Darf man für Corona schon die Vergangenheitsform benützen? Das Virus ist vermutlich gekommen, um zu bleiben. Und es ist sehr gut möglich, dass neue Wellen entstehen, mit vielleicht gefährlicheren Varianten. Niemand weiss es mit Sicherheit. Die Krise kann erneut eskalieren. Und trotzdem: Für den Moment scheinen wir es überstanden zu haben.
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Die Bilanz ist mit rund 13’000 Toten und einer noch unbestimmten Zahl von Long-Covid-Fällen in der Schweiz sicher nicht erfreulich. Hinzu kommt die oft beklagte Spaltung der Gesellschaft. Corona hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Viele sahen sich mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert, nicht zuletzt Familien mit Kindern.
Die Rückkehr in die Normalität nach zwei Jahren Krisenmodus fällt nicht allen leicht. Man sieht immer noch Menschen mit Maske, in den Läden und sogar auf der Strasse. Das vom Bundesrat beschlossene Ende der Massnahmen hat keine Euphorie ausgelöst, ausser bei denen, für die die Pandemie ein Schwindel oder masslos übertrieben war.
Sie können sich in ihrem verqueren, anarcho-libertären Freiheitsbegriff bestätigt fühlen, ebenso die Impfverweigerer (die Grenzen sind durchlässig) mit ihrer Überzeugung, ihr Immunsystem könne mit einem neuartigen, hoch ansteckenden und pathogenen Virus fertig werden, nicht aber mit einem für den menschlichen Organismus entwickelten Impfstoff.
Der rücksichtslose Egoismus, die Faktenresistenz, die Anfälligkeit für «alternative» Ansichten und die teilweise unverhohlene Feindseligkeit gegenüber der Wissenschaft hinterlassen einen mehr als bitteren Nachgeschmack. Für ein Land, das sich dermassen viel einbildet auf sein Bildungssystem, ist das ein bedenklicher Befund. Irgendetwas ist hier schief gelaufen.
Ebenfalls keine Freude ensteht beim Blick auf das andere Ende des Spektrums. Der teilweise blanke Hass auf den Bundesrat bei jenen, die sich für eine rigorose Eindämmung des Virus stark machen, befremdet ebenso wie die Schadenfreude nach dem positiven Test von Bundespräsident Ignazio Cassis. Seit Monaten trendet der Hashtag #SwissCovidFail.
Stimmt das auch, hat die Schweizer Corona-Politik versagt?
Die Befürworter strenger Schutzmassnahmen verweisen gerne auf den Passus in der Bundesverfassung, wonach «die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Er steht nicht irgendwo, sondern in der Präambel. Es sind weise Worte, doch auch das «Wohl der Schwachen» ist in einem freiheitlich-demokratischen System eine Frage des Abwägens.
Im liberalen Rechtsstaat gibt es keine absolute Freiheit, aber auch keine absolute Sicherheit. Denn Demokratie und Absolutismus sind inkompatible Konzepte. Demokratie ist die Kunst des Machbaren. Dieses kann nicht wie in einer Diktatur von oben verordnet werden. Es beruht auf dem mühsamen Ringen um den grösstmöglichen Konsens.
Es ist kein Zufall, dass Massnahmen wie die «ausserordentliche Lage» in einer Demokratie als Ausnahmezustand bezeichnet werden. Sie müssen selbst in einer ausserordentlichen Krise die Ausnahme bleiben. Und sie unterstehen der demokratischen Legitimation. In der Schweiz hat das Stimmvolk sie dem Bundesrat für seine Corona-Politik zweimal erteilt.
Die «Freiheitskämpfer» auf der einen und die «Massnahmen-Fundis» auf der anderen Seite sind lautstarke Gruppen, mit ihrem Glockengeläut und den schrillen Tönen in den sozialen Medien. Aber sie sind in der Minderheit. Die «grosse, ruhige Mehrheit», wie Alain Berset sagt, hat dem Bundesrat sowohl bei der Impfung wie bei den Corona-Massnahmen vertraut.
Das zeigt sich gerade an der Person Berset. Er ist für beide Extreme eine Hassfigur. In den Umfragen jedoch wird der Gesundheitsminister von allen Bundesratsmitgliedern regelmässig am besten benotet, zuletzt auch im 10. Corona-Monitor der SRG, das am Donnerstag veröffentlicht wurde. Die «grosse, ruhige Mehrheit» scheint seine Arbeit zu schätzen.
Berset und sein Departement waren keineswegs ohne Fehl und Tadel. Die Kommunikation war mangelhaft, und Berset zeigte einen Hang zur Selbstgefälligkeit. Auch jetzt kann man sich fragen, ob man die Massnahmen mit Rücksicht auf die Vulnerablen nicht vorsichtiger lockern oder ein «Recht auf Maske» etwa am Arbeitsplatz beschliessen sollte.
