staaten und dem Atlantischen Bündnis verpflichtet; aber ich hoffe, dass der Ukraine-Konflikt uns allen, Franzosen, Deutschen und anderen Ländern, die Notwendigkeit eines ‹Europas der Verteidigung› vor Augen führt.
Die Schweiz bleibt neutral und hält sich aus dem Konflikt heraus. Wie beurteilen Sie ihre Position?
Jedes Land ist frei, seine eigene Politik zu verfolgen. Es steht mir nicht zu, die Position eines Nachbarn zu beurteilen, mit dem uns so viele Bindungen bestehen. Aber Neutralität ist nicht Gleichgültigkeit, und die Schweizer können sich nicht nur auf die humanitäre Hilfe beschränken. Diese Haltung kann kein Modell für Europa sein. Wenn die europäischen Länder sie eingenommen hätten, hätten sie zugelassen, dass die Ukraine ohne starke Reaktion überfallen wird. Insofern betrifft der Konflikt ganz Europa, und die Schweiz ist zwangsläufig betroffen.
Sollte die Schweiz die Ukraine stärker unterstützen?
Ich ermutige die Schweizer, den Ländern, denen sie Waffen verkauft hat, zumindest zu erlauben, diese an die Ukrainer zu liefern, einschliesslich der Munition.
Ist China im Krieg eher ein Verbündeter Putins als ein Vermittler?
Peking ist Putins wichtigster Verbündeter. Er hat 2012 eine uneingeschränkte Freundschaft mit Xi Jinping geschlossen, die intensiv und tief ist, da sie denselben Gegner, die USA, definiert haben. China glaubt, dass es in jedem Fall gewinnen wird: Wenn Putin den Krieg in der Ukraine verliert, wird er noch abhängiger von Peking; wenn er ihn gewinnt, wird die Achse Moskau-Peking gestärkt. Darüber hinaus spielt China aber auch sein eigenes Spiel. Es hat kürzlich eine historische Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ochestriert. Mit solchen Initiativen übt Peking Druck auf die Schwellenländer aus, sich nicht dem Lager der Demokratien anzuschliessen.
Stecken wir in einem Konflikt der Zivilisationen?
Durchaus. China behauptet, kommunistisch zu sein, obwohl es das grösste kapitalistische Land der Welt ist, und Putin hat keine andere Ideologie als seinen übersteigerten Nationalismus. Hinter ihrer gemeinsamen Abneigung gegen die USA steht die Anfechtung dessen, wofür wir stehen, nämlich von Demokratie und Freiheit. Wir Europäer sollten also nicht denken, dass es nur um das Schicksal der Ukraine geht. Es geht um universelle Werte.
Bekommt Frankreich diese Feindschaft nicht gerade in Afrika zu spüren? Also dort, wo Wagner-Russen zunehmend die französischen Soldaten ersetzen, die Sie selbst 2013 zur Bekämpfung der Dschihadisten in Mali entsandt hatten?
Es gibt dort nicht nur Wagner-Söldner. Die sozialen Netzwerke werden in Afrika von den russischen Diensten bearbeitet, die antikolonialistische oder antifranzösische Slogans verbreiten.
Die europäischen Länder sind allerdings auch im Inneren durch populistische, wirtschaftliche und auch klimatische Krisen geschwächt.
Ja, es gibt eine sehr reale Bedrohung im Inneren unserer Demokratien. Sie geht von denjenigen aus, die die Idee der Abschottung, der Einschliessung und des Ausschlusses vertreten. Die grossen politischen Parteien haben immer weniger Einfluss, die Wahlenthaltung nimmt zu und die extreme Rechte etabliert sich.
Kann Marine Le Pen in Frankreich bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027 gewinnen?
Schaut man sich ihr Wahlergebnis bei den letzten drei Präsidentschaftswahlen anschaue, legt sie im ersten Wahlgang nicht wesentlich zu: 18 % im Jahr 2012, 21 % im Jahr 2017, 22 % im Jahr 2022. Die wirkliche Veränderung besteht darin, dass es immer weniger Wähler Hemmungen haben, im zweiten Wahlgang für Marine Le Pen zu stimmen - bis zu 42 % im April 2022.
