Herr Saxer, Sie sind als Verfassungsrechtler um die Gesundheit unseres Rechtsstaats besorgt, lassen Sie uns ihm den Puls messen.
Urs Saxer: Diese Situation ist eine echte Herausforderung für den demokratischen Rechtsstaat. Volksrechte sind beschnitten, Gemeinde- und Kantonsparlamente sind ausgeschaltet, Abstimmungstermine werden verschoben, Freiheitsrechte massiv eingeschränkt: Alle wesentlichen Elemente des Rechtsstaats sind herausgefordert wie zuletzt während des Zweiten Weltkriegs.
Das ist ein gravierender Befund, aber eigentlich tönen Sie hier am Telefon gar nicht so besorgt.
Man muss die Situation nüchtern anschauen. Wir haben nach wie vor Meinungsfreiheit in diesem Land, das Mediensystem funktioniert, es findet eine Debatte statt über die gebotenen Massnahmen in dieser Krisenzeit.
Die Meinungsfreiheit ist gegeben, aber unsere Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt.
Ja, hier wird ein zentrales Grundrecht massiv eingeschränkt, aber wir bewegen uns im Rahmen der Verfassung. Bei ausserordentlichen Situationen sieht die Verfassung eine Übertragung der Entscheidungsbefugnisse auf die Exekutive vor. Gemäss Artikel 185 Absatz 3 der Verfassung kann der Bundesrat weitreichende Massnahmen treffen. Das ist ein universaler Standard. Es gibt allerdings zwei entscheidende Fragen zu beachten. Erstens: Wie lange dauert dieser Zustand? Und zweitens: Wie stellt der Bundesrat die Legitimität seiner Entscheidungen sicher?
Jedenfalls nicht über das Parlament. Dieses hat sich selber eine Zwangspause verordnet.
Das ist eben so aussergewöhnlich an der aktuellen Situation: Im Normalfall würde das Parlament tagen und die Entscheidungen des Bundesrats unter die Lupe nehmen. Jetzt ist auch die Zivilgesellschaft gefordert.
Inwiefern?
Der Bundesrat macht zwar momentan von einer Machtfülle Gebrauch, aber er muss seine Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen öffentlich legitimieren. Das Handeln des Bundesrates wird in diesen Wochen extrem genau unter die Lupe genommen – zwar nicht durch das Parlament, aber sehr wohl durch die Medien, die Öffentlichkeit, die politischen Parteien und die Organisationen der Zivilgesellschaft.
Die Medien stehen aber unter Druck. Vor ein paar Tagen sorgte ein BAG-kritischer Artikel der «Republik» für eine heftige Debatte. Es sei jetzt nicht die Zeit für Kritik an den ohnehin überlasteten Behörden ...
Ich glaube, eine solche Diskussion ist wichtig. Die Medien nehmen im Moment in doppelter Hinsicht eine zentrale Funktion ein. Einerseits bedienen sich die Behörden der Medien, um ihre Botschaften an die Bevölkerung zu verbreiten, wie zum Beispiel bei den Durchsagen im Radio oder wenn die Zeitungen BAG-Empfehlungen auf ihre Titelseite drucken.
Und anderseits?
Anderseits darf das nicht dazu führen, dass die Medien zum Sprachrohr des Bundes werden. Sie müssen weiterhin in der Lage sein, unabhängig zu berichten, ohne dabei Panik zu verbreiten – in der Krise noch mehr als sonst. Und sollte es tatsächlich eine weitere Verschärfung der Bewegungsfreiheit geben, muss man sicherstellen, dass die Medienschaffenden davon ausgenommen werden.
Stichwort Bewegungsfreiheit: Immer wieder wird in diesen Tagen darüber spekuliert, dass bald eine nationale Ausgangssperre folgen könnte, wie sie Italien oder Frankreich schon kennen. Wäre eine solche aus verfassungsrechtlicher Sicht verhältnismässig?
In einer Krisenlage wie jetzt muss die Exekutive einen erheblichen Handlungsspielraum haben, das kann notfalls auch eine Ausgangssperre sein. Man muss bedenken: All diese Anordnungen können später gerichtlich überprüft werden. Die Verhältnismässigkeit stellt sich eher auf Ebene der Kantone, da stellt sich übrigens auch die Frage der Geeignetheit einer Massnahme.
