Die Schweiz hat die verschiedenen Autobahnausbauprojekte abgelehnt. Der Stau verschwindet damit nicht, im Gegenteil. Der Entscheid hat auch weitreichende Folgen für das Verkehrsnetz abseits der Autobahn. In St.Gallen zum Beispiel war das Autobahnprojekt verbunden mit einem Tunnelbau, der ein geplagtes Wohnquartier vom Verkehr befreit hätte. Nun wird dort die Blechlawine weiter durchrollen.
Wie also trotz wachsender Bevölkerung und wachsenden Verkehrs Stau vermeiden? Sybille Wälty vom Wohnforum der ETH Zürich schlägt als eine der Alternativen die 10-Minuten Nachbarschaft vor.
Mit dem Nein verschwindet der Stau nicht. Welche Möglichkeiten von Stauverhinderung gibt es sonst?
Sibylle Wälty: Ein zentraler Ansatz ist die Förderung der Innenentwicklung. Diese begünstigt kurze Wege und verringert den Bedarf an Automobilität. Meine Auswertungen der Daten des Bundesamts für Statistik zeigen: Je mehr Menschen innerhalb einer 10-Minuten-Nachbarschaft wohnen, desto kleiner ist der Anteil des Autos an der Mobilität. Und desto grösser der Anteil der Fussgänger. Das bewirkt folglich trotz Bevölkerungswachstum einen Rückgang des Autoverkehrs und des CO2-Ausstosses.
Wie funktioniert Ihr Konzept der 10-Minuten-Nachbarschaft?
Viele wichtige Alltagsziele wie Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, Parks, Gesundheitsdienste, Freizeitangebote und öffentlicher Verkehr sind in maximal zehn Minuten zu Fuss oder noch schneller mit dem Velo erreichbar. Auch Arbeitsplätze sind Bestandteil des Konzepts.
Welche Alternativen gibt es sonst noch?
Zum ersten, ein intelligentes Verkehrsmanagement, das den Verkehrsfluss optimiert. Zum zweiten die Förderung von Alternativen zum Auto, wie der Ausbau von Fahrradwegen und die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs. Drittens Road Pricing. Allerdings ist Letzteres aufgrund einer Bestimmung in der Bundesverfassung nicht zulässig. Die aufgezählten Ansätze können nur eine nachhaltige Wirkung entfalten, wenn zuvor die Richt- und Nutzungspläne angepasst werden, um die Grundlagen für 10-Minuten-Nachbarschaften zu schaffen.
Lässt sich das auch in Städten und Dörfern anwenden?
Das Konzept lässt sich nicht überall umsetzen. Dafür braucht es eine bestimmte Nutzungsdichte und eine ausreichend gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Für eine erfolgreiche Umsetzung braucht es mindestens 10'000 Einwohner und Einwohnerinnen. Das ideale Verhältnis beträgt hierbei zwei Einwohner zu einem Vollbeschäftigten, in diesem Fall also bei 10'000 Einwohnern 5000 Arbeitsplätze.
Heute müssen Menschen notgedrungen an einen weiter entfernten Arbeitsplatz wechseln. Das will aber kaum jemand. Passt das zu Ihrem Konzept?
Tatsächlich können viele Menschen gar nicht umziehen, selbst wenn es beruflich notwendig wäre. Ein Hauptgrund ist der mangelnde Wohnraum an zentralen Standorten mit Arbeitsplätzen. Der wachsende Unterschied zwischen lange bestehenden Mieten und Neumietpreisen macht zudem den Wechsel in eine neue Wohnung finanziell unattraktiv oder sogar unmöglich. Hier können 10-Minuten-Nachbarschaften ein Teil der Lösung sein. Indem sie an Orten mit hoher Nachfrage nach Wohnraum auch mehr Wohnraum schaffen.
Die Menschen haben Wurzeln, einen Lebensmittelpunkt, oft mit Haus und Kindern, die wollen da nicht weg.
Auch wenn familiäre Gründe, wie die Nähe zu Grosseltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen, vielen Menschen den Umzug erschweren: Es macht dennoch einen Unterschied, ob man selbst in einer 10-Minuten-Nachbarschaft wohnen kann oder nicht. Gäbe es die, könnte eine gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr es einfacher machen, ohne Auto zur Arbeit zu gelangen.
Wegen verdichteter 10'000-Einwohner-Nachbarschaften ziehen die Menschen doch nicht von ihrem Dorf in die Stadt.
Wahrscheinlich nicht, aber darum geht es nicht. Wir haben seit der Revision des Raumplanungsgesetzes im Jahr 2014 einen Bevölkerungszuwachs von rund 750'000 Menschen. Die Schweiz wird weiter wachsen, dadurch wird Wohnraum weiter nachgefragt. Wird dieser nicht durch Verdichtung angeboten, wird es eine weitere Zersiedelung der Landschaft geben. Zudem gibt es junge Menschen aus den Dörfern, die flügge werden und in Städten nach Wohnraum suchen, der mit einer 10-Minuten-Nachbarschaft geschaffen wird.
