Das Sorgenbarometer kennt man schon lange. Wie kommt man auf die Idee, ein Chancenbarometer zu lancieren?
Tina Freyburg: Das Chancenbarometer ist aus einem Gemeinsinn entstanden. Als Mitglied im Förderbeirat des Strategiedialog21 komme ich einmal im Jahr zum Strategieaustausch mit den weiteren Förderbeiräten und Mitgliedern der Stiftung zusammen. Ein Treffen von sehr diversen und spannenden Persönlichkeiten. In dieser Runde diskutieren wir für die Schweiz relevante Themen, die wir mit dem StrategieDialog21 in einem offenen Austausch fokussieren wollen. Bei diesen Treffen herrscht jeweils eine sehr positive, konstruktive Stimmung. Daraus entstand das Bedürfnis, diesen Optimismus, diese Vielfalt und diesen Chancenblick hinauszutragen. Und nun wagen wir uns sogar einen Schritt weiter ...
Sie lancieren jetzt einen «Chancentag».
Genau, beflügelt von den optimistischen Resultaten aus der aktuellen Studie ist die Idee für den Schweizer Chancentag eher spontan entstanden. Chancen werden in der Schweiz sehr breit und vielseitig gesehen. Diese motivierende Tatsache verdient mehr Beachtung. Darum erklären wir den 29. September neu zum schweizweiten Chancentag.
Wie soll ich mir diesen Chancentag vorstellen?
Der Chancentag steht symbolisch für den Chancenblick der Schweiz. Schweizerinnen und Schweizer sind in diesem Jahr, das zeigen die Ergebnisse, noch optimistischer gestimmt als im Jahr zuvor – und das trotz anhaltender Krise. Am Chancentag rufen wir dazu auf, den Blick auf die Chancen zu richten. So haben wir zum Beispiel Unternehmen ermuntert, ihren Mitarbeitenden 30 Minuten Zeit für freies Denken zu schenken, in denen sie Chancen wahrnehmen können und Raum für Kreativität bleibt. Das fördert den Chancenblick und damit auch die Innovationskraft, die wir brauchen.
Der auffälligste Befund im diesjährigen Chancenbarometer ist, wie Sie oben erwähnt haben, dass im Vergleich zum Vorjahr mehr Schweizerinnen und Schweizer mit den gegenwärtigen Herausforderungen sehr grosse Chancen für positive Veränderungen verbinden. Und dies, obwohl die Corona-Pandemie uns auch 2021 im Griff hat.
Ja, es ist tatsächlich spannend, dass die Grundstimmung der Schweizerinnen und Schweizer so positiv ist. In diesem Jahr sogar leicht optimistischer als im vorherigen. Berücksichtigt man, dass sowohl das vorliegende als auch das erste Barometer vor dem Hintergrund der Pandemie entstand, ist etwa der Befund, dass nur ganz wenige Schweizerinnen und Schweizer vor allem Herausforderungen und kaum Chancen sehen, umso erstaunlicher – und erfreulicher. Das Frustpotenzial, das sich aus dieser Konstellation ergibt, ist also gering. Überdies gibt es in dieser Hinsicht nahezu keine Unterschiede zwischen Stadt und Land.
Das ist allerdings erstaunlich. Sonst ist ja viel vom Graben zwischen Stadt und Land die Rede.
Ja, aber nicht mit Blick auf die Wahrnehmung von Chancen. Die Schweiz ist landesweit zuversichtlich, in Herausforderungen auch Chancen wahrnehmen zu können.
Ist das so? Mir scheint, es ist ein Unterschied, was man in der Stadt und auf dem Land als Problem sieht.
Der Chancenblick von Stadt und Land fokussiert sich teils auf unterschiedliche Themen, das ist richtig. So sieht man in der Stadt eher eine Chance in der Zuwanderung, während auf dem Land die Altersvorsorge deutlich positiver bewertet ist. Zentral ist aber, dass weder Stadt noch Land mit Blick auf aktuelle Herausforderungen den Kopf in den Sand stecken.
Ich glaube – und das ist auch die Ausgangsüberlegung des Chancenbarometers –, wenn Menschen Chancen für positive Veränderungen sehen, dann ist das ein erster wichtiger Schritt. Dann entsteht echte Denkarbeit, dann werden Vorschläge auf den Tisch gelegt und Ideen ausgetüftelt. Wenn man sich über diese Vorschläge austauscht, entstehen konstruktive Diskussionen. Wir anerkennen damit, dass es eine Herausforderung gibt und dass wir handeln müssen.
Vielleicht haben wir unterschiedliche Präferenzen im Hinblick darauf, wie wir agieren sollen. Die konkrete Lösung kann sich durchaus zwischen Stadt und Land, Mann und Frau, Jung und Alt unterscheiden. Aber es gilt zu beachten, dass wir zu diesem Zeitpunkt in einer ganz anderen Debattenkultur sind. Dann können wir uns überlegen, wo es Schnittmengen gibt: Was wollen wir gemeinsam und wo gibt es Unterschiede? Wo funktioniert welche Lösung am besten?
