Herr Fehr, die Schreie nach weiteren Lockerungen werden immer lauter, Ostern steht vor der Tür. Nun hat der Bundesrat private Treffen mit zehn Personen bewilligt. Ist das schlau?
Jan Fehr: Jein. Man muss die Sache so sehen: Der Bundesrat hatte im Vorfeld ja einige Öffnungen in Aussicht gestellt – beispielsweise die jene von Fitnesscentern oder Restaurant-Terrassen. Dass das nicht umgesetzt wurde angesichts steigender Zahlen, ist richtig. Dass es nun eine Lockerung im privaten Bereich gibt, ist heikel, aber nachvollziehbar, da menschliche Kontakte elementar sind.
Anders als nach dem ersten Lockdown wird nun viel zurückhaltender geöffnet.
Der Mathematik folgend, müssten wir jetzt eigentlich sogar schliessen und nicht öffnen, wie es übrigens auch unsere Nachbarländer tun. Der Entscheid des Bundesrates war ein Abwägen. Angesichts in Aussicht gestellter weitergehender Lockerungen ist er statt aufs Gaspedal jetzt aufs Bremspedal getreten und hat die ‹Türe einen Spalt offen gelassen›, was so kurz vor Ostern sicher ein nachvollziehbarer Entscheid ist. Denn es geht auch um die psychische Gesundheit und darum, die Leute an Bord zu behalten. Die Situation verhält sich wieder ähnlich wie vor Weihnachten, wo Menschen wieder zusammenkommen, wo wieder mehr Kontakte stattfinden. Und das ist es, was die Zahlen hochtreibt.
Soll man sich im privaten Raum an Ostern wirklich zu zehnt treffen?
Wir brauchen Nähe und menschliche Kontakte, darum habe ich Verständnis für die Lockerung. Aber wir müssen vorsichtig sein. Es gibt ja Möglichkeiten, sich zu schützen: Wir können uns vor diesen Treffen kostenlos testen lassen, und das müssen wir auch. Dabei ist es wichtig, dass man bei einem positiven Resultat die Konsequenzen zieht und einem solchen Treffen – wenn auch schweren Herzens – fernbleibt.
Im Vergleich zur Vorwoche sind die Zahlen wieder gestiegen – was ist passiert?
Für mich ist das eine logische Konsequenz der Öffnungsschritte von Anfang Monat. Sie geschahen zu einem Zeitpunkt, an dem die Pandemie noch nicht abgekühlt war. Die Lockerungsschritte waren kein Entscheid der Wissenschaft. Die Umsetzung war heikel, da wir es mit einer ansteckenderen Variante zu tun haben, welche jetzt 80 Prozent aller positiven Fälle ausmacht. Eigentlich hatte man sogar zwei Pandemien: die ursprüngliche und die neuere, die sich seit Anfang Januar immer mehr ausbreitet. Wir sind nie ganz in einer Situation gewesen, wo wir guten Gewissens hätten lockern können.
In allen Nachbarstaaten explodieren die Fallzahlen. Besteht überhaupt noch eine Chance, der dritten Welle zu entkommen?
Die dritte Welle ist sich am Aufbäumen. Die Frage besteht eigentlich noch vor allem darin, wie hoch sie sich türmen wird und ob es eine kleine Welle bleibt oder sie zu einer stattlichen Welle anwächst.
Wie schaffen wir es, bei einer kleinen Welle zu bleiben?
Wir sind in einer unglücklichen Situation. Die Welle ist am Anfluten, mit der Impfung ist man noch nicht so weit und die Testoffensive im grossen Stil ist auch noch nicht angelaufen – wir warten ja noch auf die Selbsttests. Um das grosse Auftürmen der Welle zu vermeiden, ist sicher eine Drosselung der Kontakte und Mobilität nötig. Zudem sollte man die Testmöglichkeiten unbedingt wahrnehmen – das Angebot ist mittlerweile ja gross. Wo man sicher auch noch ausbauen kann und woran wir mit Hochdruck arbeiten, ist die Impfung. Wir hoffen auf baldige grosse Lieferungen von Impfdosen. Der Effekt wird sich allerdings nicht sofort zeigen – erst in den nächsten Wochen und Monaten. Zusammengefasst: Das Testen und das Einhalten der Konsequenzen, wenn man positiv ist, sind das A und O, um gegen diese dritte Welle anzukämpfen – nebst den bereits bekannten Schutzmassnahmen natürlich.
Muss man damit rechnen, dass sich die Spitäler wieder füllen, oder wird die Impfung schon einen Effekt zeigen?
