Schweiz
Interview

Ex Migros Chef Fabrice Zumbrunnen über sein Gesundheitsnetzwerk

Ex-Migros-Chef meldet sich zurück: «Wir müssen aufhören, in Silos zu denken»

Fabrice Zumbrunnen expandiert mit seinem Gesundheitsnetzwerk in die Deutschschweiz. Im Interview erklärt er, wieso damit Kosten gespart werden können, er dafür aber die Daten der Patienten braucht – und er blickt auf seine Zeit bei der Migros zurück.
10.10.2025, 07:4010.10.2025, 09:38
Florence Vuichard / ch media

Fünf Jahre lang stand Fabrice Zumbrunnen an der Spitze der Migros. Nun ist er Chef der Beteiligungsgesellschaft Aevis Victoria, die rund 20 Kliniken und einige Luxushotels führt, wie etwa das «Victoria-Jungfrau» in Interlaken BE oder das «Eden au Lac» in Zürich. Der Wechsel vom Supermarktregal ans Krankenbett scheint Zumbrunnen zu behagen. «Ich habe nie versteckt, dass ich mich für Gesundheit interessiere», sagt der 55-jährige Manager, den wir im Hôpital de La Providence in Neuenburg treffen. Er verweist dabei etwa auf die Migros-Tochter Medbase, die unter seiner Ägide zur grössten Hausarztgruppe der Schweiz wurde – und die mittels «koordinierter Versorgung» hofft, das Kostenwachstum im Gesundheitswesen zu bremsen. Nun macht er bei der Aevis-Kliniktochter Swiss Medical Network unter dem Namen Viva etwas Ähnliches, nennt es aber «integrierte Versorgung».

Fabrice Zumbrunnen
Der Ex-Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen will das Gesundheitswesen neu gestalten.

Bauen Sie mit Viva nun eigentlich eine zweite Medbase-Welt auf?
Fabrice Zumbrunnen: Nein. Wir gehen viel weiter.

Inwiefern?
Das Ziel ist das gleiche: die optimale Betreuung und Koordination im Dienst der Patienten. Aber Anbieter wie Medbase konzentrieren sich auf den ambulanten Bereich. Wir schliessen den stationären Bereich mit ein, also die Spitäler. Wir müssen aufhören, in Silos zu denken und das gesamte Spektrum der Gesundheitsleistungen abdecken. Das erlaubt uns eine ganzheitliche Sicht auf den Patienten. Das interessiert mich. Das hat bisher niemand gemacht.

Wirklich?
Ja, aber jetzt werden wir kopiert. Denn was wir machen, ist gut für die Patienten. Und auch als Massnahme gegen die stark steigenden Kosten. Am besten mache ich ein Beispiel: Wir haben chronischkranke Patienten, die früher vier bis fünf Spitalaufenthalte pro Jahr brauchten. Das ist viel. Durch gezielte Prävention, rechtzeitige Untersuchungen und mit Spitalbehandlungen zu Hause konnten wir deren Aufenthaltszeit im Spital stark reduzieren – und im besten Fall gar ganz vermeiden.

Auf dem Papier wollen im Gesundheitswesen immer alle besser zusammenarbeiten, in der Realität harzt es dann.
Seit 15 Jahren sagt man mir, dass die integrierte Versorgung die Lösung sei. Auf dem Papier gibt es diese HMO-Modelle schon lange, doch sie wurden kaum je konsequent umgesetzt. Der Grund ist einfach: Unser Gesundheitssystem ist vertikal organisiert, die Kommunikation zwischen den Bereichen funktioniert nicht. Und sie wird erschwert, weil viele Menschen glauben, dass ihre Gesundheitsdaten dem Arzt gehören. Das ist falsch. Unsere Daten gehören uns selbst.

Die Menschen wollen nun mal ihre Gesundheitsdaten nicht mit allen teilen.
Sie müssen sie nicht mit allen teilen. Aber wenn sie Mitglied in unserem Viva-Netzwerk sind, das wir seit 2024 im Jurabogen in den Kantonen Jura, Neuenburg und Bern, seit 2025 im Tessin und ab 2026 auch in der Grossregion um das Regionalspital Zofingen anbieten, dann müssen sie ihre Gesundheitsdaten mit den Leistungserbringern des Netzwerks teilen.

