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Ukraine: Was dieser Schweizer als Freiwilliger an der Front erlebt hat

FILE - Church personnel inspect damages inside the Odesa Transfiguration Cathedral in Odesa, Ukraine, Sunday, July 23, 2023, following Russian missile attacks. Battles in recent weeks have taken place ...
Der russischen Armee ist nichts heilig: Kirche in Odessa, die durch Raketen stark beschädigt wurde, 23. Juli 2023.Bild: keystone

Was dieser Schweizer an der ukrainischen Front erlebt hat

Kurz nach dem Angriff Russlands verliess der damals 18-jährige Kai Strub* die Schweiz. Wie vier Monate zwischen Söldnern, Sanitätern und Glücksrittern.
04.09.2023, 11:41
Maximilian Jacobi / ch media
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Ob er Todessehnsucht hat? Er lacht kurz auf, dann wird er still, nimmt noch einen Zug von seiner Lucky Strike. «Vielleicht», antwortet der heute 19-jährige Kai Strub*. Erst als er im LKW voller Hilfsgüter mit Kurs auf die Ukraine sass, sei richtig zu ihm durchgedrungen, wohin er gerade unterwegs war.

Einen Monat nach der Invasion Russlands begab sich der Basler Strub nach Lwiw. Das christliche Hilfswerk, für das er arbeitete, mietete für seine Helferinnen und Helfer einige Wohnungen in der westukrainischen Stadt. Er arbeitet im Lager des Vereins, sortierte Konserven, Decken, Kerzen, Medizin. «Ich hatte weder militärische noch medizinische Erfahrung.» Für Einsätze an der Front wurde er daher nicht eingeteilt.

Länger als drei Wochen hielt es ihn trotzdem nicht in der Lagerhalle. Als ein Kameramann seinen Arbeitsort filmte, sprach ihn Strub an. Dieser drehte einen Imagefilm, um Spenden zu generieren. Der nächste Drehort war ein Waisenhaus, das evakuiert werden sollte. Da der Filmer bereits älter war, bot ihm Strub seine Hilfe an. Und landete so auf seiner ersten Evakuierungs-Mission. Viele sollten folgen, auch an der Front.

Kai Strub in seiner Einsatzmontur. Aus Angst vor den Behörden möchte er nicht erkannt werden.
Kai Strub in seiner Einsatzmontur. Aus Angst vor den Behörden möchte er nicht erkannt werden.Bild: Kenneth Nars

Lieber Todesangst als ein lebender Toter

Während Strub diese Dinge erzählt, wirkt er nicht wie jemand, der auf dem Weg der Selbstfindung mal eben falsch abgebogen ist. Wer er ist und was er tut, ist für den 19-Jährigen ein und dasselbe. Und wer er ist, davon hat er konkrete Vorstellungen: «Ich passe nicht in diese Gesellschaft.» Stärker als die Angst vor dem Tod ist seine Angst, ein lebender Toter zu werden. Strubs Albtraum in vier Stationen:

  1. Mit 30 Jahren finden, dass er nichts erreicht hat.
  2. Die verbleibende Lebenszeit einer seelenlosen Karriere opfern.
  3. Mit 55 merken, dass er seine Frau nicht ausstehen kann.
  4. Alt und verbittert sterben.
Kurz: Strub will sein Leben nicht verpassen.

Dieser Wunsch verdrängt alles, auch Todesängste. Denn der eigentliche Tod lauert in der Bedeutungslosigkeit. Nur Sinnhaftigkeit garantiert Leben. Die findet Strub dort, wo er Menschen helfen, Leben verändern kann. Und wenn Sinnhaftigkeit auch noch auf Nervenkitzel trifft, wird jedes Erlebnis zur existenziellen Erfahrung: «Krieg ist wie eine Droge.»

Ein junger Mensch in zweifelhafter Gesellschaft

Süchtige lernte Strub unzählige in der Ukraine kennen. Sein damaliger Vorgesetzter, davor AfD-Mitglied, verkaufte seinen Besitz und verschrieb sich ganz der humanitären Hilfe im Kriegsgebiet. «Schlechtes Gewissen, vermute ich», sagt Strub.

Ein amerikanischer Geschäftsmann, der von einem Tag auf den anderen das Hilfswerk verliess und dabei versuchte, eine Kiste voller heiss begehrter Schmerzmedikamente mitgehen zu lassen. Um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, vermutet Strub. Mittlerweile sei er umgekommen. «Er hatte eine Strafe verdient, das aber nicht.»

Ausländische Söldner, die mit Gewalttaten aus ihrer Zeit in Afghanistan prahlten. Ein ukrainischer Soldat, der Strub sein Sturmgewehr präsentierte und ihm sagte, wie viele Russen er damit schon erschossen hatte.