Was lässt sich gegen Le Pens Vormarsch tun?
Die Lösung besteht nicht so sehr darin, an einen Anti-Le-Pen-Reflex zu appellieren. Er ist immer weniger wirksam. Hingegen müssen die Regierungsparteien wieder zu Bewegungen werden, die Hoffnung schaffen können, und neue Ideen für die grossen Herausforderungen des Jahrhunderts anbieten. In Frankreich ist die Rechte zersplittert und die Linke hat sich hinter ihrem radikalsten Flügel versammelt. Die Partei von Emmanuel Macron hat weder eine territoriale Basis noch eine etablierte Doktrin.
Wollen Sie bei den Präsidentschaftswahlen 2027 nochmal kandieren?
Ich möchte alle unterstützen, die sich für den Wiederaufbau engagieren. Ich stelle meine Person nicht in den Vordergrund, weil das nicht der richtige Weg wäre. Aber ich werde dabei sein.
Was halten Sie von Macrons Rentenreform?
Sie ist eine fast exakte Kopie der Reform, die Nicolas Sarkozy 2010 als Präsident der Republik produziert hatte. Um sein Gesetz durchzubringen, hat es Emmanuel Macron vorgezogen, eine Allianz mit der Rechten statt mit der reformistischsten Gewerkschaftsbewegung einzugehen.
Die Proteste gegen die Reform sind massiv und virulent. Wie sehen Sie den weiteren Verlauf?
Der Geist der Verantwortung auf Gewerkschaftsseite wird sich durchsetzen. Aber die Nachwirkungen werden zahlreich sein, die Ressentiments stark.
Ist Frankreich im Grunde genommen unreformierbar?
Nein. Bei den Renten hätte man Modalitäten für eine breitere Zustimmung finden können. In wirtschaftlicher Hinsicht hat Frankreich in den letzten Jahren viele Reformen durchgeführt; die Wettbewerbsfähigkeit hat sich erholt, die Attraktivität ist gestiegen und die Arbeitslosigkeit gesunken. Um noch einen Schritt weiterzugehen, denke ich jedoch, dass es Frankreich an der sozial- und politischen Kompromissbereitschaft fehlt, die die Deutschen zu Recht für sich beanspruchen können.
Wird Emmanuel Macron eine Klammer in der politischen Geschichte Frankreichs gewesen sein, da sein Konzept des Weder-Rechts-noch-Links der politischen Polarität und dem politischen Temperament Frankreichs widerspricht?
Emmanuel Macron hat es unterlassen, eine grosse Partei aufzubauen, die ihn politisch hätte überleben können. Nach ihm könnte Frankreich in der Tat zu traditionelleren Trennungslinien zurückfinden. Der grosse Unterschied wird sein: Vor Macrons Einzug in den Elysée-Palast gab es grosse Parteien, die diese Alternative repräsentieren konnten. Heute sind sie erheblich geschrumpft. Wenn wir also die Klammer schliessen und die extreme Rechte verhindern wollen, müssen wir neue politische Familien aufbauen.
Die Nationalfigur – Marianne – ist weiblich wie «Frankreich», während die französischen Präsidenten immer männlich waren. Wann wird eine Frau ins Elysée-Palast einziehen?
Frankreich selbst ist das Geschlecht der Kandidaten oder ihre sexuelle Orientierung völlig gleichgültig. Der nächste Präsident wird eine Frau, ein Mann, ein Homosexueller, ein Heterosexueller, jemand, der geschieden ist, der wieder geheiratet hat, der Kinder hat oder keine hat, was auch immer. Die Franzosen sind in dieser Hinsicht sehr liberal. Was für sie zählt, sind die Auswirkungen des Wahlresultates auf ihr Leben und auf ihr Land. Das ist für sie einzig ausschlaggebend. Es liegt an uns, dass sie positiv für ein Projekt stimmen, nicht gegen eine angebliche Gefahr. (aargauerzeitung.ch)