Viele wollen aber nicht «zusammengepfercht» wohnen. Geht das Konzept nicht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei?
Die Sorge, dass Verdichtung zu einem «zusammengepferchten» Wohnen führt, ist unbegründet, wenn diese gut geplant wird. Ziel ist es, kompakte, funktionale Quartiere zu schaffen, die ausreichend Raum für Privatsphäre, Grünflächen und Lebensqualität bieten. Der kürzlich veröffentlichte Kompass Age Report zeigt, dass im Jahr 2023 die befragten Personen eine ruhige und gemütliche Wohnung bevorzugen. Die ideale Wohngegend sollte kurze Wege bieten. Dieser Wunsch bleibt auch in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft hoch. In St. Gallen gibt es zum Beispiel Mehrgenerationen-Wohnprojekte, von den gibt es aber überall zu wenige.
Insbesondere Familien wollen Platz für ihre Kinder. Bei Verdichtung ist das schwierig.
Nein, Studien zeigen, dass Kinder selbstständiger unterwegs sind, wenn sie sicher zu Fuss gehen können. Verdichtung, die den Fussverkehr fördert, kann daher gerade für Familien und jüngere Generationen von Vorteil sein, da sie mehr Unabhängigkeit und eine bessere Lebensqualität bietet.
Dichtestress führt aber nachgewiesenermassen zu gesundheitlichen Problemen.
Dichtestress kennen wir in der Schweiz hauptsächlich im Zusammenhang mit Verkehr – im Stau oder im überfüllten Zug. Die Verdichtung an sich ist nicht gesundheitsschädlich. Vielmehr entstehen Gesundheitsprobleme durch Verkehrslärm und Luftverschmutzung. Zudem ist es erwiesen, dass Zufussgehen gesundheitsfördernd wirkt, sowohl physisch als auch mental.
Dank des Denkmalschutzes werden historische Stadtbilder geschützt. Geht das auf mit einer Verdichtung der Innenstädte?
Ja, Verdichtung bedeutet nicht zwangsläufig, dass historische Stadtbilder zerstört werden müssen. Es gibt zahlreiche Beispiele, wie Neubauten, Aufstockungen und Umnutzungen harmonisch in historische Quartiere integriert werden können. So wird der Bedarf an mehr Wohnraum gedeckt, und die historische Architektur bleibt gewahrt. Das reduziert die Zersiedelung und fördert eine nachhaltige Stadtentwicklung.
Gibt es dafür Beispiele?
Ein gutes Beispiel ist Carouge, ein Stadtteil von Genf, der bereits heute eine 10-Minuten-Nachbarschaft hat. Der historische Stadtkern bleibt erhalten, während in den angrenzenden Gebieten Neubauten zusätzlichen Wohnraum erzeugen. Es gibt sogar vereinzelt Hochhäuser mit 14 bis 21 Geschossen, die das Gesamtbild der Stadt nicht übermässig dominieren. Das beweist, dass Verdichtung und Denkmalschutz nicht im Widerspruch zueinanderstehen müssen.
Was sind die grössten Hürden für die 10-Minuten-Nachbarschaft?
Zum ersten, ermöglichen die geltenden Richtpläne und Bauordnungen solche Nachbarschaften noch nicht. Zum zweiten müssen Politiker und Politikerinnen den Mut aufbringen, diese Veränderungen auch in Raumplanung und Bauordnungen einzubinden.
Wird sich das ändern?
Das föderale System der Schweiz mag zwar oft träge und kompliziert wirken, eröffnet jedoch die Möglichkeit, dass Gemeinden und Kantone mit innovativen Ideen als Vorreiter agieren können. Mit dem Projekt Resilientsy haben wir nun erste Gemeinden und einen Kanton, die mehr 10-Minuten-Nachbarschaften ermöglichen wollen. Ich hoffe, sie ziehen das gemeinsam mit der Bevölkerung bis zum Schluss durch. Meine Forschung und die heute existierenden 10-Minuten-Nachbarschaften zum Beispiel in der Stadt Zürich beim Idaplatz oder in Vevey zeigen, dass 10-Minuten-Nachbarschaften hohe Lebensqualität bieten.
Zur Arbeit fahre ich pro Woche 5x hin und wieder zurück (= 10 Fahrten Berufsverkehr), hingegen nur 1x zum Einkaufen, was ich in der Regel auf dem Heimweg von der Arbeit erledige (= 0 zusätzliche Fahrten für den Einkauf).
Heisst:
- Könnte ich einen Tag Homeoffice machen, hätte ich 2 Fahrten gespart.
- Wäre der Coop hingegen in 10 Min Gehdistanz, sparen wir keine einzige Fahrt, da ich das wie gesagt auf dem Heimweg von der Arbeit erledige.
Dann wurde das individuelle Reisen (zu) billig. Wieso zum Metzger im Ort, wenn der Discounter in der nahen Stadt günstiger ist? Wieso im lokalen Restaurant essen, wenn es einen doch nach Burger oder asiatisch gelüstet?
Das Konzept ist keine Revolution. Es scheitert daran, dass wir zu viel haben wollen und können, weil das Reisen zu günstig ist.