Die Klimafrage ist, gefolgt von der Frage der Beziehung zur EU, dasjenige Thema, bei dem die Wahrnehmung von Chancen und Herausforderungen am stärksten polarisiert ist. Wie ist das zu verstehen – sind diese Themen besonders umstritten?
Beides sind zentrale Herausforderungen für die Schweiz. Hier ist der Unterschied am grössten im Hinblick auf jene Menschen, die sehr grosse Chancen sehen, und jene, die geringe Chancen sehen. Allerdings ist diese Polarisierung immer noch relativ gemässigt. Interessant ist, wenn man das in Bezug zu den Voraussetzungen stellt, die gegeben sein müssen, damit wir diese Chancen auch anpacken und positiv nutzen können.
Welche Voraussetzungen meinen Sie?
Es gibt zahlreiche Voraussetzungen, die erfüllt sein sollten, damit die Schweiz ihre herausragende Position als innovatives Land halten kann. Ein Beispiel wäre eine konstruktive Kommunikationskultur. Und genau hier fällt auf, dass nur sechs Prozent der Bevölkerung diese als voll und ganz gegeben sehen. Da ist also noch Luft nach oben. Die Studie zeigt somit, dass die Wahrnehmung von Chancen auch eine Kommunikationsfrage ist. Die Bevölkerung wünscht, dass alternative Vorschläge konstruktiv diskutiert werden. Das Chancenbarometer ist in diesem Sinne ein Angebot. Es zeigt auf, wie man zu einer konstruktiveren Kommunikationskultur, zu einem positiveren Mindset kommen kann.
Das Angebot klingt verlockend. Aber heisst positiv nicht auch, dass Probleme negiert werden?
Nein, und das ist ganz wichtig. Wir müssen Probleme und Sorgen anerkennen und uns dann fragen: Wie gehen wir damit um? Gibt es eine Lösung für die Gesellschaft, die von möglichst vielen akzeptiert werden kann? Und insbesondere: Können wir all das kreative Gedankengut, das in unseren Bürgerinnen und Bürgern steckt, abholen?
Man neigt freilich oft dazu, Probleme jeweils als gar nicht relevant zu betrachten, die der anderen Seite ein Anliegen sind.
Das ist so. Es gibt beispielsweise Menschen, die unter der Corona-Pandemie mehr leiden als andere. Das muss man anerkennen und ernst nehmen. Und dann aber fragen: Wie können wir uns dieser Herausforderung stellen? Die Corona-Pandemie kann auch als Brennglas verstanden werden, unter dem Probleme sichtbar werden, die schon lange bestehen. Jetzt aber haben wir die Chance, sie viel deutlicher zu sehen und vor allem zu handeln – nach vorne gerichtet zu gestalten. Die Krise kann so auch als Aufforderung verstanden werden.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Schweiz ist laut dem Chancenbarometer ausgeprägt. Mein subjektiver Eindruck ist indes, die Polarisierung und Unversöhnlichkeit sei eher stärker geworden, sowohl in meinem persönlichen Umfeld wie in den Medien.
Das ist zum Teil sicher Ansichtssache. Es gibt Menschen, die haben das Bedürfnis, ihren Standpunkt öffentlich mitzuteilen. Menschen, die Reaktionen hervorrufen möchten. Sie wollen von den anderen und insbesondere vom Staat gesehen und gehört werden. Das ist für mich vorerst noch kein Zeichen, dass der Zusammenhalt bröselt. Es ist für mich eher eine Frage der Kommunikationskultur. Und auch Ausdruck einer lebendigen Demokratie. Menschen, die kommunizieren und sich aktiv für eine Sache einsetzen, verbinden sich mit der Schweiz. Die Gesellschaft wiederum muss demokratisch darauf reagieren, die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen müssen demokratische Antworten darauf aushandeln. Das kann hart sein und ist anstrengend. Aber dann nehmen wir diesen Zusammenhalt auch ernst.
Stichwort «Politiker und Politikerinnen»: Das Chancenbarometer zeigt, dass Frauen bei Wahlen nach wie vor benachteiligt sind.
Das sind Fakten. Über alle Merkmale hinweg zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit der Wahl um drei Prozent sinkt, wenn das Profil weiblich ist.
Interessanterweise sind es vornehmlich die Frauen, die weniger Frauen wählen.
Genau. Das ist ein wichtiger Befund. Bei Männern ist es weniger ausschlaggebend, wenn die Kandidierende eine Frau ist. Es gibt bei Männern zwar ebenfalls eine Tendenz, eher keine Frau zu wählen, aber diese Tendenz ist nicht signifikant.
Woran liegt das?
