Schweiz
Interview

Mykoplasmen-Infektionen nehmen in der Schweiz derzeit stark zu

Mykoplasmen können zu Unwohlsein, Husten, Fieber und in seltenen Fällen zu einer Lungenentzündung führen.
Mykoplasmen können zu Unwohlsein, Husten, Fieber und in seltenen Fällen zu einer Lungenentzündung führen.Bild: Shutterstock
Interview

«Wir beobachten, dass Mykoplasmen-Infektionen spürbar zunehmen»

Atemwegserkrankungen aufgrund von Mykoplasmen-Infektionen nehmen in der Schweiz derzeit stark zu. Das zeigt eine neue Studie. Der Schweizer Infektiologe und Studienleiter Dr. Patrick Meyer Sauteur warnt jedoch vor Panikmache und erklärt, warum die Spitäler bislang damit umgehen können.
24.11.2023, 18:2524.11.2023, 20:21
Ralph Steiner
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Im kommenden März wird es bereits vier Jahre her sein, seit der Bundesrat unser Land in einen Lockdown versetzt hat. Danach folgten diverse weitere Massnahmen, bis die Schweiz Anfang April 2022 von der besonderen wieder in die normale Lage überging.

Eine der Folgen der zahlreichen Hygiene-Massnahmen: Nicht nur Ansteckungen mit dem Coronavirus, auch alle anderen Infektionen gingen stark zurück. Doch diese Zeit ist vorbei. Wie eine im Fachjournal «The Lancet Microbe» veröffentlichte Studie zeigt, treten sogenannte Mykoplasmen – ein «atypisches» Bakterium – derzeit wieder verstärkt auf.

Dr. Patrick Meyer Sauteur ist Infektiologe am Kinderspital Zürich und Leiter der Studie. Er hat uns die wichtigsten Fragen beantwortet.

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Zur Person
Dr. med. Patrick M. Meyer Sauteur ist Oberarzt mbF für Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital Zürich. Ausserdem ist er Forschungsgruppenleiter für Labor- und klinische Forschung. Er besitzt einen Facharzttitel in Infektiologie und einen für Kinder- und Jugendmedizin.

Was sind Mykoplasmen?
Patrick Meyer Sauteur: Mykoplasmen sind – bei Kindern schon lange bekannt – eine der häufigsten bakteriellen Ursachen für Lungenentzündungen. In den allermeisten Fällen ist eine Hospitalisierung jedoch nicht nötig, wir als Spital bekommen diese Erkrankungen dann auch gar nicht mit, das regeln die Hausärzte hervorragend. Das ist auch bei der jetzigen Zunahme der Fall. Viele Patientinnen und Patienten können ambulant behandelt werden.

Sind auch Erwachsene betroffen?
Mykoplasmen sind bei Kindern häufiger als bei Erwachsenen, doch auch sie können betroffen sein. Aktuell verzeichnen wir bei unserer Erfassung auch viele Infektionen bei Erwachsenen.

Durch welche Symptome äussert sich eine Infektion mit Mykoplasmen?
Es handelt sich bei Mykoplasmen generell nicht um eine Infektion, bei der ein Kind innert wenigen Tagen schwer krank wird und direkt hospitalisiert werden muss. Die Symptome äussern sich über Tage, man fühlt sich ein bisschen angeschlagen, hat Husten, eventuell auch Fieber. In vielen Fällen erholen sich Betroffene von selbst wieder. Es kann jedoch auch sein, dass eine erkrankte Person ins Spital muss. Es handelt sich aber nicht um einen fulminanten (plötzlich, schnell, schwerwiegend, Anm. d. Red.) Krankheitsverlauf.

«Es handelt sich bei Mykoplasmen nicht um eine Infektion, bei der ein Kind innert wenigen Tagen schwer krank wird und direkt hospitalisiert werden muss.»

Inwiefern haben die Corona-Massnahmen dazu geführt, dass dieser Erreger eine längere Zeit nicht mehr auftrat?
Es sind fast alle Erreger durch die Corona-Massnahmen verschwunden. Einzelne davon kamen dann früher zurück, beispielsweise das RS-Virus oder im vergangenen Winter die Häufung von Gruppe-A-Streptokokken, die Scharlach oder Angina verursachen können. Die Mykoplasmen sind bezogen auf ihr Wachstum sehr anspruchsvoll und vermehren sich viel langsamer, eine Übertragung braucht intensiveren Kontakt als bei anderen Erregern, einmal husten reicht da kaum. Wahrscheinlich sind die Mykoplasmen deswegen erst jetzt zurückgekommen.

Das Studiendesign
Patrick Meyer Sauteur und weitere Mediziner haben für die Überwachung von Mykoplasmen-Infektionen ein internationales Forschungsnetzwerk aufgebaut. Dieses hat weltweit diverse Institute, die auf Mykoplasmen testen, für Daten angefragt.

Der Aufwand für diese Überwachungsstudie sei riesig, der Ansatz aber sehr innovativ, weil viele Zentren rekrutiert werden konnten, die ihre Daten überliefern, sagt Dr. Patrick Meyer Sauteur. «Wir publizieren unsere Zahlen jeden Monat neu. Diese Echtzeiterfassung ist aus mikrobiologischer Sicht sehr interessant.»

