Das Stimmvolk sagte diesen Sonntag drei Mal zu Vorlagen Nein, die Bundesrat und Parlament unterstützt hatten: zum Autobahnausbau, zur Revision des Mietrechts bei der Untermiete und zur Revision beim Eigenbedarf. Warum glauben Sie, ist es zu diesem Resultat gekommen?
Sean Müller: Beim Autobahnausbau haben sich die Bürgerlichen ins eigene Fleisch geschnitten. Für die Stimmbevölkerung war es schwer nachzuvollziehen, warum der Bund einerseits auf Sparkurs ist, andererseits aber 5,3 Milliarden Franken für die Autobahn übrig hat. Ebenfalls ist für viele wohl nicht aufgegangen, dass die Bürgerlichen im September bei der Biodiversitätsinitiative damit argumentiert haben, dass wichtiges Kulturland nicht verloren gehen darf. Bei der Autobahn war es dann jedoch plötzlich in Ordnung, wenn Kulturland verloren geht.
Was hat beim Nein zu den beiden Mietrechtsvorlagen den Ausschlag gegeben?
Hier konnten die rein bürgerlichen Befürworter im Abstimmungskampf nicht klar aufzeigen, warum es überhaupt Handlungsbedarf gibt. Bei der Untermiete kam hinzu, dass viele nicht nachvollziehen konnten, weshalb die Rechten, die immer gegen mehr Bürokratie und mehr Regulierung sind, plötzlich genau das forderten. Beim Eigenbedarf mobilisierten die Linken erfolgreich mit dem Argument, dass die Mieten schon jetzt zu hoch sind und stetig steigen. Das zieht auch bei rechten Wählerinnen und Wählern. Denn: Die Kaufkraftkrise ist real. Die Leute spüren tagtäglich im Portemonnaie, wie alles teurer wird.
Zusammenfassend kann man also sagen?
Die Linken haben es geschafft, weit bis ins bürgerliche Lager hinein zu überzeugen. So wie sie das in diesem Abstimmungsjahr häufig geschafft haben, beispielsweise mit der 13. AHV-Rente. 2024 ist ein Erfolgsjahr für die SP, was die Abstimmungen betrifft: In neun von 12 Abstimmungen hat eine Mehrheit genau so entschieden, wie die SP das empfohlen hatte. FDP und Mitte konnten je sechs von 12 Abstimmungen für sich entscheiden, die SVP gerade mal vier.
Ein Erfolgsjahr für die SP also. Und doch wählte das Stimmvolk Ende 2023 ein deutlich bürgerlicheres Parlament als bei den vorangehenden Wahlen. Wie passt das zusammen?
Der Entscheidungsprozess bei Wahlen und Abstimmungen ist unterschiedlich. Bei Abstimmungen hängt die Entscheidung davon ab, wie stark man persönlich von einer Vorlage betroffen ist. Bei Wahlen bestimmt man die generelle Richtung, die man sich für die Schweizer Politik wünscht. Darum ist es kein Widerspruch, wenn jemand SVP wählt, weil er gegen die Zuwanderung ist, aber bei Abstimmungen gegen die Schwächung des Mietrechts und gegen den Autobahnausbau stimmt. Von einem linken Politjahr können wir trotzdem nicht sprechen.
Weshalb nicht?
Weil 93 Prozent der Vorlagen, die das Parlament beschliesst, nicht vors Volk kommen. Wir stimmen also nur über die Spitze des Eisbergs ab. Die SP wählt ihre Referenden geschickt und nur da, wo sie sich auch Erfolge verspricht.
Trotzdem zeigte sich an diesem Abstimmungssonntag ein Trend, der schon länger zu beobachten ist: Dass sich das Volk in einem Referendum zunehmend gegen Parlamentsbeschlüsse ausspricht. Politisiert unser Parlament am Volk vorbei?
Seit es in der Schweiz das Referendum gibt, wird es im Schnitt nur bei sieben Prozent aller Beschlüsse eingelegt. Das ist auch heute noch so. Da unser Parlament heute aber deutlich mehr Änderungen beschliesst als früher, kommt es entsprechend auch zu mehr Referenden. Und weil die Erfolgschancen auch etwa gleich hoch geblieben sind, kommt es auch zu mehr Parlamentsniederlagen. Diese Zunahme allein muss also nichts bedeuten. Trotzdem habe ich in manchen Fragen meine Zweifel, ob das gegenwärtige Parlament den Volkswillen wirklich vertritt.
Bei welchen Fragen haben Sie Zweifel?
Zum Beispiel bei der Schuldenbremse. Im Parlament ist es fast schon Konsens, dass die Schweiz ein «Ausgabenproblem» hat und kein Einnahmeproblem. Selbst viele Linke akzeptieren und übernehmen diesen Sprech. In der Bevölkerung kommen Kürzungen beim Sozialstaat allerdings gar nicht gut an. Ein zweites Beispiel ist das Militär. Dass der Bund die Armeeausgaben erhöhen muss, finden von links bis rechts alle im Parlament. Bei der Bevölkerung gehört die Armee gemäss Umfragen aber ganz und gar nicht zu den grössten Prioritäten. Stattdessen sind es soziale Themen, die sie beschäftigen: Inflation, Energiekosten, die steigenden Krankenkassenprämien, die hohen Mieten. Darum glaube ich, dass das Stimmvolk anders entscheiden würde als das Parlament, wenn es darüber abstimmen könnte, wie die Mehrausgaben für das Militär finanziert werden sollen – und auch ob es diese überhaupt braucht.
Wie lautet Ihre Prognose, wie das Abstimmungsjahr 2025 verlaufen wird?
Wenn die Linken ihre jetzige Strategie fortsetzen, könnte 2025 wieder ein erfolgreiches Abstimmungsjahr für sie werden. Ihnen gelegen kommt der Rechenfehler, der dem Bund jüngst bei der Abstimmung zum Frauenrentenalter unterlaufen ist. Seither ist das Vertrauen in die Zahlen des Bundes geschwächt. Für das linksgrüne Lager ist es dadurch ein Leichtes, die Prognosen und Zahlen des Bundesrats zu diskreditieren. Beim Nein zum Autobahnausbau kam dies womöglich bereits zum Tragen: Gegenüber den Prognosen von Bundesrat Albert Röstis Departement herrschte viel Skepsis, welche die Linke befeuerte.
Kommt unsere Politik überhaupt vom Fleck, wenn das Volk Beschlüsse des Parlaments und des Bundesrats immer wieder ablehnt?
Das ist eine berechtigte Frage. Wenn das Parlament das Feedback des Volks dazu nutzt, Vorlagen zu schmieden, die in beiden Lagern gut ankommen, dann schon. Das ist jetzt etwa bei der einheitlichen Finanzierung der ambulanten und stationären Behandlungen (EFAS) gelungen. Dort hat man es geschafft, auch Linke ins Boot zu holen. Wenn sich die parlamentarische Mehrheit nach solchen Referendumsabstimmungen jedoch einfach quer stellt, kommen wir tatsächlich nicht vom Fleck.
Für mich ist unser politisches System deutlich überlegen.