Im Lesesaal des Bundesgerichts in Lausanne hängen ovale goldumrahmte Porträtbilder der früheren Bundesrichter an den Wänden. Es ist eine Männergalerie mit vielen Schnäuzen – und wenigen Frauen. Bald wird hier auch ein Foto von Richterin Martha Niquille hängen. Sie ist die erste Frau, die das Bundesgericht präsidiert hat. Nun geht sie mit 68 Jahren in Pension und blickt zurück – und nach vorn.
Sie sind die erste Bundesgerichtspräsidentin seit der Gründung des höchsten Gerichts 1848. Warum dauerte es so lange, bis eine Frau an die Spitze gewählt wurde?
Martha Niquille: Auch das Frauenstimmrecht wurde in der Schweiz ja spät eingeführt. Und so dauerte es halt auch lange, bis überhaupt eine Frau ans Bundesgericht gewählt wurde. Erste Bundesrichterin wurde dann 1975 Margrith Bigler-Eggenberg. Dann verging wieder einige Zeit, bis die zweite Frau gewählt wurde, Kathrin Klett 1991. Nach dem alten Organisationsgesetz wurde das Präsidium in der Regel gemäss der Anciennität vergeben. Der jeweils amtsälteste Richter wurde also zum Präsidenten gewählt. So kamen die wenigen Frauen damals gar nicht infrage.
Mit dem neuen Bundesgerichtsgesetz änderte sich das aber vor fünfzehn Jahren.
Seither spielt die Anciennität für das Präsidium keine entscheidende Rolle mehr. Bei der Einführung des neuen Gesetzes wurde Susanne Leuzinger-Naef als erste Frau zur Vizepräsidentin gewählt. Sie konnte aber nicht zur Präsidentin aufsteigen, weil damals noch die sogenannte Luzerner Regelung galt. Das Präsidium kam demnach vom Hauptsitz in Lausanne und das Vizepräsidium vom Standort des Bundesgerichts in Luzern, wo Leuzinger tätig war. Ich war dann die zweite Vizepräsidentin und wurde vor zwei Jahren zur ersten Präsidentin gewählt.
Trotzdem: Es wirkt seltsam, dass nach 97 Bundesgerichtpräsidenten erst jetzt die erste Präsidentin ihre Amtszeit abschliesst.
Ja, aber zum Beispiel in Deutschland verlief die Entwicklung ähnlich. Die aktuelle Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, ist auch die erste Präsidentin in der Geschichte ihres Gerichts. Für dieses Amt braucht es viel Erfahrung und diese wiederum beansprucht Zeit. Vor der Wahl ans Bundesgericht ist man in der Regel an einem kantonalen Obergericht tätig. Dort musste es auch zuerst mehr Frauen geben. Ich war lange Zeit die einzige Frau am St.Galler Kantonsgericht.
War es ein Zufall, dass gerade Sie die erste Bundesgerichtspräsidentin wurden oder waren Sie besonders engagiert?
Wer Bundesrichterin wird, ist immer engagiert. Ich fahre jede Woche von St.Gallen nach Lausanne und wieder zurück. Diesen weiten Weg nimmt man nicht auf sich, wenn man nicht Freude an dieser Arbeit hat.
Sehen Sie sich als Kämpferin für Gleichstellung?
Im aktiven Sinn, Nein. Ich gehe nicht für Gleichstellungsanliegen auf die Strasse. Im passiven Sinn schon. Ich habe die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in einer Zeit vorgelebt, als dies noch nicht so verbreitet war. Vielleicht konnte ich jüngeren Juristinnen damit zeigen, dass es eben doch möglich ist.
Hatten Sie Mühe, Beruf und Familie zu vereinbaren?
Bevor ich vollamtliche Richterin in St.Gallen wurde, hatte ich als Anwältin in einem Büro gearbeitet. In diesem Beruf wäre es für mich damals schwieriger gewesen, die beiden Rollen zu kombinieren, weil ich weniger über meine Termine bestimmen konnte. Wenn man Kinder hat, ist es wichtig, dass man verlässlich ankündigen kann, wann man zu Hause ist und wann nicht. Als Anwältin musste ich manchmal auch am Sonntag ins Büro. Als Richterin konnte ich mir die Zeit besser einteilen.
Haben Sie als Richterin immer 100 Prozent gearbeitet?
Damals war es gesetzlich zwar eigentlich nicht vorgesehen, dass man als Kantonsrichterin nicht 100 Prozent arbeitet. Ich durfte mein Pensum aber auf 80 Prozent reduzieren. Ich musste allerdings versprechen, dass ich das Pensum wieder aufstocke, wenn die Kinder grösser sind. Das habe ich dann auch getan. Es war eine gute Zeit, aber streng war sie natürlich schon.
Eignet sich das Amt als Bundesrichterin für Eltern mit kleinen Kindern?
Es ist möglich und es gibt auch ein Beispiel dafür: Eine Kollegin am Bundesgericht wurde Mutter eines Mädchens und hat das Amt nachher gleich weitergeführt. Sie hat einen Mann, der fünfzig Prozent arbeitet. Weil das Amt aber eine gewisse Erfahrung voraussetzt, ist man in der Regel nicht mehr in einem Lebensabschnitt, wo man kleine Kinder hat.
