Monika Ribar erscheint am Mittwochabend pünktlich zum Interview-Termin im Zürcher Hauptbahnhof. Auf der grossen Anzeigetafel sind kaum Züge mit Verspätungen aufgeführt. Überrascht sei sie darüber nicht, sagt die 65-Jährige – «aber immer gelingt das auch uns nicht». Das zeigte sich nur einen Tag später, als der Wintereinbruch für Verspätungen sorgte.
Wie sind Sie zu unserem Treffen gefahren? Vielleicht im Problemzug FV-Dosto?
Monika Ribar: Nein, mit der S-Bahn von zu Hause in Rüschlikon. Sonst fahre ich aber sehr oft und gerne mit dem FV-Dosto. Ich finde, es ist ein sehr schöner Zug.
Sie fühlen sich wohl in diesem Doppelstöcker?
Ich bin mir bewusst, dass es Leute gibt, die Probleme haben, wenn sie oben sitzen. Ich selbst reise in Doppelstockzügen lieber unten. Auch in der S-Bahn. (Lacht.) Es ist schade, dass noch nicht überall angekommen ist, wie gut der FV-Dosto ist. Er hat grosse Türen, was fürs Ein- und Aussteigen bei den heutigen Passagierzahlen wichtig ist. Zudem weisen die Züge ausserordentlich viele Sitzplätze auf: Ohne ihn könnten wir nicht alle Reisenden im Fernverkehr transportieren. Und der FV-Dosto ist mittlerweile der zuverlässigste Fernverkehrszug.
Das war nicht immer so. 2022 entschieden die SBB, auf das sogenannte «bogenschnelle Fahren» mit dem FV-Dosto zu verzichten. Genau das hätte Zeitgewinne ermöglicht – und war ein wichtiger Grund für die damalige Beschaffung. Nun braucht es stattdessen teure Neubaustrecken.
Der Entscheid fiel unter meiner Verantwortung. Wir haben ihn uns nicht leicht gemacht, aber er war nötig. Testfahrten zeigten, dass die sogenannte Wako-Technologie zwar funktioniert und das bogenschnelle Fahren damit technisch möglich wäre. Aber leider nicht so, dass es für Passagiere und das Personal angenehm wäre. Am Ende kamen wir in Abstimmung mit Hersteller Alstom (früher Bombardier, die Red.) zum Schluss, dass diese Technologie bei einem zweistöckigen Zug nicht praktikabel ist, auch längerfristig nicht. Es gibt heute weltweit keinen zweistöckigen Zug mit Neigetechnik.
Der Verwaltungsrat bewilligte damals den 2-Milliarden-Franken-Kauf dieses Zuges, der auf einer völlig neuen Technologie basierte. Damals war Ulrich Gygi SBB-Präsident. War die Beschaffung ein Fehler?
Nein. Wir haben dieses Geschäft ausführlich aufgearbeitet und sind zum Schluss gekommen, dass der Verwaltungsrat damals gut gearbeitet hat. Er hat externe Zweitmeinungen eingeholt, das Geschäft eng begleitet und alle relevanten Aspekte geprüft. Der heutige Verwaltungsrat ist im Vergleich zu damals vollständig neu zusammengesetzt. Als Lehre aus der Aufarbeitung hat er entschieden, keine völlig neuen Technologien mehr zu bestellen, sondern bewährte Züge als Basis zu nehmen.
Peter Füglistaler, der ehemalige Direktor des Bundesamt für Verkehr, kritisiert den SBB-Verwaltungsrat. Er sagt, er habe seine Verantwortung nicht wahrgenommen – und weil er das nicht getan habe, könne er verkleinert werden.
Bei der Komplexität der SBB sind neun Mitglieder im Verwaltungsrat richtig. Wir brauchen nur schon Spezialisten für Rechnungslegung, Risikomanagement oder Strategiebeurteilung. Im Verwaltungsrat ist eine breite Expertise gefordert und diese ist heute sichergestellt.
Nun wird die überflüssig gewordene Wako-Technologie in den Dosto-Zügen ausgebaut. Der «K-Tipp» berichtete, dass dies 250 Millionen Franken kostet. Das wäre enorm.
Die Zahl ist falsch. Die Vorarbeiten für neue Drehgestelle sind noch nicht abgeschlossen, deshalb ist eine genaue Prognose nicht möglich. Von 250 Millionen Franken sind wir aber weit entfernt. Ich weiss auch nicht, woher diese Zahl kommt. Nach aktuellen Schätzungen dürfte der Umbau einen hohen zweistelligen Millionenbetrag kosten. Alstom wird zunächst einen Zug als Prototyp umbauen. Falls er sich bewährt, werden die FV-Dosto-Züge im Rahmen der normalen Revision umgebaut. Wir gehen sogar davon aus, dass die neuen Drehgestelle wirtschaftlich sein werden, weil deren Unterhalt einfacher und dadurch günstiger wird.
Mittlerweile hat die Schweiz mit Stadler wieder einen starken heimischen Zugbauer mit breiter Produktpalette. Die Franzosen würden nie im Ausland bestellen, müssten die SBB nicht konsequent bei Stadler Züge kaufen?
