Schweiz
Interview

UNICEF erklärt, warum du die Krise im Sudan nicht ignorieren darfst

People fill containers by water at a distribution point due to water outages in Khartoum, Sudan, Sunday, May 25, 2025. (AP Photo)
Sudan Daily Life
Menschen verteilen sauberes Trinkwasser in Khartum, Sudan, am 25. Mai 2025.Bild: keystone
Interview

«Niemand ist sicher»: Ein Einblick in die Krise, von der du vermutlich kaum etwas weisst

Sheldon Yett vom Kinderhilfswerk UNICEF ist aus dem Sudan in die Schweiz gereist, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Menschen im Sudan dringend Hilfe benötigen. Indes kürzen zahlreiche Staaten ihre Gelder für humanitäre Hilfe.
11.06.2025, 20:0812.06.2025, 14:19
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Sie sind derzeit in der Schweiz. Weshalb?
Sheldon Yett:
Ich bin hier, um mich mit einigen unserer Partner zu treffen und sie daran zu erinnern, dass die Menschen im Sudan immens unter dem Krieg leiden und dringend Hilfe brauchen.

Diese Erinnerung braucht es offenbar.
Ja. Sudan ist eine vergessene Krise. Obwohl es die grösste humanitäre Krise der Welt ist. Wenn man Medienberichte konsumiert, bekommt man nichts davon mit, was die Menschen durchmachen. An einem guten Tag steht auf Seite 56 etwas zum Sudan. Es scheint eine Hierarchie der Krisen zu geben. Die Menschen schauen nur nach Gaza und zur Ukraine. Dabei sollte das Leid der Sudanesinnen und Sudanesen niemandem egal sein. Nur schon angesichts ihres Ausmasses.

Von welchem Ausmass sprechen wir aktuell?
12 Millionen Menschen sind bereits durch den Krieg vertrieben worden. Tausende befinden sich auf der Flucht. Wir verzeichnen entsetzliche Fälle von Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten. Insbesondere sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder. Aber selbst Männer werden Opfer sexualisierter Gewalt. Niemand ist sicher.

Sheldon Yett, UNICEF-Repräsentant in Sudan
Sheldon Yett, repräsentativer UNICEF-Vertreter im Sudan.Bild: UNICEF/ Ahmed Mohamdeen Elfati
Zur Person
Sheldon Yett stammt aus den USA und ist seit dem 1. August 2024 für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF in Port Sudan stationiert. Seit 1997 arbeitet Yett für UNICEF und war in Burundi, Somalia, Kosovo, Armenien, Mazedonien, Liberia und Bangladesh tätig. Vor seinem Engagement in der humanitären Hilfe arbeitete er als Journalist.

Die Kriegsparteien sollen gemäss Berichten gezielt wichtige Infrastruktur zerstören, beispielsweise Spitäler. Welche Folgen davon beobachten Sie?
Es herrscht eine Hungersnot, die sich auszuweiten droht. Wir sehen Ausbrüche von Cholera, Malaria, Masern. Es gibt sogar Fälle von Kinderlähmung. 80 Prozent der Kinder können nicht in die Schule gehen und gehen deshalb Gefahr, als Kindersoldaten rekrutiert zu werden. Die Menschen brauchen dringend Nahrung, sauberes Trinkwasser, Impfungen, medizinische Versorgung, psychologische Betreuung.

Und bekommen sie diese Hilfe?
Wir geben unser Bestes, damit sie diese bekommen. Wir sind stolz zu sagen, dass wir im letzten Jahr 2,7 Millionen Müttern und Kindern psychologische Betreuung und Bildung ermöglichen konnten. 9,8 Millionen Familien und Kinder im Sudan haben durch uns sauberes Trinkwasser erhalten. Dennoch ist es eine traurige Tatsache, dass wir Millionen von Kindern nicht erreichen. Die Kriegsfronten verändern sich ständig. Die Bevölkerung befindet sich durchgehend auf der Flucht. Alle im Land sind vom Krieg betroffen. Und das bei einer Bevölkerungszahl, die viermal so gross ist wie jene der Schweiz.