Für Chronischkranke und jene, die das Virus fürchten, ist die «neue» Normalität nicht einfach. Sie haben Angst vor Anfeindungen, wenn sie die Maske tragen. Eine Low-Covid-Strategie, die von den Verfechtern harter Massnahmen gefordert wird, ist jedoch illusorisch. Einige haben es versucht, vorab Inselstaaten, die sich vom Rest der Welt abschotten können.
Sie sind mittlerweile davon abgekommen und haben entschieden, mit dem Virus zu «leben». Nur China und Nordkorea, zwei brutale Diktaturen, halten daran fest. Die Chinesen haben sich damit in eine Sackgasse manövriert. In einem vernetzten Kontinent wie Europa jedoch konnte «No Covid» oder «Low Covid» nicht funktionieren.
In der Europäischen Union (EU) gab es nie ernsthafte Bemühungen, es zu versuchen. Es hätte keinen Sinn gemacht. In einem Bündnis von 27 politisch und kulturell sehr unterschiedlichen Staaten wäre «No Covid» nicht durchsetzbar gewesen. Denn dieses Bündnis basiert auch auf dem Konzept offener Grenzen mit freiem Personen- und Warenverkehr.
Gerade in unserem verschonten Land wird zu wenig honoriert, welch unglaubliche und vor allem segensreiche Errungenschaft dieses vereinte, freiheitlich-demokratische Europa darstellt. Das zeigte sich besonders deutlich, als die Grenzen zu Beginn der Pandemie geschlossen wurde. Grosse Freude löste dieses Revival des Nationalismus nicht aus.
Das betraf nicht nur die Liebespaare, die sich nicht mehr treffen durfte. Es kam zu rührenden Szenen, etwa am neu errichteten Grenzzaun zwischen Kreuzlingen und Konstanz. Entsprechend gross war die Erleichterung, als er nach drei Monaten abgebaut wurde und die Grenzen wieder offen waren. Viele konnten es kaum erwarten, ins Ausland zu fahren.
Als die Präsidenten der grossen Parteien im letzten Winter erneut ein härteres Grenzregime forderten, unter anderem mit systematischen Tests der rund 350’000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger, hatten sie wohl mit vielem gerechnet, aber kaum mit dem massiven Widerstand in den Grenzregionen. Sie betrachteten die Forderung schlicht als weltfremd.
Es ist nicht einfach, sich aus einem Europa der offenen Grenzen auszuklinken. Diese Erfahrungen machen auch die Briten mit ihrem Brexit. Das Reisen in Europa ist nach wie vor mühsam. Man braucht Zertifikate, Tests und muss Formulare ausfüllen, die niemand liest. Von einer Rückkehr zu den Schlagbäumen aber träumen nur hartgesottene Nationalisten.
Bewährt hat sich auch die EU. Vor einem Jahr musste die Kommission in Brüssel heftige Prügel einstecken, weil sie zu spät und zu wenig Impfstoff bestellt hatte und es mit der Verteilung nicht vorwärts ging. Heute darf man feststellen, dass die gemeinsame Beschaffung ein Glücksfall war für Europa, denn niemand musste sich benachteiligt fühlen.
Hätte jeder Staat für sich geschaut, wäre es zu einem Wettlauf um die Vakzine gekommen, der das Klima in der EU nachhaltig vergiftet hätte. Diese Kraftprobe blieb dem Kontinent erspart, was (noch) viel zu wenig gewürdigt wird. Die Schweiz hätte ohnehin keinen Grund zur Schadenfreude, sie hat bei der Impfstoffbeschaffung auch gepatzt.
Wenn ein Versagen vorliegt, dann bei der Verteilung der Impfstoffe. «Es gab ältere Leute in Südafrika oder Südamerika, die keine Impfung erhielten, während junge Leute in Europa oder Nordamerika geimpft wurden», kritisiert Microsoft-Gründer Bill Gates. Es ist der wohl grösste Tolggen im Reinheft der freiheitlich-demokratischen Gesellschaften.
Corona war (oder ist) für den Westen die grösste Gesundheitskrise seit Jahrzehnten. Allen recht machen kann man es nie, schon gar nicht in einem derartigen «Ausnahmezustand». Dennoch haben die Demokratie und das offene, vereinte Europa diese Bewährungsprobe bestanden. Sie könnten sogar gestärkt daraus hervorgehen, vor allem die EU.
Im besten Fall ziehen wir daraus Lehren für andere grosse Herausforderungen wie die Klimakrise. Wichtig ist auch, weiterhin wachsam zu bleiben, die Erforschung neuer Medikamente und Impfstoffe oder von Long Covid voranzutreiben und sich für mögliche neue Wellen zu rüsten. Und für künftige Pandemien. Denn diese kommen bestimmt.
Das klingt, als wäre es nun eine Schwäche, wenn man nicht gleich die Maske weglässt (ok, im Freien ist - und war - das Makentragen wohl übertrieben, aber ansonsten ja ein relativ einfaches, nicht allzu freiheitsberaubendes und wirksames Mittel zur Eindämmung)