Eigentlich sollte das Interview in den Büros der Operation Libero an der Zürcher Langstrasse stattfinden. Doch Flavia Kleiner disponiert kurzfristig um: Es ist kein Zimmer frei. Deshalb findet das Gespräch im neuen Café Miró an der Brauerstrasse statt, das auch eine Rösterei hat. Die Operation-Libero-Räume, die gemäss «Guardian» mit Charts, Whiteboards, Timelines, Post-its und To-do-Listen vollgestopft sind, müssen wir uns vorstellen.
Frau Kleiner, hassen Sie die SVP?
Flavia Kleiner: Nein. Sicher nicht.
In der deutschen «Welt» sagten Sie einmal, SVP-Vertreter seien «nur Radaubrüder».
Das würde ich nach wie vor unterschreiben.
Die SVP ist ein rotes Tuch für Sie?
Da möchte ich unterscheiden. Es ist nicht die konservative Prägung der Partei, die ich sehr kritisch beurteile. Sondern den Radau-Aspekt blocherscher Prägung. Er hetzt die Menschen auf.
Sie persönlich wuchsen mit der SVP blocherscher Prägung auf.
Genau. Ich bin Jahrgang 1990 und kenne nichts anderes.
Die SVP befindet sich in einer schwierigen Phase. SVP-Doyen Christoph Blocher (78) hat sich stark zurückgezogen und die Partei wirkt irgendwie…
…planlos.
Wie schätzen Sie die Lage der SVP ein?
Christoph Blocher hat in den letzten 30 Jahren eine kohärente Vision für sich und die SVP entwickelt und sie für viele Politikbereiche durchdekliniert. Es ist die Vision der eigenbrötlerischen Schweiz, die international wenig bis keine Verantwortung übernimmt, ein konservatives Familienbild hat, in dem sich die Frau unterordnen muss. Sozialpolitik und sozialer Ausgleich sind Sache des Patrons, der sagt, wie die Menschen leben sollen. Doch inzwischen hat die SVP ein grosses Problem mit dieser Vision.
Weshalb?
Die strukturellen Veränderungen haben diese Blocher-Welt überholt. Und die SVP hat diese Veränderungen verschlafen. Sie hat die makropolitischen Bewegungen nicht antizipiert.
Sie denken an die Digitalisierung?
Ja. Aber auch an die Bedeutung der Klimapolitik und an das Gewicht der Europäischen Union als politische Einheit in einem massiv veränderten geopolitischen Gefüge, mit den USA, China und Russland.
Was heisst das für Sie?
Das Blocher-Gedankengut hat ausgedient. Die Dinge, welche die SVP predigt, funktionierten noch in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre, heute aber nicht mehr. Herr Blochers politische Bilder werden immer grotesker. Sie sind aus der Zeit gefallen. Die SVP hat sich in ihren eigenen Mythen und Ideen verheddert.
Was folgern Sie daraus?
Die Zeit ist reif für eine Nach-Blocher-Ordnung. Wir müssen die Fenster im Haus Schweiz aufreissen und durchlüften. Wir haben die historische Chance, den Mythos der Unbesiegbarkeit der SVP zu brechen. Es ist überraschend, dass sie ihn überhaupt noch hat, obwohl sie fast alle Abstimmungen verlor. Eines muss man Herrn Blocher allerdings zugestehen.
Was?
Er war mit seinem Diskurs in den letzten 30 Jahren erfolgreich. Er hat eine Ideologie produziert, die über allem hing, die alles einfror. Doch das ist Geschichte. Heute muss man sagen: Christoph Blocher ist ein Verlierer. Er konnte seine Vision nicht umsetzen. Deshalb ist es in der Schweiz zu einer politischen Ebbe gekommen. Hier müssen die progressiven Kräfte nun einsteigen und das Ruder in die Hand nehmen, denn wir haben ein gewaltiges Window of Opportunity.
Sie versuchen, ein Gegenprojekt zu erarbeiten zur Blocher-SVP?
Es ist kein Gegenprojekt, sondern das Projekt für eine neue Mehrheit im Parlament, die für eine progressive, zukunftsgerichtete und offene Schweiz kämpft. Sie nimmt die Zeitenwende auf, macht vorwärts im Klimabereich, beim Generationenvertrag, bei Gleichstellung und Digitalisierung und vor allem in der Zusammenarbeit mit Europa. Sie versucht damit, ihre eigene Agenda durchzubringen. Die Agenda des Chancenlandes Schweiz.
Dazu hat Operation Libero das Projekt Wandelwahl gestartet. Wie viele Sitze müssen Sie bei den Wahlen 2019 gewinnen, damit die Mitte-Rechts-Mehrheit kippt?
Wir brauchen sechs bis neun Sitze. Dann können wir einen Befreiungsschlag schaffen und wegkommen vom Stillstand der letzten Legislatur.
Wollen Sie eine langfristige Strategie entwickeln?
