Sie müssen anschaffen, auf dem Bau oder in der Gastronomie schuften: Menschen, die Opfer von Menschenhandel wurden. Die Täter und Täterinnen lockten sie mit dem Versprechen auf ein besseres Leben in die Schweiz, um sie hier auszubeuten. Suchen sie Schutz, kommen sie oft bei der FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration unter. Die Organisation betreibt ein entsprechendes Opferschutzprogramm. Dazu gehören sichere Wohnungen.
Immer mehr Betroffene von Menschenhandel nutzen diese Schutzunterkünfte. Insgesamt 51 Personen verbrachten im vergangenen Jahr zusammengerechnet 5677 Nächte in den sicheren Wohnungen. Das entspricht einer Zunahme von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Sozialarbeiterin Laura Miotti kümmert sich um die Betroffenen. Im Gespräch gewährt sie Einblicke in den Schutzort jener Menschen, die in der Schweiz wie Ware behandelt und ihrer Rechte beraubt wurden.
Die Nachfrage nach Schutzunterkünften für Opfer von Menschenhandel hat stark zugenommen. Wer sucht bei Ihnen Sicherheit?
Laura Miotti: Das ist äusserst unterschiedlich. Zu uns kommen Personen aller Geschlechter, verschiedener Nationalitäten und Altersgruppen. Einzig Minderjährige betreuen wir nicht, weil wir die strukturellen Voraussetzungen für ihre sichere Unterbringung nicht erfüllen. Menschenhandel kommt in verschiedenen Branchen vor. Wir betreuen Betroffene, die unter anderem in der Baubranche, in der Gastronomie, in der Care-Arbeit, in der Sexarbeit oder in Nagelstudios ausgebeutet worden sind.
Wie gelangen die Schutzsuchenden zu Ihnen?
Die meisten werden von der Polizei überwiesen, mit welcher wir eng zusammenarbeiten. Auch Fachstellen wie solche für Sexarbeit identifizieren manchmal potenzielle Opfer. Selten ruft auch ein Freier an. Es ist zudem möglich, dass Opfer direkt zu uns kommen. Aufgrund des enormen Abhängigkeitsverhältnisses und der fehlenden Kenntnisse der Sprache und des hiesigen Systems gelingt das aber nur ganz wenigen.
In welcher Verfassung kommen die Schutzsuchenden bei Ihnen an?
Was wir allgemein feststellen, ist eine grosse Erschöpfung. Oft sind die Personen aufgrund der Ausbeutung stark traumatisiert. Zu Beginn müssen wir daher darauf achten, dass sie grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Essen und Schlafen wahrnehmen. Wir leisten Stabilisierungsarbeit und verweisen sie an psychiatrisches oder medizinisches Fachpersonal.
Wie sieht ein Tagesablauf in einer sicheren Wohnung aus?
Unser Team besteht aus Betreuerinnen und Beraterinnen. Letztere kümmern sich unter anderem um die Strafverfahren oder die finanziellen Angelegenheiten unserer Klientel. Wir Betreuerinnen sind tagsüber vor Ort in den Schutzunterkünften präsent, begleiten die Schutzsuchenden durch ihren Alltag sowie an ihre externen Termine. Nachts und übers Wochenende sind wir im Pikettdienst erreichbar.
Wie stellen Sie sicher, dass Täter und Täterinnen die Opfer nicht finden?
Die Adressen unserer Schutzunterkünfte müssen anonym behandelt werden. Auch unsere Klientinnen und Klienten dürfen diese nie preisgeben – das ist eine eiserne Regel. Zudem stellen wir sichere Telefone zur Verfügung, die nicht von der Täterschaft geortet werden können. Wir sperren allerdings die Menschen nicht ein, das waren sie ja bereits zuvor.
Wie viele Personen leben in einer Schutzwohnung?
Die Wohnungen sind unterschiedlich gross. Entsprechend wohnen zwischen zwei und fünf Personen zusammen. Einige bleiben über Jahre, andere bloss wenige Tage. Wir haben sehr viel Klientel aus Drittstaaten. Die einzige Möglichkeit, in der Schweiz zu bleiben, besteht für sie darin, dass sie eine Aussage machen und sich auf ein Strafverfahren einlassen. Mindestens solange dieses läuft, dürfen sie in der Schweiz – und somit bei uns – bleiben.
Und danach?
Menschen aus EU- oder Efta-Staaten können, wenn sie wollen, in der Schweiz einen Job mit einigermassen anständigen Arbeitsbedingungen suchen. Bei Drittstaatsangehörigen ist in vielen Fällen ein Härtefallgesuch nötig. Nicht immer ist das erfolgreich. Wir hatten auch schon Fälle, bei denen die Personen trotz Aussage und Verfahren wieder zurück ins Herkunftsland mussten. Zeichnet sich ein Langzeitaufenthalt wegen eines langwierigen Verfahrens bei uns ab, leiten wir umgehend Deutsch- und Integrationskurse ein. Dadurch verbessern sich die Aussichten für unsere Klientinnen und Klienten, später in der Schweiz Fuss zu fassen, wenn sie das möchten.
