Schweiz
Interview

Rechts wählen und links abstimmen ist kein Widerspruch, sagt Politologe

Nationalraetin Jessica Jaccoud, SP-VD, Nationalrat Cedric Wermuth, SP-AG und Nationalraetin Jacqueline Badran, SP-ZH, von links, reagieren auf eine Hochrechnung zu den Mietrechtsvorlagen, beim Treffpu ...
Bei der SP herrschte am Sonntag Freude.Bild: keystone
Interview

«Die Bürgerlichen haben sich ins eigene Fleisch geschnitten»

Wieder stimmte die Schweiz überwiegend im Sinne der Linken und gegen den Willen von Parlament und Bundesrat. Dabei wollte das Volk 2023 ein bürgerlicheres Parlament. Wie passt das zusammen? Und politisiert unser Parlament am Volk vorbei? Politikwissenschaftler Sean Müller hat Antworten.
25.11.2024, 06:0625.11.2024, 13:38
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Das Stimmvolk sagte diesen Sonntag drei Mal zu Vorlagen Nein, die Bundesrat und Parlament unterstützt hatten: zum Autobahnausbau, zur Revision des Mietrechts bei der Untermiete und zur Revision beim Eigenbedarf. Warum glauben Sie, ist es zu diesem Resultat gekommen?
Sean Müller:
Beim Autobahnausbau haben sich die Bürgerlichen ins eigene Fleisch geschnitten. Für die Stimmbevölkerung war es schwer nachzuvollziehen, warum der Bund einerseits auf Sparkurs ist, andererseits aber 5,3 Milliarden Franken für die Autobahn übrig hat. Ebenfalls ist für viele wohl nicht aufgegangen, dass die Bürgerlichen im September bei der Biodiversitätsinitiative damit argumentiert haben, dass wichtiges Kulturland nicht verloren gehen darf. Bei der Autobahn war es dann jedoch plötzlich in Ordnung, wenn Kulturland verloren geht.

Was hat beim Nein zu den beiden Mietrechtsvorlagen den Ausschlag gegeben?
Hier konnten die rein bürgerlichen Befürworter im Abstimmungskampf nicht klar aufzeigen, warum es überhaupt Handlungsbedarf gibt. Bei der Untermiete kam hinzu, dass viele nicht nachvollziehen konnten, weshalb die Rechten, die immer gegen mehr Bürokratie und mehr Regulierung sind, plötzlich genau das forderten. Beim Eigenbedarf mobilisierten die Linken erfolgreich mit dem Argument, dass die Mieten schon jetzt zu hoch sind und stetig steigen. Das zieht auch bei rechten Wählerinnen und Wählern. Denn: Die Kaufkraftkrise ist real. Die Leute spüren tagtäglich im Portemonnaie, wie alles teurer wird.

Zusammenfassend kann man also sagen?
Die Linken haben es geschafft, weit bis ins bürgerliche Lager hinein zu überzeugen. So wie sie das in diesem Abstimmungsjahr häufig geschafft haben, beispielsweise mit der 13. AHV-Rente. 2024 ist ein Erfolgsjahr für die SP, was die Abstimmungen betrifft: In neun von 12 Abstimmungen hat eine Mehrheit genau so entschieden, wie die SP das empfohlen hatte. FDP und Mitte konnten je sechs von 12 Abstimmungen für sich entscheiden, die SVP gerade mal vier.

Zur Person
Sean Müller ist Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Lausanne. In seiner Forschung und Lehre fokussiert er sich auf Fragen zur direkten Demokratie, zum Föderalismus und zu den eidgenössischen Räten. 2020 war er Mitherausgeber der ersten umfassenden Analyse zum Ständerat, der davor politikwissenschaftlich noch nicht so ausführlich untersucht worden war wie der Nationalrat.

Ein Erfolgsjahr für die SP also. Und doch wählte das Stimmvolk Ende 2023 ein deutlich bürgerlicheres Parlament als bei den vorangehenden Wahlen. Wie passt das zusammen?
Der Entscheidungsprozess bei Wahlen und Abstimmungen ist unterschiedlich. Bei Abstimmungen hängt die Entscheidung davon ab, wie stark man persönlich von einer Vorlage betroffen ist. Bei Wahlen bestimmt man die generelle Richtung, die man sich für die Schweizer Politik wünscht. Darum ist es kein Widerspruch, wenn jemand SVP wählt, weil er gegen die Zuwanderung ist, aber bei Abstimmungen gegen die Schwächung des Mietrechts und gegen den Autobahnausbau stimmt. Von einem linken Politjahr können wir trotzdem nicht sprechen.

«In neun von 12 Abstimmungen hat eine Mehrheit genau so entschieden, wie die SP das empfohlen hatte.»

Weshalb nicht?
Weil 93 Prozent der Vorlagen, die das Parlament beschliesst, nicht vors Volk kommen. Wir stimmen also nur über die Spitze des Eisbergs ab. Die SP wählt ihre Referenden geschickt und nur da, wo sie sich auch Erfolge verspricht.