Ja, wir sollten wegkommen vom Vier-Viertel-Takt der Abstimmungen, der unsere Politik umtreibt. Die fortschrittlichen Kräfte müssen sich strategischer und langfristiger ausrichten.
Dafür wollen Sie wie Blocher einen ideologischen Teppich legen?
Keinen Ideologischen. Einen Ideellen.
Läuft es auf einen Umbau des Schweizer Konsenssystems hinaus? Planen Sie ein Regierungs- und Oppositionssystem?
Nein: Ich finde das System gut. Ich denke eher an eine Chancenland-Fraktion im Parlament. Vielleicht braucht es langfristig eine neue Partei der Mitte, eine, in der verschiedene Mitteparteien zusammenfinden.
Der Zürcher FDP-Publizist Ulrich E. Gut schrieb nach der Gründung des Magazins «Republik»: «Die Schweiz ist in Bewegung. Erst Operation Libero, jetzt die ‹Republik›: Das stimmt zuversichtlich.»
Die Situation scheint auch mir extrem vielversprechend. Es war die Durchsetzungsinitiative, die eine neue Dynamik auslöste. Manchmal braucht es einen «Black Swan», einen «Schwarzen Schwan», den niemand kommen sieht.
Wer gehört zu diesem Kreis des Aufbruchs?
Spannende Ideen kommen aus Thinktanks wie Foraus oder Avenir Suisse, auch zähle ich die «Republik» dazu als interessante neue Stimme in der Medienlandschaft. Diese Akteure sind voneinander unabhängig – doch sie zeigen: Es gibt den frischen Wind.
Die Büros von Operation Libero und «Republik» liegen an der Zürcher Langstrasse keine 200 Meter voneinander entfernt.
Genau. Zusammen mit Foraus, das seine Büros bei der Hardbrücke hat, ist ein Bermuda-Dreieck entstanden (lacht). Wir bewegen uns in einem spannenden Umfeld, das aber noch vielfältiger werden soll.
Zählt auch die GLP zu diesem ideellen Kreis?
Wir haben keine engeren Verbindungen zur GLP als zu anderen Parteien. Neu ist einzig, dass sich einige Mitglieder entschieden, der GLP beizutreten – wie auch anderen Parteien.
Diese Übertritte und die Wandelwahl, mit der Sie Politiker von Parteien ausser der SVP unterstützen, zeigen: Operation Libero droht ihre «überparteiliche Strahlkraft» zu verlieren, wie Politologe Claude Longchamp sagt.
Wir arbeiteten in den Abstimmungskampagnen immer eng mit verschiedenen Parteien zusammen. Jetzt sehen wir ein strategisches Interesse für diese Zusammenarbeit, um die Vorstellungen für eine offene, chancenorientierte Schweiz zu realisieren. Und wir sehen die Gelegenheit, bei den Wahlen 2019 die Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Das ist wie bei den Navy Seals: Sie fliegen ein, führen ihre Operation durch und verschwinden wieder. Dieses Bild mag martialisch wirken. Doch es zeigt, was wir planen: Wir wollen mit unserer Intervention sechs bis neun Sitze im Parlament holen. Anders als die Navy Seals werden wir aber nicht einfach verschwinden. Wir bauen die Inhalte nachhaltig auf, die wir fördern.
Blocher sagte nach dem Nein zur Selbstbestimmungsinitiative, Organisationen wie Operation Libero seien mehr oder weniger zentral gesteuert: «Hinter ihnen steht auch Economiesuisse.»
Das sagte er mir auch ins Gesicht.
Wird Operation Libero von Economiesuisse bezahlt?
Nein. Definitiv nicht. Weder Operation Libero noch ich sind von Economiesuisse bezahlt. Ich verdiene 1170 Franken im Monat für mein 20-Prozent-Pensum bei Operation Libero. Was Herr Blocher da sagt, macht mich hässig. Er spricht den Bürgerinnen und Bürgern den eigenen Willen ab, sich für eine liberale Schweiz einzusetzen. Mit diesen Gerüchten tut er geradezu so, als ob wir von fremden Mächten gesteuert sein müssten. Das ist tendenziös.
Aus SVP-Kreisen hört man auch, die Gewerkschaft Unia zahle Geld an Operation Libero.
Auch das stimmt nicht. Aber ich weiss: Wir werden aktiv verunglimpft.
Laut dem englischen «Guardian» zählt Operation Libero 1500 Mitglieder, die jährlich 50 bis 100 Franken Mitgliederbeitrag zahlen. Und seit der Gründung haben mehr als 10'000 Spender die Bewegung unterstützt. Damit kommen Sie auf eine hohe Summe.