Sie spielen auf das Tessin oder auf Uri an, beide hatten weitergehende Massnahmen als der Bundesrat erlassen und wurden jetzt zurückgepfiffen: Stellt diese Krise auch den Föderalismus auf die Probe?
Es ist nicht ganz klar, welche Regelungen abschliessend vom Bund vorgenommen worden sind und was die Kantone noch autonom machen dürfen. Der Föderalismus sieht sich tatsächlich vor eine grosse Herausforderung gestellt.
Grossbritannien kann seine Bürger und Bürgerinnen zum Corona-Test zwingen, Israel nutzt Technologie aus der Terrorbekämpfung und in der Schweiz wird ebenfalls über die umstrittene Nutzung von Telefondaten diskutiert: Plötzlich ist möglich, was zuvor grundrechtlich bedenklich erschien. Wie stellen wir sicher, dass einzelne im Notstand erlassene Gesetze nach dem Ende der Corona-Krise nicht einfach klammheimlich weitergeführt werden?
Das Entscheidende ist immer, ob das nur vorübergehende Massnahmen sind oder nicht. Egal wie erforderlich eine Massnahme in der Krisenzeit auch sein mag, sie muss zeitlich limitiert und auf einen bestimmten Zweck bezogen sein. Ansonsten landet man beim Ermächtigungsgesetz. In Ungarn nutzt Viktor Orban gegenwärtig die Corona-Krise zu einer faktischen Aushebelung der Gewaltenteilung, das kommt einem Staatsstreich gleich.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz ist diese Gefahr nicht gegeben, ein Vollmachtenregime, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise weitergeführt worden ist, ist heute nicht denkbar. Alle Erlasse sind zeitlich befristet.
Die Frage im Recht nach der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Gesundheit und Privatsphäre scheint in diesen Tagen klar zugunsten der Sicherheit auszufallen. Wird das nachhallen?
Ja, ich glaube es wird nachhallen, aber es wird die Natur des Staates nicht längerfristig ändern. Natürlich werden die Folgen dieser Krise ins kollektive globale Bewusstsein eingebrannt werden, und es wird nachhaltige Auswirkungen auf die ganze Welt haben. Aber ich glaube nicht, dass es zu einem Umbruch des Rechtsstaates führen wird. 9/11 und die Bekämpfung des Terrorismus haben zu einer Verschärfung der Überwachung und zu Einschränkung von Grundrechten im Sinne struktureller Verschiebungen geführt. Ich sehe diese Gefahr beim Coronavirus nicht. Ich glaube eher, dass wir mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu kämpfen haben werden.
Als Gesundheitsminister Alain Berset am Freitag eine weitere Einschränkung der Bewegungsfreiheit verkündete, wollte eine Journalistin wissen, ob Sie nun alleine Auto fahren müsse oder noch eine Beifahrerin mitnehmen dürfe. Berset reagierte sichtlich irritiert. Es ist absurd: Das Vertrauen der Regierung in die Bevölkerung scheint viel grösser als das Vertrauen der Bürger in sich selbst und in ihre Mitbürger, was man auch anhand der unzähligen Fotos in den sozialen Medien sieht, in denen Leute beschimpft werden, die sich weiterhin draussen aufhalten.
Das beunruhigt mich nicht so. Nüchtern betrachtet wird damit eine Form der sozialen Kontrolle betrieben, die die Durchsetzung von Massnahmen auf einem nicht-rechtlichen Weg verlangt. Aber ich gebe zu, es ist nicht sehr sympathisch.
Dafür ist das Verständnis von Demokratie etc. in der Schweiz gut entwickelt.
Die Zeiten werden vorüber gehen, der Virus schwächt ab und wir werden wieder rausgehen. Alles eine Frage der Zeit.
Ha. Der war gut. Jeder Todesfall einer 97-jährigen, vorerkrankten Person wird in grossen Lettern als Schock-News verbreitet. Ich wünsche mir einiges mehr an Sachlichkeit. Und damit meine ich nicht nur den Blick.