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Mallorca: «Gruppenvergewaltigungen im Ausland sind seltene Ereignisse»

Interview

«Gruppenvergewaltigungen in den Ferien sind ausgesprochen seltene Ereignisse»

Die spanische Polizei und Justiz ermitteln erneut wegen des Verdachts einer Gruppenvergewaltigung auf der balearischen Insel Mallorca. Warum es gerade im Urlaub zu solchen Taten kommt, erklärt Kriminalexperte Dirk Baier.
20.08.2023, 09:4422.08.2023, 10:48
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Zur Person
Dirk Baier leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Jugend- und Gewaltkriminalität.

Kommen Gruppenvergewaltigungen häufiger in den Ferien im Ausland vor?
Dirk Baier: Grundsätzlich sind Gruppenvergewaltigungen sehr selten. Bei der überwiegenden Anzahl an Vergewaltigungen gibt es nur eine Tatperson. Grundsätzlich sind auch Vergewaltigungen in den Ferien im Ausland sehr selten. Vergewaltigung ist auch kein typisches Feriendelikt. Die überwiegende Anzahl an Vergewaltigungen geschieht im Heimatland und hier durch aktuelle oder ehemalige Partner oder Freunde. Dies bedeutet, dass Gruppenvergewaltigungen in den Ferien im Ausland generell ausgesprochen seltene Ereignisse sind und man daher wenig darüber sagen kann, ob sie häufiger vorkommen als Gruppenvergewaltigungen hier in der Schweiz, wo solche Taten auch schon stattgefunden haben.

«Die überwiegende Anzahl an Vergewaltigungen geschieht im Heimatland.»

Gibt es dennoch einen entscheidenden Unterschied?
Einige Gruppen junger Männer suchen Destinationen wie Mallorca bewusst mit dem Vorsatz auf, sich dort zu betrinken, 24 Stunden zu feiern, «Frauen aufzureissen». Der Gruppenkontext verbunden mit massivem Alkohol- und Drogenkonsum und der falschen Vorstellung, dass auch Frauen mit ähnlichen Vorsätzen solche Urlaubsorte ansteuern, kann dann zu solch schrecklichen Taten führen.

Mutmassliche Gruppenvergewaltigungen auf Mallorca
In Mallorca haben in diesem Sommer mutmasslich zwei Gruppenvergewaltigungen stattgefunden. Die Betroffenen beide Male: zwei junge Frauen. Die Verdächtigen: Touristen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz, alle Anfang 20. Mehr dazu liest du hier.
Anlaufstellen für Opfer von sexueller Gewalt
Sexuelle Übergriffe können in den unterschiedlichsten Kontexten stattfinden. Hilfe im Verdachtsfall oder bei erlebter sexueller Gewalt bieten etwa die kantonalen Opferhilfestellen oder die Frauenberatung Sexuelle Gewalt. Für Jugendliche oder in der Kindheit sexuell ausgebeutete Erwachsene gibt es in Zürich die Stelle Castagna. Betroffene Männer können sich an das Männerbüro Zürich wenden. Wenn du dich sexuell zu Kindern hingezogen fühlst oder jemanden kennst, der diese Neigung hat, kann dir diese Stelle weiterhelfen.

Was verleitet Täter zu solchen Übergriffen?
Ich bin erstens überzeugt, dass nicht jeder Mann gleichermassen dazu fähig ist, eine Vergewaltigung zu begehen. Dies bedeutet, dass gewisse Personenmerkmale wie Dominanzstreben, Männlichkeitsorientierungen oder Impulsivität dazu beitragen, dass überhaupt so ein Verhalten gezeigt wird. Es würde mich daher nicht wundern, wenn die der Gruppenvergewaltigung verdächtigten Personen bereits früher mit Aggression und Gewalt in Erscheinung getreten sind. Zweitens spielen gruppendynamische Elemente eine Rolle, das heisst ein männlicher Jugendlicher möchte, vor den anderen nicht als Schwächling dastehen und macht bei solchen Aktionen mit. Alkohol und Kokain enthemmen zudem und machen aggressiv, sodass jegliche Empathie für das Opfer verloren geht. Gerade junge Menschen lassen sich durch die Anwesenheit von Kollegen sehr schnell mitreissen und zu Verhalten animieren, welches sie allein nicht zeigen würden.

Geht es dabei um Erniedrigung oder um sexuelle Befriedigung?
Vergewaltigung ist immer ein Akt der Erniedrigung der Frau und der Ausübung von Macht und Kontrolle über diese. Es geht weniger um die sexuelle Befriedigung, sondern um Dominanzausübung und Herabsetzung der anderen Person. Eine Gruppenvergewaltigung entspricht aber nur teilweise diesem Muster. Hier spielen die gruppendynamischen Prozesse eine zusätzliche Rolle, das heisst: Junge Männer werden mitgerissen, obwohl es ihnen weniger um die Machtausübung geht.

Fürchten sich Täter im Ausland weniger vor Strafverfolgungen?
Personen, die Straftaten begehen, blenden einerseits aus, dass ihr Verhalten eine Straftat ist. Bei Vergewaltigungen beispielsweise dadurch, dass sie sich einreden, dass der Sex einvernehmlich war. Andererseits gehen sie davon aus, dass sie sowieso nicht erwischt werden, sprich sie schätzen das Risiko gering ein, sich für das Verhalten verantworten zu müssen. Aus meiner Sicht spielt dabei weniger eine Rolle, ob man sich im Ausland aufhält oder nicht. Vielmehr ist entscheidend, ob man aufgrund von Alkohol- und Drogenkonsum zu solchen Fehleinschätzungen kommt oder ob man durch Andere, Freunde, dazu verleitet wird, so zu denken.