Am Montag wurde auch einer Ihrer Hilfskonvois attackiert. Fünf Menschen starben. Wissen wir, von wem der Angriff ausgegangen ist? Von den sudanesischen Streitkräften SAF oder den paramilitärischen Kämpfern der Rapid Support Forces RSF?
Nein, das wissen wir nicht. Es handelte sich um einen Konvoi, der Nahrungsmittel, Gesundheits- und Wasservorräte sowie sanitäre Anlagen für die Bevölkerung in Al Fasher in Nord-Darfur transportierte. Der Angriff ist eine klare Verletzung des humanitären Völkerrechts.

So ist es zum Krieg in Sudan gekommen
Vor wenigen Jahren sah es gar nicht so schlecht aus in Sudan. Die Bevölkerung erhob sich 2019 gegen Langzeitdiktator Omar al-Bashir. Er hatte sich 1989 an die Macht geputscht und seither ein islamistisches Regime aufgebaut. Dies mit der Unterstützung Saudi-Arabiens, der Vereinten Arabischen Emirate und des Nachbarlands Ägypten. Nachdem die Bevölkerung al-Bashir 2019 stürzen konnte, trat jedoch nicht die ersehnte Demokratie ein.
Die Übergangsregierung, bestehend aus Personen aus der zivilen Demokratiebewegung, wollte keine Regierungsmacht übernehmen. 2021 putschten sich die sudanesischen Streitkräfte (SAF) in Zusammenarbeit mit den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) an die Macht. Abgemacht war, dass die beiden Lager das Land mit seinen 44 Millionen Einwohnern gemeinsam führen würden. Doch sie zerstritten sich über die Machtaufteilung.
Am 15. April 2023 eskalierte der Streit zwischen den SAF und den RSF. Seither bekämpfen sich die beiden Armeen im ganzen Land, bombardieren wahllos zivile Viertel und wichtige Infrastrukturen.

Der Angriff am Montag war nicht der erste seiner Art. Viele Hilfsorganisationen haben sich aus dem Sudan zurückziehen müssen, weil die Kriegsparteien sie gezielt angriffen. Sie operieren nun aus den Nachbarländern aus. Wird sich UNICEF nicht irgendwann auch zurückziehen müssen?
Nein. Wir waren vor Ausbruch dieses Krieges im Sudan und wir werden auch weiterhin dort bleiben und den Menschen mit allem, was in unserer Macht steht, helfen. Auch wenn es immer schwieriger wird, dass unsere Hilfe die Menschen erreicht. Aber: Wir erreichen die Menschen. Wir können Kindern Impfungen verabreichen, wir können Familien mit sauberem Wasser versorgen, wir können Mütter in Sicherheit bringen. Und darauf kommt es an.

Sie selbst sind in Port Sudan stationiert. Sind sie dort sicher?
Ich vertraue darauf, dass die Regierung Sudans sich um unsere Sicherheit bemüht.

Mit der Regierung meinen Sie die sudanesischen Streitkräfte SAF?
Ja. Sie sind die Flaggenträger unter den Vereinten Nationen. Um den Kindern zu helfen, müssen wir mit allen Kriegsparteien in Kontakt stehen.

Vergangenen August hat in der Schweiz eine Friedenskonferenz für den Sudan stattgefunden. Diese hat offensichtlich keine Früchte getragen?
Die Friedenskonferenz hat die Menschen an die dringlichen humanitären Bedürfnisse der sudanesischen Bevölkerung erinnert. Und nun versuche ich dasselbe in der Schweiz erneut.

Sie sind US-Amerikaner. Seit diesem Jahr herrscht in Ihrem Heimatland US-Präsident Donald Trump, der unter anderem die staatlichen Gelder für die Entwicklungshilfe streichen liess. Hat dieser Entscheid direkte Folgen auf die humanitäre Lage im Sudan?
Natürlich. Die USA stellen den wichtigsten und grössten humanitären Partner von UNICEF dar. Aber es ist wichtig zu sagen, dass nicht nur die USA ihre Hilfe gekürzt hat. Auch europäische Länder, auf die wir in der Vergangenheit zählen konnten. Wir haben in diesem Jahr nur etwa ein Viertel des Bedarfs an humanitärer Hilfe erhalten, die wir für die Kinder im Sudan benötigen. Bis jetzt.