Es stimmt, wir haben mit Stadler einen wettbewerbsfähigen Hersteller. Trotzdem ist der Wettbewerb wichtig. Die Zahl der Zugbauer in Europa können Sie an einer Hand abzählen. In den USA gibt es gar keinen amerikanischen Hersteller von modernen Personenzügen. Es gibt Regeln für die Auftragsvergabe, an die wir uns halten.
Nun drängen chinesische Hersteller auf den Markt, sie haben in Osteuropa schon erste Züge verkauft. Könnten die SBB bei den heutigen Submissionsregeln dereinst gezwungen sein, billige chinesische Züge zu kaufen?
Langfristig könnte dies eintreffen. Im Moment haben die europäischen Hersteller Vorteile bei der Qualität und der sogenannten Homologation, also der Zulassung der Züge in einzelnen Ländern, um die sie sich kümmern müssen. Diese ist in Europa sehr streng geregelt. Doch die Chinesen sind preislich sehr attraktiv, und es könnte sein, dass die SBB eines Tages auf chinesische Züge zurückgreifen werden – auch wenn der Preis natürlich nur ein Kriterium unter anderen ist, die wir bei einer Ausschreibung sorgfältig prüfen.
Eine grosse Rolle spielen die Kosten auch beim Bahnausbau. Sie haben mit SBB-Chef Vincent Ducrot ein Positionspapier verfasst, in dem sie zur Zurückhaltung aufrufen. Gibt die Schweiz zu viel für den Bahnausbau aus?
Nein, aber Politikerinnen und Politiker sehen oft nur die Investitionen und neue Projekte, aber nicht die Folgekosten, die diese für den Unterhalt auslösen. Die machen aber einen Grossteil der Gesamtkosten aus. In der Schweiz wird das Bahnnetz glücklicherweise gut unterhalten, im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland, wo die Rückstände grosse Probleme im Betrieb verursachen. Die jahrzehntelange Vernachlässigung der Infrastruktur wird Deutschland noch lange beschäftigen. So weit darf es bei uns nicht kommen.
Noch deutlicher warnt Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel vor dem geplanten, milliardenteuren Bahnausbau: Er geschehe aus regionalpolitischen Überlegungen und baue nicht wie die Bahn 2000 auf einem Konzept auf. Er fordert ein Moratorium. Sie auch?
Ein Stopp der Ausbauten wäre falsch. Aber bei politischen Entscheidungen ist es wichtig, zu schauen, wie die Mobilitätsbedürfnisse am besten befriedigt werden. Das System der Finanzierung des Bahnausbaus ist nach der Fabi-Abstimmung auch schon zehn Jahre alt. Um diesen Bahninfrastrukturfonds werden wir von vielen Ländern beneidet. Es hat aber auch Fehlanreize, etwa bei der Verteilung der Kostenübernahme durch Bund und Kantone. Dies zu überdenken, ist Aufgabe der Politik.
Schon 2026 kommt der nächste grosse Ausbauschritt ins Parlament. Basel und Luzern fordern milliardenschwere Ausbauten. Sollte man darauf verzichten?
Das muss die Politik entscheiden. Aber wir müssen die Gesamtkosten sehen und prüfen, ob ein sinnvolles Angebot für die Reisenden dahintersteckt. Das vergisst man derzeit teilweise. Klar, zwei Tiefbahnhöfe und ein Tunnel unter dem Vierwaldstättersee, das sind tolle Projekte. Aber sind sie für die Zukunft die richtigen? Einige Leute stellen diese Fragen, aber nicht alle.
Was finden Sie?
Die Finanzlage des Bundes hat sich verschlechtert. Der Bundesrat steht bei den Ausgaben auf die Bremse, was ich persönlich nicht falsch finde. Wir müssen deshalb genau schauen, was es wirklich braucht. Auch im Parlament wird es diese Diskussionen geben. Viele realisieren allmählich, dass Ausbauten zur Diskussion gestellt werden, die zusätzlich zu den bisherigen Planungen kommen: Passen sie wirklich in das schweizweite Konzept der künftigen Ausbauschritte? Und schöpfen sie die Möglichkeiten der Digitalisierung wirklich aus?
Sie setzen viel Hoffnung auf die Digitalisierung. Laut der Gruppe um Benedikt Weibel könnte die Zahl der Züge dank neuer Technologien ohne Ausbauten um 25 Prozent gesteigert werden. Trifft das zu?
Nein, das ist viel zu hoch gegriffen. Es muss realistisch geplant werden und nicht mit Annahmen, die im Betrieb nicht umsetzbar sind. Wo ich aber durchaus Potenzial sehe: Neue Systeme für die Planung, die Leitung und die Überwachung des Bahnverkehrs werden mehr Züge auf dem Netz ermöglichen. Für Kundinnen und Kunden sind sie oft unsichtbar, sie erleichtern aber den Betrieb und ermöglichen langfristig eine effizientere Nutzung des Netzes. Wenn wir im nächsten grossen Ausbauschritt 20 Prozent mehr Sitzplätze anbieten wollen, ist die bauliche Behebung der dringendsten Engpässe trotz Digitalisierung nötig.
