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Kommt die Patientenfreizügigkeit? Verwirrung bei EU-Sondierungen

Swiss Federal Councilor Ignazio Cassis, right, speaks with Vice-President of the European Commission Maros Sefcovic during a working visit in Bern, Switzerland, Wednesday, March 15, 2023. (Peter Schne ...
Bild: keystone

Kommt die Patientenfreizügigkeit? Verwirrung bei EU-Sondierungen

In zwei Wochen wird der Bundesrat voraussichtlich über die Eckwerte für neue Verhandlungen mit Brüssel diskutieren. Doch nun geht eine der treusten Verbündeten auf Distanz: die mächtige Pharma-Lobby. Und das ist nicht das einzige Problem, das neu auftaucht.
10.06.2023, 20:4310.06.2023, 20:43
Stefan Bühler / ch media

«Wir sind ein starker und lauter Unterstützter für eine bilaterale Lösung mit der EU», sagt René Buholzer, Direktor der Interpharma. In der Tat hat der Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz seit Jahren auf allen Kanälen für die Erneuerung der bilateralen Verträge lobbyiert und den Bundesrat zu Verhandlungen gedrängt.

Doch jetzt äussert sogar Aussenminister Ignazio Cassis wichtigster Verbündete für eine Einigung mit Brüssel öffentlich Zweifel an der Strategie des Bundesrats. Grund dafür ist das Gesundheitsabkommen. Das ist eines jener Dossiers, die mit dem Paket-Ansatz in die Sondierung über die Zukunft des bilateralen Wegs mit Brüssel aufgenommen wurden.

Die Idee dahinter: Je grösser die Verhandlungsmasse, umso mehr Möglichkeiten für Kompromisse und gegenseitige Zugeständnisse gibt es, umso einfacher findet man eine Lösung. Bloss scheint sich dieser Ansatz gerade ins Gegenteil zu wenden. Entpuppt sich der Paket-Ansatz am Ende als Paketbombe?

12.09.2017; Basel; Interpharma; Portrait Mitarbeiter . © Valeriano Di Domenico
René Buholzer, Direktor der Interpharma.Bild: Interpharma / Valeriano Di Domenico

«Bis jetzt war immer die Rede von einem Koordinationsabkommen im Gesundheitsbereich», sagt Buholzer, «also ein statisches Abkommen, das klar abgegrenzte Probleme lösen soll.» So, wie sie sich etwa während der Pandemie zeigten. Aber jetzt zeigte sich eine andere Richtung:

«Doch nun redet man über ein Binnenmarktabkommen im Gesundheitsbereich, das unter anderem die Patientenmobilität einschliessen soll und auch die Spitäler und die Pharmaunternehmen betreffen könnte.»

Auch wenn inhaltlich noch vieles unklar sei, eröffne der Bundesrat damit ganz neue Baustellen, sagt Buholzer: «Ein Binnenmarktabkommen ist in aller Regel der dynamischen Rechtsentwicklung der EU unterstellt. Oft gibt es Abgrenzungsprobleme, wie weit es gilt. Wir können also nicht sagen, wohin die Reise geht.» Selbst wenn die Schweiz jetzt bloss einzelne Bereiche in dieses Abkommen einschliesse, öffne man der EU längerfristig die Türe für weitere Schritte. «Wir sind sehr skeptisch – für uns hat das Thema das Potenzial, die dringend nötige Stabilisierung des bilateralen Verhältnisses weiter zu verzögern.»

Sein Verband habe sich immer dafür eingesetzt, «die bestehenden bilateralen Verträge zu erhalten und zu stabilisieren, das ist unsere Priorität». Mit der Ausdehnung der Sondierungen auf ein Binnenmarktabkommen im Gesundheitsbereich, «droht man das Fuder zu überladen»: Der Schweizer Gesundheitsbereich sei bis jetzt klar abgegrenzt von der EU, «und ich sehe weder in der Wirtschaft, bei den Kantonen mit ihren Spitälern noch der Bevölkerung, dass dies jemand grundsätzlich ändern möchte».

Ohnehin sei kaum vorstellbar, dass ein weitgehendes Gesundheitsabkommen bis im Sommer 2024, wenn die EU-Kommission die Verhandlungen abschliessen möchte, fertig verhandelt werden könnte, «das ist viel zu komplex».

Warum äussert die Interpharma ihre Kritik gerade jetzt? «Wir wissen erst seit rund vier Wochen, dass es um ein Binnenmarktabkommen gehen soll und nicht bloss um ein Koordinationsabkommen», erklärt Buholzer. Man stehe jetzt in Kontakt mit den zuständigen Stellen der Bundesverwaltung, «aber wir tappen immer noch im Dunkeln, was die Strategie des Bundesrates ist».

Patientenfreizügigkeit: Die EU drängt auf ein weitergehendes Abkommen

Die Kritik kommt zu einem brisanten Zeitpunkt. Dem Vernehmen nach wird sich der Bundesrat am 21. Juni mit den Eckpunkten für ein künftiges Verhandlungsmandat befassen. Dass sich nun das Gesundheitsdossier als neuer Stolperstein entpuppt, kommt überraschend. Denn gemäss dem Mandat des Bundesrats geht es dabei nach wie vor nur um ein Kooperationsabkommen.