«Gerade junge Menschen lassen sich durch die Anwesenheit von Kollegen sehr schnell mitreissen.»

Laufen die Übergriffe nach ähnlichem Schema ab?
Eine wissenschaftliche Aufarbeitung von Gruppenvergewaltigungen ist mir bisher nicht bekannt, weshalb man nicht gesichert von Mustern oder einem Schema sprechen kann. Eine solche Aufarbeitung muss sehr sorgfältig erfolgen, damit sie nicht zu einer Opfer-Täter-Umkehr führt. Ein Beispiel: Es könnte sich zeigen, dass eine vergewaltigte Frau zuvor mit den Männern gemeinsam Zeit verbracht hat, in den Ausgang gegangen ist, im Hotel weitergefeiert hat. Dass es dann zu einer Vergewaltigung gekommen ist, ist damit aber überhaupt nicht mit dem Verhalten der Frau zu begründen: Es ist nicht ihre Schuld. Falsch haben sich nur die Tatpersonen verhalten.

Gibt es jeweils eine Art Alphatier, das grossen Einfluss auf die Gruppe ausübt?
Auch das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen aufgrund der wenigen Fälle solcher Taten und dem Mangel an Forschung. Ich gehe davon aus, dass eine Person eine führende Rolle hat, mit dem übergriffigen Verhalten beginnt und die anderen dazu auffordert, gleiches zu tun. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es Gruppen gibt, wo sich die Tatpersonen vorher abgesprochen haben, die Tat gemeinsam geplant und begangen haben.

Wie sieht die Rechtslage aus: Muss man jedem einzelnen nachweisen, dass er bei der Tat dabei war?
Wenn eine Person wegen des Begehens einer Vergewaltigung schuldig gesprochen werden soll, dann muss ein entsprechender Nachweis erfolgen, beispielsweise durch Spermaspuren oder durch Aussage des Opfers. Wenn dies nicht gelingt, ist eventuell eine Verurteilung in Bezug auf den Versuch oder die Beihilfe möglich.

«Dass es mehrere Tatpersonen gibt, muss nicht unbedingt heissen, dass die Anzeigebereitschaft geringer ausfällt.»

Trauen sich die Opfer nach einer Gruppenvergewaltigung tendenziell noch weniger, die Täter anzuzeigen, da sich die Täter gegenseitig entlasten können?
Vergewaltigungen sind Straftaten, die generell sehr selten angezeigt werden: Die Anzeigerate liegt bei in der Schweiz bei circa zehn Prozent. In neun von zehn Fällen muss sich eine Tatperson also nicht für ihr Verhalten juristisch verantworten. Die Gründe sind bekannt: Man möchte als Opfer nicht mit der Polizei über eine so schambesetzte Erfahrung sprechen, man gibt sich fälschlicherweise selbst die Schuld für die Tat oder versucht sich einzureden, dass es nicht so schlimm gewesen sei. Man kennt die Tatperson gut und möchte ihr nicht schaden, weil man teilweise noch mit ihr in einer Partnerschaft ist. Man hat Angst vor Repressalien durch die Tatperson oder man meint, dass einem nicht geglaubt wird. Ob die Anzeigerate bei Gruppenvergewaltigung noch niedriger ausfällt, können wir nicht sagen. Dass es mehrere Tatpersonen gibt, muss aber nicht unbedingt heissen, dass die Anzeigebereitschaft geringer ausfällt, da Opfer von Vergewaltigungen nie damit rechnen, dass die Tatperson (oder Tatpersonen) ihre Version der Tat bestätigen werden. Der Nachweis, dass eine Vergewaltigung stattgefunden hat, erfolgt nicht durch Geständnis der Täter, sondern durch Spuren am Körper der Frau oder durch die glaubhafte Opferaussage.

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51 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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D.Enk-Zettel
20.08.2023 10:35registriert Oktober 2021
Für solche Schandtaten gibt es schlichtwegs keine Entschuldigung. Hoffentlich wird mit aller Härte des Gesetzes durchgegriffen.
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wintergrün
20.08.2023 10:45registriert Dezember 2017
Teil 1
Sehr guter informativer Artikel.
Wenn nur 10% angezeigt werden ist es kein Wunder dass Täter das Risiko von Konsequenzen als gering einschätzen.
Für mögliche Opfer ist es hilfreich wenn man rauskriegen kann wo es schon wie viele Beschwerden gab auch wenn die Person nicht gerichtlich verurteilt wurde.
Beispiel Till Lindemann: seine Anwälte stellen sein Casting System als „schützenswerte Intimsphäre“ dar, allerdings sieht das Landgericht Hamburg das anders: es bestehe erhebliches öffentliches Interesse an einer detaillierten Berichterstattung.
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Baguette
20.08.2023 12:02registriert Februar 2020
An sich ein guter, lesenswerter Artikel - aber eine Vergewaltigung ist nie und nimmer ein "Ereignis". Der gute Mann soll das so benennen, wie es ist: eine Straftat.
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