Waren Sie je benachteiligt als Frau oder Mädchen?
Als Frau war ich nie benachteiligt.
Und als Mädchen?
Die Lehrpläne waren in meiner Zeit diskriminierend. Als Mädchen hatte ich Hauswirtschaftsunterricht statt Geometrie. Dieses Fach brauchte ich aber, um später ans Gymnasium gehen zu können. Ich habe auf meinem Bildungsweg zwei Jahre verloren, weil ich die Matura über Umwege machen musste. Es war wirklich eine andere Zeit damals. Das kann man sich heute fast nicht mehr vorstellen.
Auch die Justiz war damals eine Männerdomäne. Wie war es für Sie damals, die einzige Frau zu sein?
Ich hatte nie Probleme und konnte auch immer in jener Abteilung arbeiten, die mich am meisten interessierte. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn ich benachteiligt worden wäre.
Wo sehen Sie Ihren grössten Erfolg als Bundesgerichtspräsidentin?
Als Bundesgerichtspräsidentin kann man nicht wie die Chefin einer Firma etwas befehlen, ich stehe in diesem Sinne nicht an der Spitze einer Befehlshierarchie. Alle Entscheide werden gemeinsam im Kollegium gefällt und umgesetzt. Am wichtigsten während meiner Präsidialzeit war die Reorganisation des Bundesgerichts. Diese betrifft alle Abteilungen und setzte daher viele Gespräche voraus. Für die Reorganisation hat uns das Parlament soeben zwei neue Richterstellen bewilligt, wodurch eine zusätzliche Abteilung aufgebaut werden kann. So können wir die rund 7800 Fälle pro Jahr besser bewältigen.
Sie haben in Ihrer Amtszeit auch die Nennung der Parteizugehörigkeit der Bundesrichterinnen und Bundesrichter auf der Website wieder eingeführt. Warum ist es wichtig, Ihren politischen Hintergrund zu kennen?
Wir haben die Parteibezeichnungen gestrichen, als ich noch Vizepräsidentin war. Wir werden zwar politisch gewählt, doch nach der Wahl spielen die Parteien keine Rolle mehr. Deshalb haben wir als Verwaltungskommission damals entschieden, dass die Parteizugehörigkeit auf der Website des Bundesgerichts nicht mehr genannt werden soll. Der Entscheid führte aber zu Kritik, auch innerhalb des Bundesgerichts. Deshalb haben wir wieder neu entschieden und die Transparenz dabei stärker gewichtet.
Spielt es eine Rolle, dass Sie Mitglied der Mitte-Partei sind?
Nein, ich glaube nicht. Jede hat einen Hintergrund, auch wenn man nicht in einer Partei ist. Ich zum Beispiel stamme vom Land in der Ostschweiz. Das prägt mich. Die Werte, die ich von meinen Eltern und meiner Umgebung erhalten habe, spielen bei Entscheiden, bei denen ich einen Ermessensspielraum habe, eine Rolle. Was meine Partei aber zu einem bestimmten Thema meint, spielt für mich keine Rolle.
Sie sind unglücklich in Ihre Amtszeit gestartet, weil Sie zuvor als Mitglied der Verwaltungskommission Fehler bei der Aufarbeitung von Problemen am Bundesstrafgericht begangen hatten. Was haben Sie aus diesem Aufsichtsproblem gelernt?
Die Aufsicht beschäftigt uns heute viel stärker als früher. Geregelt ist sie aber nur rudimentär. Heute können wir als Aufsichtsbehörde gegenüber den anderen Gerichten des Bundes vor allem technische Weisungen aussprechen. Aber wenn es Probleme gibt, hängen diese oft mit Personen zusammen und dann können disziplinarische Fragen in den Vordergrund rücken. Aktuell haben wir dann nur eine Handlungsmöglichkeit: Wir können bei der Gerichtskommission die Einleitung eines Verfahrens auf Amtsenthebung beantragen.
Was stellen Sie sich als Alternative vor?
Da werde ich zwar nicht mehr mitzureden haben, zweckmässig wäre aus meiner Sicht aber eine Abstufung, das heisst, dass auch mildere Mittel zur Verfügung stünden, zum Beispiel eine Mahnung oder eine Versetzung einer Richterin in eine andere Abteilung. Solche disziplinarischen Massnahmen würden aber eine gesetzliche Grundlage benötigen.
Sie gehen erst jetzt in Pension, weil man am Bundesgericht bis 68 arbeiten darf. Wären Sie fit genug, um sogar noch länger zu arbeiten?
Ja! (lacht)
Würden Sie gerne?
Die Frage stellt sich für mich nicht. Ich bin aber froh, dass ich jetzt wieder Zeit für Anderes habe. Ich war schon lange nicht mehr in den Ferien und hatte in den vergangenen Jahren wenig Zeit für Freundschaften. Diese möchte ich jetzt wieder pflegen.