Wichtig zu wissen ist: 95 Prozent aller Spenden an uns liegen unter 250 Franken. Unsere Kampagnen können jeweils nur so gross werden, wie wir auch Spenden dafür erhalten. Wir konnten einige Erfolge feiern – aber es ist nicht so, dass wir im Geld schwimmen. All unsere Abrechnungen und Kampagnenbudgets sind online einsehbar. Wir gehören zu den transparentesten politischen Organisationen in diesem Land. Da lasse ich mir nicht von Herrn Blocher sagen, wir seien intransparent. Er soll zuerst seinen eigenen Laden aufräumen.
Wenn es um Europa geht, ist Economiesuisse aber ein wichtiger Partner von Operation Libero.
Das stimmt. Beim Rahmenabkommen kämpfen wir an derselben Front. Das hindert uns aber nicht daran, den Verband auch zu kritisieren.
Was soll in Sachen Rahmenabkommen geschehen?
Die Parteien wollen verhindern, dass die SVP das Abkommen zum Wahlkampf-Thema machen kann. Das frappiert mich: Wir haben Wahlen, aber niemand spricht über Europa, eines der wichtigsten Themen. Und so einige geben einen möglichst grossen Gorilla ab, sagen: «Dieser EU zeigen wir es.» Ich sehe viele Analogien zum Bankgeheimnis. Ich habe wirklich Angst, dass wir in die Autowaschanlage geraten und die Hosen herunterlassen müssen, wenn wir das Abkommen nicht bis Ende Oktober mit der alten EU-Kommission abschliessen.
Weshalb?
Weil die EU nach dem Brexit die Beziehungen mit Drittstaaten immer restriktiver handhaben wird.
Kommen Sie aufgrund Ihrer sehr guten Beziehungen nach Brüssel zu dieser Einschätzung?
Das hat vor allem mit gesundem Menschenverstand zu tun.
Wenn Sie in Brüssel sind, gehen für Sie fast alle Türen auf.
Es ist für die EU-Vertreter spannend, junge engagierte Menschen zu treffen, welche die Bedeutung des europäischen Projekts erkennen.
Wen haben Sie schon getroffen? Martin Selmayr, Ex-Generalsekretär der EU-Kommisson?
Ihn traf ich nie.
Aber EU-Chefunterhändler Christian Leffler?
Ja, ihn traf ich. Ich finde es wichtig, den Austausch zu suchen. Das sollte jeder Politiker tun. In der Schweiz wird die EU einseitig von Christoph Blocher geprägt wahrgenommen. In der Schule habe ich kaum etwas über die EU gelernt. Das führt zu grosser Skepsis und Verunsicherung.
Was erwarten Sie in der Europa-Diskussion?
Die Medien fragen mich immer wieder, ob ich für den EU-Beitritt sei. Sie stellen mir aber nie die eigentlich viel relevantere Frage: Was ist eine gute Form der Zusammenarbeit?
Wie sähe diese aus?
Der Streitschlichtungsmechanismus ist ein besonders wichtiger Mehrwert des Rahmenabkommens. Wir müssen aber alle Optionen, auch den EU-Beitritt, offen diskutieren. Souverän ist heute, wer gute völkerrechtliche Beziehungen hat. Das ist elementar für einen Kleinstaat.
Planen Sie persönlich eine Kandidatur für den Nationalrat?
Im Moment nicht. In Zukunft kann ich mir das aber vorstellen.
Wollen Sie ins Ausland?
Das kann ich mir schon vorstellen. Ich bin jetzt 28 Jahre alt, habe ein Jahr in Jerusalem gelebt, mehr noch nicht. Obwohl ich für Operation Libero fast in ganz Europa herumreise.
Ein Artikel im englischen «Guardian» fasste das Rezept zusammen, wie Sie die Rechtspopulisten schlagen: «Mit pinken Socken, viralen Videos und der eisernen Überzeugung, sie thematisch nicht entscheiden zu lassen, was wichtig ist.»
Diese Aussage hat schon etwas. Neben den konkreten Inhalten hilft eine gewisse Leichtigkeit, Verspieltheit und Witz. Sonst wird eine solche Auseinandersetzung verbittert.
Haben Sie keine Angst?
Angst vor physischer Bedrohung?
Ja. Wurden Sie schon bedroht?
Das passiert, ja. Viel besorgter als um mich selbst bin ich um die Entwicklung der liberalen Gesellschaft. Ich habe meine Masterarbeit über die 1920/30 er Jahre geschrieben.
Sie haben Angst davor, dass diese Zeit zurückkehrt?
Sagen wir es so: Ich bin sehr wachsam. Das treibt mich um.
Der «Tages-Anzeiger» schrieb, junge Frauen setzten sich verstärkt gegen Missstände zur Wehr. Sie wurden im Artikel im selben Atemzug genannt wie Sea-Watch-Captain Carola Rackete und Klima-Idol Greta Thunberg.
Das ehrt mich riesig. Gerade in der Politik sind die älteren Herren ja noch immer in der Überzahl. Dass sich immer mehr Frauen in der Öffentlichkeit engagieren, ist ermutigend.
(aargauerzeitung.ch)