Die Studie beinhaltet Daten von 45 Instituten in 24 Ländern in Amerika, Asien, Europa und Ozeanien. In Asien und Europa haben sich bislang deutlich mehr Menschen mit dem Bakterium infiziert.

Wieso spielen die Corona-Massnahmen eine solch relevante Rolle? Die waren in der Schweiz ja viel weniger stark ausgeprägt als zum Beispiel in China?
Es hat aber dennoch gereicht, all diese Erreger zu verdrängen. Den stärksten Einfluss hatte vermutlich das Tragen von Atemschutzmasken, das wurde auch in der Schweiz relativ lange konsequent durchgeführt. Hinzu kommen weitere Hygiene-Massnahmen wie Händewaschen, Abstandhalten etc.

Gibt es noch weitere Erreger, die aktuell vermehrt auftreten? Oder weshalb liegt der Fokus nun so stark auf den Mykoplasmen?
Dass im Moment die Mykoplasmen im Fokus sind, liegt ausschliesslich am Zeitpunkt. Erkrankungen wie Lungenentzündungen treten im Moment vermehrt auf. Wir beobachten, dass seit Ende Sommer / Anfang Herbst Mykoplasmen-Infektionen spürbar zunehmen. Im vergangenen Jahr war das bereits bei Gruppe-A-Streptokokken der Fall und dort gab es verglichen mit den Mykoplasmen weit schwerere Verläufe, die lebensgefährlich sein können. Schwere Verläufe bei den Mykoplasmen sind hingegen äusserst selten.

«Wir beobachten, dass seit Ende Sommer / Anfang Herbst Mykoplasmen-Infektionen spürbar zunehmen.»

Kann es sein, dass in drei Monaten niemand mehr ein Wort über Mykoplasmen verliert?
Vielleicht die Medien, für uns Mediziner in den Spitälern und Praxen sind sie immer ein Thema. Es ist eine häufige und relevante Infektionskrankheit bei Kindern und Erwachsenen. Im nächsten Sommer starten wir zum Beispiel eine Studie, bei der wir analysieren, ob es bei milden Verläufen solcher Infektionen überhaupt Antibiotika braucht.

Wie sieht die geografische Verteilung der Fälle aus?
In Asien gab es schon immer mehr Infektionen, die durch Mykoplasmen verursacht werden. Wir verstehen aber nicht, weshalb dies so ist. Was die aktuelle Häufung in China betrifft: Da handelt es sich oft um einzelne Berichte von Agenturen, von Ärzten, die von Mykoplasmen-Lungenerkrankungen berichten. In unserer Überwachung ist China leider nicht dabei. Deswegen kann ich selber zu China nichts sagen, das wäre Spekulation.

Keine neuen unbekannten Krankheitserreger aus China gemeldet
Nach der ungewöhnlichen Häufung von Atemwegserkrankungen bei Kindern in China hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach Rücksprache mit chinesischen Behörden vorerst Entwarnung gegeben. Die chinesische Gesundheitsbehörde habe betont, dass sie keine ungewöhnlichen oder neuen Krankheitserreger oder ungewöhnliche Krankheitsbilder entdeckt habe, berichtete die WHO.

Die Erkrankungen gingen auf mehrere bekannte Atemwegserreger zurück, darunter Rhinoviren, RSV und Mykoplasmen-Infektionen, berichteten die chinesischen Behörden der WHO. Weil die Mykoplasmen zellwandlos sind, haben sie eine Resistenz gegen bestimmte Antibiotika, können nach Angaben der WHO mit anderen Antibiotika aber problemlos behandelt werden.

Die WHO hatte Informationen von China eingefordert, nachdem eine Häufung von Atemwegserkrankungen im Norden Chinas bekannt geworden war. Medien hatten über eine Häufung nicht diagnostizierter Lungenentzündungen unter Kindern in der Region berichtet. Die Nationale Gesundheitskommission Chinas führt die Zunahme solcher Erkrankungen im Land auf die Verbreitung bekannter Erreger nach Aufhebung der Corona-Massnahmen zurück.

In Chinas sozialen Medien kursieren seit Tagen Berichte und Bilder von vollen Kinder-Krankenhäusern. Die WHO empfahl China, die Fälle weiterhin zu überwachen. (sda/dpa)

Braucht es nun wieder einen erhöhten Schutz vor Ansteckungen, wie wir dies von Corona kennen?
Wie sonst im Winter sind generelle Hygiene-Massnahmen wie regelmässiges Händewaschen, Abstandhalten und bei Unwohlsein lieber einmal mehr zu Hause zu bleiben notwendig. Mehr braucht es aber nicht. Mykoplasmen sind mit der COVID-Pandemie, was die Ansteckung und Dynamik betrifft, nicht zu vergleichen. Wie es weitergeht, weiss niemand. Es besteht aber kein Grund zur Panik.

«Mykoplasmen sind mit der COVID-Pandemie, was die Ansteckung und Dynamik betrifft, nicht zu vergleichen.»
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14 Kommentare
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Musta Makkara
24.11.2023 23:06registriert Juni 2018
Mir ist in diesem Zusammenhang ja schon ein Rätsel warum die Leute es bevorzugen, alles 2-3 Wochen einen Infekt zu haben, statt sich im ÖV und vollen Räumen einfach mal kurz das Mässgli überzuziehen... (und nein, Infektionen und unnötige Antibiotikakuren stärken das Immunsystem nicht!)
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