Und sie tun es auch?
Heute haben über zwei Drittel unserer Viva-Mitglieder ihre Gesundheitsdaten mit uns geteilt, Untersuchungen gemacht und Gesundheitspläne erhalten.

medbase
Die Medbase bietet verschiedene Dienstleistungen im Gesundheitswesen an. Auch diese gehört zur Migros. (Symbolbild)Bild: medbase.ch

Warum nicht alle?
Weil wir erst 2024 gestartet sind. Aber verglichen mit 1,2 Prozent elektronischen Dossiers in der Schweiz ist das enorm. Wenn wir die Daten in einer unserer Einrichtung haben und das dafür erforderliche Einverständnis des Patienten, dann können wir sie überall nutzen. Das hilft uns, aber das bringt vor allem auch viele Vorteile für die Patienten. Wem zum Beispiel plötzlich an einem Samstag das lebenswichtige Medikament ausgeht, muss nicht in den Notfall, sondern kann unsere Hotline anrufen – und wir können es liefern. Und wer zu uns auf den Notfall kommt, muss nicht zuerst riesige Registrierungsbögen ausfüllen und unzählige unnötige Tests machen. Aber ich glaube, die Menschen teilen ihre Daten auch aus einem anderen Grund mit uns.

Und der wäre?
Sie geben ihre Daten, weil sie bei uns mit Gesundheitsfachkräften zu tun haben. Und nicht mit der Versicherung. Hier sind sie viel skeptischer.

Sie arbeiten aber bei Viva überall mit der Versicherung Visana zusammen: Sie hat 150 Millionen Franken bei Ihnen investiert, ist an ihren Kliniken beteiligt und fordert von den Viva-Versicherten, dass diese sich zuerst immer an ihren «persönlichen Ansprechpartner» wenden müssen.
Bei diesen Ansprechpartnern handelt es sich um Gesundheitskoordinatoren, die von uns und nicht von der Versicherung angestellt sind. Das ist ein grosser Unterschied. Sie kennen die Ärzte, die Abläufe und haben Zugriff auf Agenden von Spezialisten. Sie übernehmen die Verantwortung für Nachverfolgung, Terminplanung und den gesamten Behandlungspfad – auch ausserhalb unseres Netzwerks.

Sie übernehmen also die Rolle des Hausarztes?

Nein, aber sie entlasten den Hausarzt bei den administrativen Arbeiten. Der Hausarzt bleibt im Zentrum und kann seine Navigationsrolle spielen. Heute verbringt ein Arzt oft in einer 20-minütigen Konsultation rund 15 Minuten mit Administration – das demotiviert.

Sind eigentlich alle Ihre Ärzte bei Ihnen angestellt?
Nein, wir arbeiten auch mit unabhängigen Ärztinnen und Ärzten zusammen. Aber der Anteil jener, die bei uns angestellt sind, nimmt zu. Heute liegt er bei rund 30 Prozent. Unsere Ärztinnen und Ärzte tragen bei uns eine grosse Verantwortung: Sie bestimmen, was für die Viva-Mitglieder medizinisch und präventiv sinnvoll ist. Mit dem sogenannten Full-Capitation-Modell erhalten wir für jedes Viva-Mitglied eine Pauschale pro Jahr. Mit dieser Pauschale müssen alle in Anspruch genommenen Leistungen aus dem obligatorischen Leistungskatalog sowie zusätzlich sinnvolle Präventionsmassnahmen finanziert werden. Das Budget wird durch die Prämien vorgegeben, die Verantwortung liegt jedoch bei den Leistungserbringern – also bei Ärztinnen, Therapeuten und beim Pflegepersonal. Das Geld, das nicht benötigt wird, bleibt im Gesundheitsnetz; im Gegenzug müssen wir für höhere Kosten selbst aufkommen.

Wie viele Mitglieder hat Viva?
Insgesamt sind es – im Jurabogen und im Tessin – etwas über 3000.

Das ist deutlich weniger als die 10’000, die Sie ursprünglich schon im ersten Jahr wollten…
Das stimmt. Das hat Gründe. Wir müssen jede Person individuell überzeugen. Wir können nicht einfach bestehende Produkte der Visana automatisch umwandeln. Wenn wir es schaffen, die Zahl jedes Jahr zu verdoppeln, bin ich zufrieden.

Sieht es denn danach aus?
Die Zeichen stehen gut. Jetzt starten wir in der Deutschschweiz, mit einem Netzwerk rund um das Regionalspital Zofingen, das wir vor weniger als einem Jahr übernommen haben. Geografisch erstreckt sich unser neues Viva-Netzwerk über vier Kantone: Aargau, Luzern, Bern und Solothurn. Und unsere Prämien gehören zu den günstigsten.