Eine Irrfahrt zwischen den Fronten

Ein Krieg scheint Menschen aus aller Welt anzuziehen. Was die Charaktere eint, sind die unsteten Lebensläufe, oft auch ihre Zweifelhaftigkeit. Und mittendrin ein 18-jähriger Basler mit einem Rucksack voller Spritzen, Verbänden und einer Dose Ravioli.

«Wenn wir an die Front fuhren, hatten wir oft nur Cracker dabei», sagt Strub. Die Leiter der Einsätze hatten militärische Erfahrung und über den christlichen Glauben zum christlichen Hilfswerk gefunden. Von ihnen lernte er, wie man Wunden verbindet, Verletzte birgt, Infusionen legt. Auf dem Weg an die Front befanden sich Vorräte und Medizin im Fond des Transportwagens, auf dem Rückweg oft Zivilisten. Die Einsätze verliefen meist ähnlich. Ausser dieses eine Mal.

«Wir hörten von einem alten Paar, das nicht evakuiert worden war», sagt Strub. Obwohl russische Verbände schnell ins Dorf vorstiessen, wagten der Einsatzleiter, Strub und eine Dolmetscherin den Versuch. Zunächst lief alles nach Plan. Doch auf dem Rückweg fiel das Navigationssystem aus. «Die russischen Störsender waren uns zu nahe gekommen.»

Dem Tod von der Schippe gesprungen

Die Gruppe verfuhr sich, irrte über Landstrassen. Als sie an einem Strassenschild hielten, tauchte ein ukrainischer Soldat auf. Er unterrichtete die Gruppe darüber, dass sie zwischen die Fronten geraten waren und schickte sie in eine andere Richtung. In der Dämmerung hätten sie schon das Feuer der russischen Artillerie gesehen, sagt Strub. Auch andere Bilder brannten sich in sein Gedächtnis: «Abendstimmung, ein leerer Reisebus mit durchgeschossener Frontscheibe, die Innenseite des Glases voller Spritzer.»

Das Erlebnis ist auf Strubs linkem Oberarm verewigt. Eine Tätowierung von einem Pikass, das grosse Pik besteht bisher nur aus dem Umriss. «Da kommt noch ein Totenkopf rein.» Während der Stunden, in denen sie ohne Empfang zwischen den Fronten umherfuhren, hatte man sie für tot erklärt. «Man nannte uns danach ‹Death Squad›.»

Der Einsatzleiter, die Dolmetscherin und Strub mit zwei Menschen, die sie evakuierten.
Der Einsatzleiter, die Dolmetscherin und Strub mit zwei Menschen, die sie evakuierten.Bild: zvg

Dass er dem Tod nie näher kam, hat Strub in vielerlei Hinsicht purem Glück zu verdanken: «Wäre es uns Schweizern nicht verboten, hätte ich mich der ukrainischen Armee zur Verfügung gestellt.» Das Gesetz ist auch der Grund, weshalb Strub anonym bleiben will. Die vier Monate in der Ukraine haben ihn davon überzeugt, dass es eine Armee braucht. Aufgrund seines Einsatzes fürchtet er, für untauglich erklärt zu werden. Seinen Dienst möchte er bei den Sanitätern leisten.

«Vielleicht hatte ich damals tatsächlich so etwas wie Todessehnsucht», sagt Kai Strub. Doch das sei vorbei. Er sucht jetzt eine Lehrstelle als Krankenpfleger, will später Rettungssanitäter werden. Zu viele Fremde hätten für ihn schon ihr Leben riskiert, zu viele Freunde seien gestorben.

«Damit die Erinnerung an sie weiterlebt, muss auch ich leben.»

(bz basel)

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55 Kommentare
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Garp
04.09.2023 12:05registriert August 2018
Es ist nicht sehr klug dieses Tattoo zu erwähnen, sollte er mal wieder in die CH zurückkehren wollen, könnte er dadurch mächtig Ärger bekommen.
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estudianteAndalucía
04.09.2023 11:56registriert Juni 2023
Viele die dorthin gehen sind einfach krank. War selbst 4 Monate in der Ukraine, Teil der American Legion. Das war eine inoffizielle Einheit der Asof und wir waren zu Beginn in Kiew und später im Süden (Mykolaiv) aktiv. Hatte keine Freude mehr am Leben. Im Vergleich zu ihm war ich aber an der Waffe an der Front und es grenze an Glück, dass ich noch lebe. CH Medien wollten mich nie wirklich interviewen. Ich wurde von BBC interviewt. Jetzt studiere und lebe ich in Spanien. Wollte wegen der Gefahr, verhaftet zu werden, nicht mehr in die Schweiz zurückkehren.
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läck bobby
04.09.2023 11:59registriert September 2018
Respekt! Wünsche alles Gute für die Zukunft.
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