Die FIZ hat anlässlich der Jahreszahlen darauf hingewiesen, dass die Fälle komplexer wurden. Wie zeigt sich das konkret für Sie?
Auf der einen Seite hatten wir in den letzten Jahren einen starken Fallzuwachs im stationären Setting. Vermehrt suchen auch Männer Schutz bei uns. Das hat uns herausgefordert, akkurate Konstellationen in den Wohnungen zu finden, die für alle passen. Wir achten etwa darauf, die Geschlechter getrennt unterzubringen. Auf der anderen Seite sind die individuellen Fälle komplexer geworden. So sind wir unter anderem konfrontiert mit psychischen Krankheiten, oft posttraumatischen Belastungsstörungen, aber auch körperlichen Beschwerden, die teilweise durch die Ausbeutungssituation ausgelöst worden sind. Was wir zudem feststellen, ist eine Zunahme von Suchterkrankungen, die in der Ausbeutung ihren Anfang nahmen.
Initiiert durch die Täterschaft, um die Abhängigkeit zusätzlich zu verschärfen?
Es gibt einzelne Fälle, in denen die Betroffenen zum Konsum verleitet wurden, um sie gefügiger zu machen. Aber meistens begannen unsere Klientinnen und Klienten mit dem Konsum von Suchtmitteln, um ihre Situation kurzfristig etwas erträglicher zu machen.
Weshalb suchen vermehrt auch Männer bei Ihnen Schutz?
Den Anstieg kann ich mir nicht genau erklären. Es könnte mit einer gesellschaftlichen Sensibilisierung zusammenhängen, dass es auch vulnerable Männer gibt, aber das ist nur eine Vermutung.
Aus welchen Branchen kommen die Männer?
Wir betreuen Betroffene, die unter anderem in der Baubranche und in der Gastronomie ausgebeutet wurden, andere in der Sexarbeit.
Die Gastronomie gilt als ein Ort des Austausches. Es überrascht, dass es auch dort Opfer von Menschenhandel gibt.
Gastronomie ist eine prekarisierte Arbeitsbranche, auch für Nichtbetroffene von Menschenhandel. Seit ich bei der FIZ arbeite und weiss, wo Menschen überall ausgebeutet werden, gehe ich anders durch die Welt. Komme ich an einem Nagelstudio, einer Baustelle oder einem Restaurant vorbei, frage ich mich oft, ob dort Menschen arbeiten, die unter falschen Versprechungen in die Schweiz gelockt wurden.
Weshalb gelingt es Opfern von Menschenhandel fast nie, sich selber zu befreien, indem sie etwa von der Baustelle oder dem Restaurant weggehen?
Die Täter und Täterinnen haben ihnen die Papiere abgenommen und setzen sie unter Druck, weil beispielsweise Reisekosten noch offen sind. Häufig wird die Familie zudem als Druckmittel missbraucht. Die Täterschaft droht im Falle einer Anzeige oft, das Opfer oder dessen Angehörige umzubringen. Es sind massive Drohungen, und man darf nicht vergessen, dass die Beziehungen der Täterschaft bis in die Herkunftsländer der Opfer reichen.
Wie gelingt es, dass einige Opfer dennoch die Täter und Täterinnen anzeigen?
In der Regel hat die Polizei zuvor eine Razzia durchgeführt und die Opfer aufgegriffen. Wer sich danach entscheidet, zu uns zu kommen, macht dies meistens aus purer Erschöpfung oder aus einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Letztere ringen sich eher durch, die Täterschaft zur Rechenschaft zu ziehen.
Gibt es Möglichkeiten, potenziell gefährdete Angehörige in den Herkunftsländern – wie etwa Kinder der Opfer – zu schützen?
Wir können leider nicht sehr viel machen, ausser unsere Klientinnen und unsere Klienten sowie deren Angehörige auf Sicherheitsmassnahmen hinzuweisen. Es gibt ganz vereinzelt internationale Zusammenarbeiten mit Strafverfolgungsbehörden, aber wir können beispielsweise nicht einfach ausländische Behörden informieren und sie bitten, Angehörige zu schützen. Das ist das grosse Leiden, das die Menschen aushalten müssen, wenn sie bei uns Schutz gefunden haben.
Gibt es einen Fall, der Sie nie mehr losgelassen hat?
Ja, viele. Wir haben tagtäglich mit äusserst prekären Lebenslagen zu tun und sind mit menschlichen Abgründen konfrontiert. Beides lässt mich nicht kalt. Was mich am meisten mitnimmt, ist die Systemohnmacht. Wir können unsere Klientinnen und Klienten zwar individuell unterstützen und stabilisieren, aber gegenüber der Ungerechtigkeit der Welt fühlen wir uns machtlos.
Also Augen auf lieber Freier. Wenn du nicht ein Vollpflock bist, wirst du hoffentlich merken, wenn etwas krumm läuft. Und dann kostet es ja nichts, die Dame wenigstens mal auf das Angebot der FIZ hinzuweisen.