Ging der grüne Wahlsieg spurlos vorbei an der Schweizer Politik?
Regula Rytz: Nein, überhaupt nicht. Die ersten Diskussionen zum CO2-Gesetz in der Nationalrats-Kommission mit den neuen Mehrheiten zeigen: Wir können in grünen Fragen mehr bewegen als vor den Wahlen. Es gab ein klares Ja zur Flugticket-Abgabe, neu auch für Privatflugzeuge. Doch wir sind noch längst nicht am Ziel. Wichtige Entscheidungen etwa zum Finanzplatz stehen aus. In Umweltfragen ist das Parlament nach dieser Klimawahl aber klar besser aufgestellt.
Bei den Bundesratswahlen sah das aber anders aus.
Die Bundesratskandidatur war logisch und notwendig. Auch wenn kein Platz frei war. Wir Grünen sind bereit, in einer Zeit der Umbrüche Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wir bleiben es weiterhin. Wir haben nun einen Fuss in der Tür und die anderen Parteien sind im Zugzwang. Sie müssen aufzeigen, wie sie den Wählerwillen im Bundesrat besser abbilden und die Grünen als viertstärkste Partei in die Zauberformel einbinden. Sonst sind sie maximal unglaubwürdig. Die Kandidatur hat aber noch etwas anderes auslöst.
Was?
Eine Auseinandersetzung mit der schlechten Regierungsbilanz von Bundesrat Ignazio Cassis. Er ist der Bundesrat der Konzerne wie Glencore oder Nestlé. Er will die Einwicklungszusammenarbeit zu einem Hilfsdienst für private Wirtschaftsinteressen umbauen. Und er hat die Europapolitik mit dem Angriff auf den Lohnschutz in die Sackgasse geführt. Scheitert das Rahmenabkommen, dann ist auch Cassis auf der ganzen Linie gescheitert. Das muss Konsequenzen haben.
CVP-Präsident Gerhard Pfister kündigte einen Konkordanzgipfel an. Gibt es schon einen Termin?
Nein. Bisher wurde noch keine Terminumfrage verschickt.
Welche neue Regel für die Bundesratswahlen steht für Sie im Vordergrund?
Historische Verschiebungen bei den Parlamentswahlen müssen die Zusammensetzung des Bundesrats verändern. Die stärksten Parteien – SVP und SP – haben heute Anspruch auf je zwei Sitze, FDP, CVP und Grüne auf je einen.
Das heisst: Für Sie geht der Sitz der Grünen auf Kosten der FDP?
So wie heute die Wähleranteile aussehen: Ja.
Als nächster Bundesrat könnte Ueli Maurer zurücktreten. Greifen die Grünen dann den SVP-Sitz an?
Ueli Maurer hat angekündigt, noch vier oder sogar acht Jahre zu bleiben. Lassen wir also die Spekulationen.
Und wenn er doch geht?
Sollte diese Situation eintreten, werden wir sie analysieren. Interessant war ja, dass bei den Bundesratswahlen in der FDP plötzlich Überlegungen gemacht wurden zu einer inhaltlichen Konkordanz. Sie müsste dann einen SVP-Sitz in Frage stellen. Die nächsten grossen Abstimmungen sind die zur Personenfreizügigkeit und das Referendum gegen das CO2-Gesetz. In beiden Fällen tritt die SVP alleine gegen alle anderen Parteien an.
Was wollen die Grünen in der Klimapolitik erreichen?
Die Schweiz muss ihre Zurückhaltung in der Klimapolitik ablegen und eine Vorreiterrolle übernehmen. Die Zeit läuft uns davon. Als progressives Land sollten wir nicht auf die anderen warten. Sondern vorangehen.
Wie soll das aussehen?
Die Aufgabe der Schweiz ist viel einfacher als jene der EU-Staaten. Die EU diskutiert über einen fundamentalen Umbau der Wirtschaft: Sie muss aus der Kohleindustrie aussteigen und die Automobilindustrie erneuern. In der Schweiz ist die Deindustrialisierung schon weit fortgeschritten. Wir müssen beim Klima drei Dinge anpacken: die Verkehrswende, den Ersatz von Ölheizungen und die Reform der Landwirtschaft.
Was muss die Schweiz beim Verkehr tun?
Sie sollte das ÖV-Rückgrat noch verstärken. Im Individualverkehr müssen wir rasch auf neue Antriebssysteme umschalten. Bis 2030 wollen wir die CO2-Grenzwerte für neue Fahrzeuge etappenweise von 95 auf 20 Gramm CO2 pro Kilometer senken. Ab 2030 sollen keine neuen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr in Betrieb genommen werden.
Was sehen Sie bei Ölheizungen vor?
Das CO2-Gesetz will ab 2026 keine neuen Ölheizungen mehr. Um die Hausbesitzer und Mieterinnen zu entlasten, müssen Gemeinden, Städte und Kantone mehr in die Gebäudeprogramme investieren.
Und bei der Landwirtschaft?
Die Landwirtschaft kann einen Beitrag zur CO2-Speicherung leisten. Wir müssen aber auch über den Höchsttierbestand diskutieren. Ohne importierte Futtermittel aus Brasilien sinken Tierbestand und Klimabelastung.
Wo sollen die Grünen wachsen?
In den ländlichen Kantonen und bei den Jungen. 2020 finden acht kantonale Wahlen statt. Die Dynamik ist gross. Wir haben in den letzten Jahren über 3000 neue Mitglieder und erstmals Nationalratssitze in Kantonen ohne grosse urbane Zentren wie Wallis, Glarus und Thurgau gewonnen. Das bedeutet: Wir haben in ländlichen Kantonen noch viel Potenzial.
Was wollen Sie da tun?
Mit Vorbildern wie dem Zürcher Regierungsrat Martin Neukom bieten sich uns konkrete Möglichkeiten zur Umsetzung von grüner Politik. Wir müssen in den nächsten vier Jahren aber auch eine Strategie für ländliche Regionen entwickeln. Wichtig für uns ist es zu zeigen, dass der Klimaschutz eine Chance ist für die Wirtschaft. Er stärkt die lokalen Arbeitsplätze in den Kantonen. Entscheidend ist, dass der Umbau sozial geschieht.
Und wie wollen Sie das erreichen?
Lenkungsabgaben mit Rückvergütungen wirken wie ein Ökobonus und entlasten Haushalte mit tiefem Verbrauch. Energiesanierungen dürfen zudem nicht dazu benutzt werden, um Profite der Hauseigentümer zu erhöhen. Hier braucht es eine Reform des Mietrechts. Entscheidend ist auch, dass man mit einer klimafreundlichen Mobilitätspolitik Geld sparen kann.
Wie stellen Sie sich das vor?
Effiziente Fahrzeuge sind günstiger als SUV. Es braucht aber auch gezielte Entlastungen beim öffentlichen Verkehr. Er soll für Kinder und Jugendliche stärker verbilligt werden.
Haben Sie dafür konkrete Ideen?
Wir schlagen ein Generalabonnement für Junge bis 25 Jahre für maximal 1000 Franken vor. Damit könnte man die Energie-, Klima- und Verkehrswende gezielt sozial umsetzen. Wollen wir den Klimaschutz voranbringen, müssen wir sehr viele konkrete Reformen anpacken. Dafür brauchen wir unbedingt soziale Akzeptanz. Nur so schaffen wir es, die Bevölkerung für schnelle Lösungen ins Boot zu holen. Es braucht aber auch Anreize für die Wirtschaft. Der Weg aus der Klimakrise ist Teamwork. Und er gelingt nur, wenn die Jugendlichen in Bewegung bleiben.