Offensichtlich ist es die EU, die ein umfassenderes Abkommen will. Bei der Patientenmobilität geht es etwa darum, dass man sich in der ganzen EU behandeln lassen kann. Dabei werden gemäss dem deutschen Gesundheitsministerium im europäischen Ausland die Kosten von der Krankenkasse bis zu der Höhe erstattet, die auch im Inland angefallen wären. Manche reden von Patientenfreizügigkeit.

Das dürfte Interpharma nicht direkt betreffen. Doch die EU ist auch in anderen Gesundheitsbereichen daran, Reformen anzustossen, etwa mit einer Pharma-Strategie. Eine von mehreren Massnahmen: Die EU-Kommission wolle die Zeit um zwei Jahre verkürzen, während der die Hersteller neue Medikamente ihre Arzneien konkurrenzfrei auf dem Markt verkaufen dürfen, wie CH Media berichtete. Noch ist unklar, wie weit die Begehren Brüssels in den Sondierungen mit der Schweiz gehen. Kein Wunder, ist die Pharma-Branche alarmiert.

Spesen nach Herkunftsland: Eine neue Lücke im Lohnschutz?

Dass Interpharma erst vor vier Wochen von den neuen Entwicklungen erfahren hat, dürfte daran liegen, dass man zwischen Bern und Brüssel zunächst die bekannten Probleme besprach: Die staatlichen Beihilfen, die Unionsbürgerrichtlinie mit dem Zugang zu den Sozialwerken und den Lohnschutz. Dabei wurden Fortschritte erzielt.

So hat EU-Kommissar Maros Sevcovic im März bei seinem Besuch in Bern den Sozialpartnern eine «Non-regression clause» angeboten: Eine Klausel, die den Lohnschutz auf heutigem Niveau garantiert, unabhängig davon, wie sich das Recht in der EU entwickelt. Laut mehreren Quellen haben sich die Spitzen der Sozialpartner am Donnerstag noch einmal mit Sevcovic per Videocall unterhalten, dabei habe er sein Angebot bekräftigt.

Doch bereits gibt ein neues Problem zu reden: Die Frage der Spesen für Arbeitnehmende, die nur für kurze Einsätze in die Schweiz geschickt werden, die Entsendearbeiter. Gemäss einer Analyse des Seco zeige sich, «dass es Probleme mit den Spesen gäbe», sagt Pierre-Yves Maillard, der Präsident des Gewerkschaftsbunds. Umstritten ist, ob für diese Leute die Spesengesetze ihres Herkunftslandes gelten oder jene in der Schweiz. Kommen sie aus Niedriglohnländern wie Polen, geht es rasch um viel Geld.

«Wenn für die Unterkunft, die Verpflegung, die Ausrüstung und vieles mehr nicht unsere Preise und Standards anwenden werden, sondern ihre des Herkunftsland, dann kann es bis zu 2000 Franken pro Monat und Person Differenz ausmachen», sagt Maillard. Entgegen dem Versprechen der EU, dass für gleiche Arbeit am gleichen Ort gleiche Löhne bezahlt werden, wäre das ein neues Schlupfloch für Lohndumping.

Dem Vernehmen nach ist ausgeschlossen, dass die Schweiz diesen Teil des EU-Rechts ausschliessen kann. Allerdings ist die Frage in der EU selbst höchst umstritten. Und manche Länder würden diese Entsenderichtlinie schlicht nicht anwenden. Das Beispiel zeigt: Auch wenn der Bundesrat Ende Juni die Eckwerte festlegt für die Verhandlungen mit Brüssel, sind noch viele Fragen zu klären. Trotz einjährigen Sondierungen.

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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Unsinkbar 2
10.06.2023 21:47registriert August 2019
Wenn Interpharma dagegen ist, bin ich dafür. Sorry, aber wieso muss ich für den gleichen Wirkstoff in Saint-Louis ein Bruchteil bezahlen (und auch höherdossiert) als Nebenan in der CH? Wegen der Packungsbeilage die in 3 Landessprachen ist und ein Stempel von Swissmedic hat?
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mrmikech
10.06.2023 21:57registriert Juni 2016
Es wird wohl eher früher als später so sein, dass man entweder EU land ist, oder drittland. Die bilateralen haben keine zukunft (EU will nicht mehr) und ein rahmenabkommen auch nicht (CH will nicht).

Bin gespannt wie es weitergeht...
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Garfield3000
11.06.2023 01:32registriert Juni 2023
Jetz, wo ihre Hochpreisinsel/Monopolgewinne plötzlich in Gefahr sind, spricht plötzlich alles gegen die "Stabilisierung" der Bilateralen -
Der kam plötzlich, gell;).
Da ist man beim Verband Interpharma, Mitglieder z.B. Firmen wie Novartis und Roche, fast ein bischen panisch auf der Suche nach Argumenten: Es sei zu kompliziert - ja genau, der war gut:)
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