War es das jetzt? Sind wir fertig mit dem Virus?
Zwei Jahre hat die Schweiz mit mehr oder weniger strikten Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gelebt. Jetzt sind sie grösstenteils Geschichte. Bis Ende März bleiben die Maskenpflicht in einigen Bereichen und die Isolation nach einem positiven Test. Dann aber soll die «besondere Lage» beendet und die Science-Taskforce «ausgemustert» werden.
Am 1. April ist Schluss. Das ist kein Scherz.
Lustig finden es ohnehin nicht alle. Die «Vorsichtigen» und Alarmisten brüllen Zeter und Mordio, sie fühlen sich vom Bundesrat verraten. Die Massnahmen-Gegner wiederum jubilieren und unterliegen einer doppelten Täuschung: dem Präventionsparadox (die Massnahmen waren gar nicht nötig) und dem Survivorship Bias (wir leben ja noch).
Dazwischen befindet sich die «grosse, ruhige Mehrheit», die Gesundheitsminister Alain Berset in einem Interview gelobt hat. Sie liess sich impfen und hielt sich überwiegend diszipliniert an die Massnahmen. Ihr ist es zu verdanken, dass die Schweiz zwar nicht unbeschadet durch die Krise kam, sie aber insgesamt ordentlich bewältigt hat.
Und sie hätte wohl eine bedachtsamere Öffnungs-Strategie begrüsst. In einer aktuellen Tamedia-Umfrage sprachen sich nur 40 Prozent für eine sofortige Aufhebung der Massnahmen aus. 53 Prozent wollten dies schrittweise tun. Auch die Genfer Virologin Isabella Eckerle hätte mit massiven Lockerungen bis zum Frühling gewartet.
Der Bundesrat aber fühlte sich offensichtlich unter Zugzwang. In fast ganz Europa ist die Omikron-Welle gebrochen. Die meisten Länder befinden sich auf einem mehr oder weniger forschen Normalisierungskurs. Österreich will die Massnahmen am 5. März aufheben. Nur in Deutschland mahnt Gesundheitsminister Karl Lauterbach unverdrossen zur Vorsicht.
Es dürfte «Panik-Karl» immer schwerer fallen, sich Gehör zu verschaffen. Selbst Isabella Eckerle, die immer eindringlich vor den Gefahren von Corona gewarnt hat, ist «vorsichtig positiv» bezüglich der angedachten Lockerungen. Deshalb kann und soll die Schweiz es wagen, aber auch bedenken, dass sich die epidemiologische Lage rasch ändern kann.
Ich bin vorsichtig positiv bezüglich der #Lockerungen in den nächsten Wochen & denke, dass der Peak der #Omicron-Welle überschritten ist - auch wenn ich glaube, dass es besser wäre, mit massiven Lockerungen bis zum Frühling zu warten. Unbedingt jedoch: #Masken beibehalten!
— Isabella Eckerle (@EckerleIsabella) February 15, 2022
Denn eines darf man nicht vergessen: Noch Ende 2021, also bis vor wenigen Wochen, sah es sehr kritisch aus. Spitäler und Politiker warnten vor Triagen auf den Intensivstationen. Auffällig war deshalb die Ernsthaftigkeit, mit der Bundespräsident Ignazio Cassis und Alain Berset trotz des vermeintlichen «Freudentags» an der Medienkonferenz auftraten.
«Wir haben keine Angst, aber wir dürfen auch nicht zu enthusiastisch sein», mahnte Cassis. Denn nichts spricht dafür, dass Sars-Cov-2 einfach verschwinden wird. Zu befürchten ist vielmehr, dass erneut eine gefährlichere Variante als Omikron auftauchen wird. Darauf muss sich die Schweiz besser vorbereiten als in den letzten zwei Jahren.
Es ist abzuklären, wie lange und gut der Immunschutz durch Impfung und/oder Infektion wirkt. Braucht es eine jährliche Auffrischung? Long Covid muss seriös erforscht werden, auch wenn spanischen Wissenschaftlern eine vielleicht bahnbrechende Entdeckung gelungen ist. Denn noch ist unklar, wie viele wie stark betroffen sind.
Ausserdem gilt es, sich auf künftige Wellen einzustellen. Experten empfehlen eine bessere Belüftung von Innenräumen. Unverzichtbar ist ein Monitoring möglicher neuer Virus-Varianten, und zwar auf globaler Ebene. Und die Schweiz muss sich für eine gerechtere Verteilung der Impfstoffe einsetzen. Nur so bekommen wir das Virus in den Griff.
«Wir haben viel gelernt, aber wir wissen längst noch nicht alles», sagte Ignazio Cassis. Das zeugt von einer gewissen Einsicht, der nun Taten folgen müssen. Ansonsten aber ist es richtig, in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft das Individuum in die Pflicht zu nehmen. Und ihm die Verantwortung auch für die Vulnerablen zu übertragen.
Ob es dafür zu früh ist? Wir können nicht ewig in Angst leben, sollten aber vorsichtig bleiben. Und Rücksicht aufeinander nehmen. Denn das Virus ist nicht fertig mit uns.
Und ausserdem hat ja bekanntlich das Angebot an Pflegenden abgenommen. Aus wirtschaftlicher Sicht wäre also eine Lohnerhöhung die einzig logische Konsequenz.