Welche anderen europäischen Länder haben ihre Hilfe gekürzt?
Viele. Die nordischen Länder, Deutschland, die Niederlande. Und auch in der Schweiz diskutiert man über Kürzungen. Natürlich müssen wir sicherstellen, dass wir so effizient wie möglich arbeiten. Aber wir alle haben in der Verantwortung, die humanitäre Hilfe für den Sudan fortzusetzen. Nehmen wir diese Verantwortung nicht wahr, werden wir es schon bald mit einer viel grösseren Krise zu tun haben, die weit über die Grenzen Sudans hinausgeht.

Ist das nicht bereits der Fall?
Ja, ein Stück weit schon. Jeden Tag wandern tausende Flüchtlinge über die Grenzen Sudans. In Tschad, im Südsudan, in anderen Nachbarländern steigen die Bevölkerungszahlen, weitet sich die humanitäre Krise aus. Wenn wir nichts unternehmen, wird die humanitäre Krise Sudans bald eine riesige Region auf dem afrikanischen Kontinent betreffen. Das bringt Leid und Instabilität über Millionen von Menschen.

Diese Länder und Parteien sind mit dem Krieg in Sudan verstrickt
Das Nachbarland Ägypten unterhält enge Beziehungen mit den sudanesischen Streitkräften (SAF). Dies einerseits als Überbleibsel der Zeit vor 1956, als Sudan noch unter der Kontrolle von Ägypten und Grossbritannien lag. Andererseits, um sich gegen Äthiopien zu verbünden. Der Grund: Äthiopien baut einen massiven Staudamm für den Nil. Damit droht Sudan und Ägypten eine ihrer wichtigsten Süsswasserquellen auszugehen.
Ebenfalls in den Krieg zwischen den SAF und RSF verwickelt sind die Vereinten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, die enge Beziehungen mit den paramilitärischen RSF pflegen. Die RSF entsenden Tausende Kämpfer, um die beiden Länder im Krieg im Jemen gegen die von Iran unterstützten Huthi-Rebellen zu unterstützen. Gemäss der UNO unterstützen die Emirate im Gegenzug die RSF mit versteckten Waffenlieferungen, was die Emirate öffentlich bestreiten.
Sudan ist aber auch Schauplatz von Machtkämpfen zwischen dem Westen, also Europa und den USA, und den Grossmächten Russland und China. Dies einerseits wegen seiner Bodenschätze, darunter Erdöl, Erdgas und Gold. Andererseits stellt Sudan einen wichtigen Punkt auf der Handelsroute von Rohstoffen nach Europa dar.
Vor allem auf Druck der USA kam es zu Friedensverhandlungen und schliesslich 2011 zur Unabhängigkeit Südsudans von Sudan. Die Schweiz fungierte in diesen Verhandlungen als neutrale Vermittlerin. Durch die Abspaltung gelangten 75 Prozent der Ölressourcen in südsudanesischen Besitz. Der deutsche Historiker und Politologe Jürgen Wagner geht davon aus, dass die Abspaltung Südsudans im Interesse des Westens lag. Denn US-amerikanische, kanadische, schwedische, französische und österreichische Ölkonzerne profitierten davon. Nach öffentlicher Kritik verkauften zahlreiche westliche Ölkonzerne ihre Konzessionen für Erdöl und Erdgas – und zwar an Konzerne in Indien, Malaysia und China. Heute gehört China zu den grössten Erdölabnehmern der Region sowie zu den grössten Investoren in die sudanesische Infrastruktur, was Teil der chinesischen Strategie ist, seinen Einfluss in Afrika auszuweiten.
Auch Russland will einen Teil vom Kuchen und pflegt Beziehungen zu den RSF und SAF. Seit 2017 ist die russische Söldnertruppe Wagner in Sudan aktiv und sicherte sich von den RSF die Schürfrechte an Goldminen. Dieses Gold bedeutet für Russland eine wichtige Einnahmequelle angesichts des teuren und mit Sanktionen verbundenen Ukrainekriegs. Im Frühling 2024 gab zudem ein Sprecher der SAF bekannt, dass Russland und die SAF demnächst eine Reihe militärischer und wirtschaftlicher Abkommen unterzeichnen werden. Darunter befindet sich ein Abkommen, das Russland zusichert, in Port Sudan, einem strategisch wichtigen Hafen am Roten Meer, eine russische Marinebasis aufbauen zu können.
Die Friedenskonferenz in Genf diesen Mittwoch ist auf Initiative der USA zustande gekommen. Für die USA ist Stabilität in Sudan auch von sicherheitspolitischem Interesse. Denn unter dem vorangehenden Machthaber Sudans, Omar al-Bashir, der ein islamistisches Regime aufgebaut hatte, bot das Land verschiedenen Terrorgruppen einen sicheren Hafen. Darunter Osama bin Laden, dem Gründer der Terrorgruppe Al-Qaida.
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Massenproteste im Sudan: Präsident al-Baschir verhaftet
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Massenproteste im Sudan: Präsident al-Baschir verhaftet
Ein Bild steht für den Widerstand gegen Langzeit-Diktator Omar al-Baschir. Die 22-jährige Alaa Salah peitscht die Demonstranten an.
quelle: lana haroun/@lana_hago
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Hier werden Flüchtlinge mit offenen Armen aufgenommen
Video: srf
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53 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Laborant
11.06.2025 20:49registriert November 2019
Was halt im Grossen und Ganzen nicht hilft ist, dass Afrika als ganzes seit ich denken kann, ein gewaltiger Empfangstopf für Hilfsgelder ist, ohne dass sich je etwas spürbar verbessert. Sobald irgendwo ein besseres Infrastrukturprojekt durchgeführt wird, hat China die Finger im Spiel.
Im Kontrast dagegen steht z.B. Vietnam, welches in den 70ern noch einen erbitterten Krieg gegen die USA erleiden musste, deutlich besser da.
Vielleicht wird man in Europa einfach langsam Müde, immer das Selbe zu probieren und ein anderes Resultat zu erwarten.
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cereza
11.06.2025 20:36registriert Februar 2023
Herzlichen Dank, Frau Erol für dieses Interview. Humanitäre Krisen in Afrika interessieren leider wenig. Was im Sudan passiert, ist eine Tragödie. Da gelingt es endlich mal einer mutigen Zivilgesellschaft einen islamistischen Diktator zu stürzen und statt mehr Freiheit, gibt es Bürgerkrieg und abscheuliche Verbrechen. Wäre schön, wenn mehr Privatspenden fliessen, wenn immer mehr reiche Staaten ihre Budgets für Hilfsorganisationen kürzen. Hoffentlich trägt dieser Artikel etwas dazu bei. Neben UNICEF ist z.B. auch Ärzte ohne Grenzen im Sudan aktiv.
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Helene Adam
11.06.2025 21:11registriert Dezember 2022
Und ich werde hier jetzt etwas sagen was sich ganz herzlos anhört….
Wenn man aufhören würde zu spenden….
Was würde dann wohl passieren?

