Kinderkriegen ist out. Und zwar nicht nur kurzfristig. Das zeigen die neusten Zahlen der Schweizer Geburtenstatistik: Auch 2024 hielt der Rückgang an, zumindest bis September. Bis da liegen die noch provisorischen Zahlen vor und zeigen, dass die Frauen in der Schweiz 2024 noch weniger Kinder bekommen haben als 2023.
Die provisorischen Zahlen sind zwar üblicherweise um bis zu 6 Prozentpunkte zu niedrig, aber auch wenn man dies einberechnet, ist noch ein leicht verstärkter Rückgang im Vergleich zu 2018-2020 zu sehen.
Die Veränderung bei den Geburten beginnt Ende 2020, also rund neun Monate nach dem Beginn der Coronapandemie. In den meisten Ländern Europas gibt es da einen ersten Knick. In Portugal, Spanien und Italien, wo die Pandemie damals schon heftig ist, ist er besonders ausgeprägt.
In einigen Ländern mit guter staatlicher Absicherung folgt auf das zurückgezogene Leben im Lockdown 2021 ein kleines Geburtenhoch, so in Dänemark, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch in Frankreich und Tschechien erholen sich die Geburten für ein Jahr.
Danach beginnt ein seit dem Pillenknick in den 60er-Jahren nicht mehr da gewesener Rückgang: Fast überall – sogar in Frankreich, mit 1,8 Kindern pro Frau bislang eines der geburtenreichsten Länder – beginnt die Geburtenrate Mitte 2022 zu sinken.
Nur in drei Ländern nicht, eben in jenen dreien, wo 2020 die Pandemie am stärksten begann und die damals den stärksten ersten Geburtenknick hatten: Italien, Spanien und Portugal. Nicht allzu erstaunlich ist dies, weil zumindest Italien und Spanien mit 1,2 Kindern pro Frau ohnehin die Schlusslichter in Europa sind.
Inzwischen haben sich die anderen europäischen Länder diesem Tiefstwert angenähert: In Deutschland, Tschechien und Grossbritannien lag die Geburtenrate Ende 2023 bei 1,4, in der Schweiz und Österreich bei 1,3.
Wie es dieses Jahr weiterging, ist anhand der provisorischen Zahlen absehbar: Stagnation in Österreich, weiterer Rückgang in der Schweiz.
Viele Demografen haben sich darüber schon den Kopf zerbrochen. Und es ist nicht allein ein europäisches Phänomen: Auch in Kanada und Japan sind die Geburtenraten gesunken, wenn auch weniger stark. Sogar in Südkorea mit seiner rekordtiefen Geburtenrate von 0,8 Kindern pro Frau ist diese nun noch weiter auf 0,7 gesunken. Nur im grössten aller westlichen Länder, in den USA, scheinen Pandemie oder andere Krisen nicht an der relativ hohen Geburtenrate von 1,6 gerüttelt zu haben.
Eine Erklärung könnte sein, dass die Inflation in den USA kürzere und geringere Auswirkungen auch auf die Geburtenrate hatte. Darauf wies eine US-Studie 2022 hin. Und in der Folge hatte der Ukraine-Krieg wohl weniger Einfluss auf das Land. Letztlich kann der Unterschied zu Europa aber nicht abschliessend erklärt werden.
Das Ganze noch einmal genau untersucht haben drei österreichische Demografen mit Hauptautorin Maria Winkler-Dworak. Die Studie wurde im September in der Zeitschrift Human Reproduction Open publiziert. Sie untersuchten verschiedene Faktoren und stiessen auf drei, die mit dem Geburtenrückgang korrelieren: Nur einen geringen Einfluss hatte die Übersterblichkeit. Am deutlichsten korreliert der Geburtenrückgang mit der Inflation. Auch die Verabreichung der ersten Impfdosis sticht hervor.
Beim Faktor Impfung sahen die Forschenden aber, dass er sich innert fünf Monaten nach dem Impfstart ins Gegenteil verkehrte: So negativ der Einfluss anfangs war, so positiv wurde er mit dem steigenden Prozentsatz der Bevölkerung, welche die Grundimmunisierung abgeschlossen hatte. Die Autoren folgern: «Dies deutet darauf hin, dass sich einige Frauen dafür entschieden haben, ihre Schwangerschaften bis zum Abschluss der Impfung aufzuschieben.»
Die Analyse deute nicht auf eine direkte Auswirkung der Impfung auf die Entwicklung der Fruchtbarkeit hin. «Insbesondere begannen die Empfängnisraten in den meisten Ländern bereits in der frühen Phase des Impfprozesses zu sinken, als die meisten Frauen im gebärfähigen Alter noch nicht für die erste Dosis infrage kamen.» Auch hätte der Rückgang der Geburtenrate dann in allen Ländern ungefähr gleich verlaufen müssen.
Nicht erholt hat sich aber die Inflation. Die Autoren schreiben, dass diese einen starken Einfluss auf die Geburtenrate pro Frau über die Dauer der Studie bis Ende 2022 hinaus habe. Dass hingegen überraschenderweise die Arbeitslosigkeit keinen Einfluss hatte, erklären sie sich damit, dass der Arbeitsmarkt in der Pandemie abnormal gewesen sei, auch wegen der Wirtschaftshilfe.
Doch ist der anhaltende Rückgang wirklich noch pandemiebedingt?
Die Autoren schreiben zwar, die Covid-19-Pandemie habe «einen langen Schatten auf die Geburtenentwicklung geworfen». Auch noch zu untersuchen wäre zum Beispiel, ob die Partnersuche während Corona schwieriger geworden ist, was die Geburtenentwicklung über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflussen könnte.
Doch als sich die Pandemie abschwächte, seien neue Krisen und Störungen aufgetreten, insbesondere der russische Krieg gegen die Ukraine und der daraus resultierende Anstieg der Inflation und die wirtschaftliche Unsicherheit, schreiben die Autoren. «Dies führte dazu, dass die Geburtenraten in vielen der untersuchten Länder einen neuen Abschwung erlebten, der sich bis 2023 fortsetzte.»
Demograf Philippe Wanner vom Institut de démographie et socioéconomie an der Universität Genf erwähnte bereits vor einem Jahr: Auch die Wohnungsknappheit könnte ein Grund sein, dass Paare mehr Zeit bräuchten, um eine Familie zu gründen. Zudem könnte Long Covid bei jungen Frauen ein Faktor sein.
Und auch geheiratet wird seltener als vor der Pandemie: 2023 lagen die Hochzeiten mit rund 37'800 um rund 7 Prozent tiefer als in den Jahren vor der Pandemie (2016 bis 2019). 2021 hatte der Rückgang 10 Prozent betragen, 2020 sogar 14 Prozent. (2022 war wohl nur deshalb kein Rückgang zu sehen, weil gleichgeschlechtliche Paare nun heiraten konnten und fast 3000 Paare dies nutzten und vermutlich auch Hochzeiten von 2020 und 2021 nachgeholt wurden.) (aargauerzeitung.ch)
In einigen Gegenden Englands ist Mohammed seit diesem Jahr immerhin der am meisten gewählte Namen für neugeborene Jungen.