Es besteht die Hoffnung eines Effektes, da ein Teil der Hochrisiko-Patienten bereits geimpft wurde. Allerdings füllten bisher gar nicht unbedingt die über 80-Jährigen die Spitäler. Diese verstarben oft in den Heimen. Ich glaube nicht, dass die Spitäler in der dritten Welle, sofern wir diese nicht in den Griff bekommen, im grossen Masse verschont bleiben. Man darf auch nicht vergessen, dass wir noch lange nicht genau erklären können, wieso jemand schwer erkrankt. Es gibt auch 40-Jährige mit schweren Verläufen, die danach noch Long Covid haben und monatelang unter Beschwerden leiden. Es bestehen also noch weitere Risikofaktoren – es trifft nicht nur die ältere Bevölkerung. Zudem gibt es leider Anzeichen dafür, dass die Mutanten nicht nur viel ansteckender sind, sondern auch schwerere Erkrankungen verursachen.
Wird es diesmal also auch vermehrt jüngere Menschen treffen?
Das wissen wir noch nicht genau. Anteilsmässig wohl ja, da wir auf einen Impfeffekt bei den Älteren hoffen. Zudem wissen wir nicht, wie sich das Virus weiterentwickeln wird. Die Vergangenheit hat bisher oft gezeigt, dass Mutationen eher milder werden, doch diesmal ist dies nicht der Fall.
Immer mehr Kinder werden positiv getestet. Liegt das daran, dass sie einfach mehr getestet werden oder dass sie sich mit dem B.1.1.7 anstecken?
Ich gehe davon aus, dass es vor allem am häufigen Testen liegt. Aber sicher weiss man das noch nicht.
Sind die Kinder also nicht die Treiber der Pandemie?
Die Kinder sind weder noch. Sie können das Virus tragen wie alle anderen, aber sind nicht unbedingt diejenigen, die hauptsächlich zum Pandemiegeschehen beitragen. Nicht wie wir das von anderen Erkältungskrankheiten kennen. Im Rahmen unserer Studie Ciao Corona mit 52 Schulen hat man erstaunlich wenig Infektionsherde gefunden. Das hat uns aufatmen lassen. So weit war es richtig , die Schulen offen zu lassen – ein mutiger und richtiger Schritt seitens der Gesundheitsbehörden. Denn zur mentalen Gesundheit gehören auch Bewegung und Abwechslung. Wenn wir die Schulen lange geschlossen halten würden, hätte das fatale Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Das würde unsere Gesellschaft noch Jahre später beschäftigen.
Sie sind Leiter eines Covid-Testzentrums in Zürich. Hat sich die Ausweitung der Teststrategie schon bemerkbar gemacht?
Das Corona-Zentrum der Universität Zürich ist als Test- und Forschungszentrum gestartet. In den letzten Monaten haben wir das erste Impfzentrum im Kanton aufgebaut und jetzt konzentrieren wir uns als Referenzzentrum auf das Impfen. Denn es gibt genügend Testangebote im Kanton. Wir testen zwar nach wie vor, aber nicht mehr im grossen Stil. Die vom Bundesrat angekündigte Testoffensive sollte nun aber dringend anlaufen. Man muss testen, um der Welle etwas entgegensetzen zu können.
Die Selbsttests werden zurzeit noch geprüft. Wie schätzen Sie den Effekt von Selbsttests auf die Teststrategie ein, wenn diese zugelassen werden?
Mit dem Selbsttest allein ist es nicht getan. Selbsttests können eine Blackbox sein. Wenn nämlich derjenige, der sich selber testet, dann nicht weiss, wie er mit dem Resultat umgehen muss, haben wir nichts gewonnen. Die Interpretation sämtlicher Handlungsanweisungen kann anspruchsvoll sein. Wir erleben es täglich: Die Leute, die sich bei uns testen lassen, haben sehr viele und berechtigte Fragen. Zudem fliessen die positiven Resultate der Selbsttests nicht automatisch in das Meldesystem. Wir könnten damit die Übersicht über die Infektionslage rasch verlieren, wenn nicht alle gut mitmachen.
Wie könnte man dem entgegenwirken?
Es kann gelingen, wenn wir ein gutes Konzept haben und die Leute mit dem Selbsttest nicht alleine gelassen werden. In den Testzentren wird man ja bei einem positiven Resultat immer gut beraten und man kann Fragen stellen. Ich würde sehr stark dafür plädieren, dass sich die Gesundheitsbehörden eine gute Kampagne überlegen, wie man das Ganze einführt. Wenn es uns gelingt, die Tests sinnvoll einzusetzen, das Impfen in den kommenden Wochen hochzufahren und noch ein bisschen durchzuhalten, dann können wir uns hoffentlich auf einen schönen Sommer freuen.
Ich habe mich jedenfalls mental darauf eingestellt, dass sich die Situation dieses Jahr kaum ändern wird.