Denn es gibt da eine Geschichte…

…Ein Senator im alten Rom wollte all seinen Sklaven mit einem weisses Band an den Händen markieren. Sein Berater aber sagte ihm… Nein, dass dürfen sie nicht machen. Denn wenn sie wüssten wie viele sie sind, würden sie sich erheben und ihn stürzten…
Fazit, solange diese unempathischen Machthaber wissen dass von anderswo Hilfe kommt, werden sie sich weiterhin ihre gierigen Taschen vollstopfen….
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    Sugus liegt im Sterben
    Der Protest war gross, als die Sugus-Haus-Erbin kurz vor Weihnachten 200 Mietenden kündigte. Ein halbes Jahr später ist von diesem Widerstand nichts mehr zu spüren. Eine Reportage.

    Welche drei Sugus-Häuser der Erbin Regina Bachmann gehören und welche sechs ihren Geschwistern, sieht man schon von Weitem. In den Sugus-Häusern in der Neugasse 87 bis 97 in der Stadt Zürich lebt es. Die Veloständer quellen von Fahrrädern über. Von den Balkonen hängen Lämpchen, Fähnchen, Windspiele, Pflanzen. Dort brennt eine Lampe, da hört man einen Dampfabzug, Musik, Gespräche. Menschen gehen ein und aus. Selbst zur ruhigen Mittagszeit unter der Woche.

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