Sie machen also M-Budget im Gesundheitswesen?
Es war nie unser Ziel, die billigsten Prämien auf dem Markt zu haben. Wir wollten attraktive Prämien, sodass der Preis kein Hindernis ist, um bei uns mitzumachen. Aber die Prämien sind nun vergleichsweise attraktiv. Sie spiegeln die realen Kosten wider. Es ist ermutigend zu sehen, dass wir bereits im ersten Viva-Jahr mit scheinbar einfachen Massnahmen 10 Prozent der Kosten einsparen konnten.

Geht für Swiss Medical Network die Rechnung auf oder ist Viva noch immer defizitär?
Im Moment ist es ein Investment. Aber es bringt viele positive Effekte für die ganze Gruppe, die ich nicht alle beziffern kann. Das Potenzial ist sehr gross, aber wir müssen noch viel lernen und es ist noch ein langer Weg.

Migros CEO Fabrice Zumbrunnen spricht an der Bilanzmedienkonferenz der Migros am Dienstag, 29. Maerz 2022 in Zuerich. (KEYSTONE/Michael Buholzer)
Fabrice Zumbrunnen hofft, Jahr für Jahr die Anzahl Patienten in seinem Gesundheitsnetzwerk Viva verdoppeln zu können.Bild: keystone

Aevis Victoria ist ein börsenkotiertes Unternehmen, das schnell Gewinn machen muss. Es gibt Aktionäre, die Dividenden wollen.
Jedes Unternehmen, ob öffentlich oder privat, muss eine ausgeglichene Rechnung haben. Aevis Victoria ist eine diversifizierte Gruppe, die sowohl im Gesundheitswesen als auch in der Hotellerie und Immobilien tätig ist und sich auf komplementäre, solide Aktivitäten stützt. Der Bereich der obligatorischen Grundversorgung ist stark reguliert, gehört aber zu unserem Auftrag im Dienste der Bevölkerung. Die neusten Zahlen der Aevis-Gruppe zeigen zudem, dass sich unsere Gesamtentwicklung positiv fortsetzt.

2024 haben Sie aber noch einen Verlust ausgewiesen.
Das bedeutet, dass wir besser werden und unsere Arbeit machen. Aber wir haben auch viele Investitionen getätigt.

Aevis Victoria ist eine ziemlich komplexe Konstruktion mit Spitälern, Hotels, Immobilien – und einer dominanten Person an der Spitze: dem Gründer, Grossaktionären und Präsidenten Antoine Hubert. Seit dem Fall René Benko wirkt diese Konstruktion gefährlich.
Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir sind eine Gruppe, die stark gewachsen ist und zuletzt nicht nur die Verschuldung reduziert, sondern auch die Rentabilität verbessert hat. Und wir pflegen eine sehr konservative Bewertung unseres gesamten Immobilienbestands. Wenn ich eine Logik der Immobilienoptimierung verfolgen würde, dann müssten wir den gesamten Gebäudebestand – insbesondere die Hotels – zu deutlich höheren Werten neu bewerten lassen.

Eine letzte kurze Frage: Haben Sie nie ein schlechtes Gewissen, wenn Sie auf die Migros zurückblicken?
Ich?

Ja. Nachdem Sie gegangen sind, mussten Ihre Nachfolger fast alles reformieren.
Dazu habe ich keinen Kommentar. Ich habe ein Unternehmen verlassen, das damals in der Schweiz den besten Ruf genoss, auf Wachstumskurs war und dessen Eigenkapital um fast 3 Milliarden gestärkt wurde. (aargauerzeitung.ch)

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29 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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ELMatador
10.10.2025 07:56registriert Februar 2020
Jemand, der dazu beigetragen hat, unsere Migros in eine solche Schieflage zu bringen, sollte keine Plattform erhalten, um sich selbst und seine aktuellen Geschäfte zu glorifizieren.

Aber evtl ist dies nur meine Einzelmeinung.
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Golden Girl
10.10.2025 08:12registriert Oktober 2021
Er hat, wie alle anderen, alles richtig gemacht 🤭🙄.

Und dann, wenn man(n) weg ist, heisst es: Dazu möchte ich nichts sagen.

Und nun gehts weiter in der Gesundheitsbranche. Weshalb wohl? Weil diese sehr lukrativ ist.
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Schlaf
10.10.2025 08:13registriert Oktober 2019
Da knallen Theorie und Praxis hart aufeinander.

Und da Theoretiker meist Tagträumer sind, wird es sehr sehr schwierig werden.
Ob dem Managergequasel durfte ich heute schon ein paar mal die Augen rollen.
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