Die Nationalraetinnen Florence Brenzikofer, GP-BL, Lisa Mazzone, Praesidentin Gruene, Nationalrat Roger Nordmann, SP-VD, und Nationalraetin Brenda Tuosto, SP-VD, von links, vom Nein Komitee zum Autoba ...
Auch bei den Grünen feierte man am Sonntag, vor allem wegen des Neins zum Autobahnausbau.Bild: keystone

Trotzdem zeigte sich an diesem Abstimmungssonntag ein Trend, der schon länger zu beobachten ist: Dass sich das Volk in einem Referendum zunehmend gegen Parlamentsbeschlüsse ausspricht. Politisiert unser Parlament am Volk vorbei?
Seit es in der Schweiz das Referendum gibt, wird es im Schnitt nur bei sieben Prozent aller Beschlüsse eingelegt. Das ist auch heute noch so. Da unser Parlament heute aber deutlich mehr Änderungen beschliesst als früher, kommt es entsprechend auch zu mehr Referenden. Und weil die Erfolgschancen auch etwa gleich hoch geblieben sind, kommt es auch zu mehr Parlamentsniederlagen. Diese Zunahme allein muss also nichts bedeuten. Trotzdem habe ich in manchen Fragen meine Zweifel, ob das gegenwärtige Parlament den Volkswillen wirklich vertritt.

Bei welchen Fragen haben Sie Zweifel?
Zum Beispiel bei der Schuldenbremse. Im Parlament ist es fast schon Konsens, dass die Schweiz ein «Ausgabenproblem» hat und kein Einnahmeproblem. Selbst viele Linke akzeptieren und übernehmen diesen Sprech. In der Bevölkerung kommen Kürzungen beim Sozialstaat allerdings gar nicht gut an. Ein zweites Beispiel ist das Militär. Dass der Bund die Armeeausgaben erhöhen muss, finden von links bis rechts alle im Parlament. Bei der Bevölkerung gehört die Armee gemäss Umfragen aber ganz und gar nicht zu den grössten Prioritäten. Stattdessen sind es soziale Themen, die sie beschäftigen: Inflation, Energiekosten, die steigenden Krankenkassenprämien, die hohen Mieten. Darum glaube ich, dass das Stimmvolk anders entscheiden würde als das Parlament, wenn es darüber abstimmen könnte, wie die Mehrausgaben für das Militär finanziert werden sollen – und auch ob es diese überhaupt braucht.

Sean Müller, Politikwissenschaftler und Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne
Sean Müller, Politikwissenschaftler und Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne.Bild: zvg

Wie lautet Ihre Prognose, wie das Abstimmungsjahr 2025 verlaufen wird?
Wenn die Linken ihre jetzige Strategie fortsetzen, könnte 2025 wieder ein erfolgreiches Abstimmungsjahr für sie werden. Ihnen gelegen kommt der Rechenfehler, der dem Bund jüngst bei der Abstimmung zum Frauenrentenalter unterlaufen ist. Seither ist das Vertrauen in die Zahlen des Bundes geschwächt. Für das linksgrüne Lager ist es dadurch ein Leichtes, die Prognosen und Zahlen des Bundesrats zu diskreditieren. Beim Nein zum Autobahnausbau kam dies womöglich bereits zum Tragen: Gegenüber den Prognosen von Bundesrat Albert Röstis Departement herrschte viel Skepsis, welche die Linke befeuerte.

Kommt unsere Politik überhaupt vom Fleck, wenn das Volk Beschlüsse des Parlaments und des Bundesrats immer wieder ablehnt?
Das ist eine berechtigte Frage. Wenn das Parlament das Feedback des Volks dazu nutzt, Vorlagen zu schmieden, die in beiden Lagern gut ankommen, dann schon. Das ist jetzt etwa bei der einheitlichen Finanzierung der ambulanten und stationären Behandlungen (EFAS) gelungen. Dort hat man es geschafft, auch Linke ins Boot zu holen. Wenn sich die parlamentarische Mehrheit nach solchen Referendumsabstimmungen jedoch einfach quer stellt, kommen wir tatsächlich nicht vom Fleck.

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232 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Raffaele Merminod
25.11.2024 06:28registriert Februar 2014
In anderen Ländern bestimmt oft die Mehrheitsregierung alles. Bei uns hat zum Glück das Volk das letzte Wort und kann die Machthabenden in die Schranken weisen, wenn sie es übertreiben.
Für mich ist unser politisches System deutlich überlegen.
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Schoggistängel
25.11.2024 06:10registriert April 2021
Das kann vorkommen, wenn man wegen der Sache und nicht wegen der Partei und deren Parolen abstimmen geht.
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Fairness
25.11.2024 06:26registriert Dezember 2018
Im Mietrecht gibt es keinen Handlungsbedarf. Punkt. Der Autobahnausbau wurde einmal mehr überladen und wäre am Ende wohl fast doppelt so teuer geworden. Bei Efas werden wir, wenn dann die Kantone nicht mehr übernehmen wollen, mit den Kosten für die Langzeitpflege gewaltig erschrecken.
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