Das ist eine spannende Frage, welche jedoch nicht Teil unserer Studie war. Meine Vermutung wäre, dass der Wahlentscheid auch von Gewohnheiten beeinflusst wird. Wir Frauen sind es gewohnt, dass Entscheidungen vor allem von Männern getroffen werden. Es ist ein Phänomen, das sich in vielen Bereichen zeigt, nicht nur in der Politik. Es ist ein trauriger Befund, und deshalb sind auch die politischen Parteien in der Pflicht, hier einen Wandel anzustreben.
Wie meinen Sie das?
Wenn man die soziodemografischen Merkmale wie eben das Geschlecht mit der Parteizugehörigkeit vergleicht, wird deutlich, dass es letztere ist, die den Unterschied macht. Sie beeinflusst unsere Wahlentscheidung viel stärker. Es sind die politischen Parteien, die Orientierung geben. Und genau hier sehen wir die Chancen auf Veränderung: Die politischen Parteien sind in der Pflicht, vielfältige Kandidierende auf die vorderen Listenplätze zu setzen, die die Diversität der Gesellschaft spiegeln.
Nun sehen beispielsweise rechte Parteien einen geringen Frauenanteil vermutlich gar nicht als Problem.
Schaut man sich die starken weiblichen Führungspersönlichkeiten an, die aus konservativen Parteien hervorgegangen sind, ist das ja verschenktes Potenzial. Wenn wir anerkennen, dass Lösungen generell besser sind, wenn unterschiedliche Sichtweisen zusammenkommen, dann gibt es noch sehr viel ungenutztes Potenzial.
Das Chancenbarometer 2021 legt den Schwerpunkt auf das Thema «Vielfalt» – und die ist denn auch durchwegs sehr positiv konnotiert. Sie kann aber auch als Bedrohung wahrgenommen werden. Wie soll man denn umgehen mit den Leuten, die sich dagegen stemmen?
In einer Demokratie müssen alle Stimmen ernst genommen und angehört, aber durchaus auch hinterfragt werden. Etwa die Prämisse, dass es so etwas wie eine «homogene schweizerische Identität» gebe. Nun, so etwas gibt es nicht. Die schweizerische Identität ist ja gerade vielfältig. Es ist ein Merkmal, das die Schweiz seit ihren Anfängen prägt – worauf sie stolz ist, worauf ihr Erfolg basiert. Also würde ich erst mal die Existenz einer homogenen nationalen Identität in Frage stellen. Und auch nachfragen, was das dann genau wäre.
Das hat ja auch mit Identität zu tun. Ein Begriff, der Konjunktur hat. Vielfalt bedeutet ja auch, dass Menschen sich auf ihre Identität berufen und Rücksicht und Teilhabe einfordern. Das ist sicher legitim. Es kann aber zu Schwierigkeiten führen. Wenn jede Gruppe ihre Vetomacht hat ...
Das ist dann ja ein konfrontatives Verständnis.
Anders formuliert: Endet Identitätspolitik nicht letztendlich in einer Art Atomisierung?
Ich würde einfach wieder fragen: Muss es denn zwangsläufig konfrontativ sein? Oder geht es nicht vielmehr darum, einander zuzuhören und zu verstehen? Für mich sind beim Thema Vielfalt zwei Dinge wichtig. Das eine ist symbolisch. Ich kenne das sehr gut etwa aus Vorstellungsgesprächen. Wenn man sich zum Beispiel als Frau einer Gruppe vorstellt, die nur aus Männern besteht, bekommt man unbewusst das Gefühl, nicht dazuzugehören. Das hat eine symbolische Wirkung. Oder wenn ich mir anschaue, wie das Parlament zusammengesetzt ist und ob ich mich da wiederfinde. Es ist logisch, dass Frauen sich beispielsweise von einem reinen Männerparlament nicht repräsentiert fühlen.
Was ist der zweite Punkt?
Es gibt Erfahrungen, die man nur schlecht nachempfinden kann, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Ein Beispiel ist, als Frau nachts allein unterwegs zu sein. Es gibt bestimmte Wege, die Frauen nicht gehen; es gibt bestimmte Orte, die sie nicht betreten. Die meisten Männer kennen dies eher nicht oder weniger. Geht es um Entscheidungen, denkt man oft nicht an Sichtweisen und Bedürfnisse des anderen, wenn man sie nicht nachempfinden kann. Dabei wäre es für einen selber nicht schlechter, wenn die Bedürfnisse der Gruppe, beziehungsweise des Gegenübers, mitgedacht würden. Es geht darum, Orte zu schaffen und Politik zu machen, wo die Bedürfnisse ganz unterschiedlicher Menschen mitgedacht werden. Ich kann einem Menschen keinen Vorwurf machen, dass er nicht alle Erfahrungen nachempfinden kann, vor allem, wenn sie ausserhalb des eigenen Vorstellungsvermögens liegen. Deshalb brauchen wir diesen Austausch, diese Kommunikation. Deshalb brauchen wir ein Parlament, in dem ganz unterschiedliche Lebens-Rucksäcke vorhanden sind. Das ist für mich nicht konfrontativ und kein Vorwurf, das ist die Konsequenz der unterschiedlichen Leben, die wir führen.