Die Digitalisierung stellt alte Gewissheiten des Bahnfahrens in Frage: Einheitspreise gibt es durch Spartickets und neue Abos nicht mehr, und auch der Taktfahrplan scheint nicht mehr unverrückbar. Ausserhalb der Stosszeiten mit leeren Zügen im Takt zu fahren – ist das noch sinnvoll?
Das sind Überlegungen, die wir uns langfristig stellen müssen. Die Frage ist auch, ob wir noch überall halten müssen, wo wir es heute tun. Die SBB haben viele Bahnhöfe. Viele Stopps machen das System instabil und langsam.
Was schwebt Ihnen vor?
Indem wir mit schnellen Zügen an weniger Bahnhöfen halten, könnten wir das Reisen von Tür und zu Tür beschleunigen, wovon alle profitieren.
Sie rütteln an einem Tabu.
Wichtig ist natürlich, dass die Menschen auch bei weniger Halten in vernünftiger Zeit und mit einem vernünftigen Verkehrsmittel zum nächsten Bahnhof gelangen, das Ziel ist innerhalb von fünfzehn Minuten. Das kann zu Fuss sein, mit dem Velo, dem Auto oder vielleicht auch mal mit einem On-Demand-Bus. Wir wollen den öffentlichen Verkehr in der Schweiz weiter verbessern, von Tür zu Tür, und indem alle Verkehrsanbieter ihre Stärken ausspielen können. Die grosse Stärke der Bahn ist, viele Menschen effizient über mittlere und längere Strecken zu befördern. Das wird manchmal vergessen. Deshalb müssen wir gewisse Dinge neu denken.
Nicht nur Haltepunkte, sondern auch Schalter an den Bahnhöfen stehen auf dem Prüfstand. Die SBB haben viele davon geschlossen. Geht das nun so weiter?
Bahnhöfe spielen weiterhin eine zentrale Rolle, und wir haben auch sehr schöne Bahnhöfe, die sich sehen lassen können. Gleichzeitig geht heute fast niemand mehr für ein einfaches Billett an einen Schalter, wohl aber für persönliche Beratung. Diese können wir nicht überall gewährleisten. Es ist wie im Gesundheitswesen: Man kann nicht überall Spezialisten vorhalten. Es ergibt deshalb Sinn und ist effizienter, in grösseren Bahnhöfen Reisezentren zu haben.
Oft sind die Alternativen, etwa die App, bargeldlos. Das stört viele.
Ich selbst benutze praktisch kein Bargeld mehr. Wir wissen, dass es Personen gibt, die Bargeld nutzen wollen, und wir haben auch keine Pläne, ganz auf Bargeld zu verzichten. Aber die Öffentlichkeit und die öffentliche Hand fordern von uns zu Recht auch einen effizienten Betrieb. Deshalb wird Bargeld vielleicht nicht mehr überall möglich sein.
Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Die SBB sind nicht an der Börse – Sie können uns also verraten, welchen Gewinn oder Verlust Sie 2024 machen!
(Lacht.) Das Jahr ist noch nicht vorüber. Aktuell sieht es danach aus, dass wir etwa das Ergebnis des Vorjahres erreichen.
Das waren 267 Millionen Franken, nach drei Verlustjahren wegen Corona. Reicht das?
Langfristig reicht es nicht. Wir brauchen einen Jahresgewinn von rund 500 Millionen Franken, um alle Investitionen zu stemmen und die Verschuldung in ein gutes Verhältnis zur Ertragskraft zu bringen. Mit dem erwarteten Ergebnis für das Jahr 2024 sind wir zufrieden: Die starke Nachfrage im Personenverkehr, besonders im zweiten Halbjahr, dürfte zu einem Ergebnis führen, das unsere Erwartungen übertrifft.
Die SBB sind mit über 11 Milliarden Franken verschuldet – zu viel laut den Vorgaben des Bundes. Wie wollen Sie die Schulden abbauen?
Unsere finanzielle Lage ist angespannt. Die Pandemie hat zu einem Schuldenanstieg von 3 Milliarden Franken geführt. Die bringen wir leider nicht so einfach weg. Wir sind froh, dass der Bund einen Teil davon übernimmt. Wir selbst müssen grosse, eigene Beiträge leisten. Und wir müssen wieder höhere Gewinne schreiben, an diesem Ziel arbeiten wir.
Es gab Zeiten, da versuchten die SBB, Gewinne im Ausland zu machen. Der europäische Bahnmarkt ist liberalisiert.
Finanziell und organisatorisch ist das kaum machbar. Echten Wettbewerb gibt es fast nur auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken. Die SBB haben aber gar keine Züge, die diese befahren können, und müssten solche erst beschaffen. Zudem würden wir die gute Zusammenarbeit mit Bahnen wie der SNCF riskieren.
An einer internationalen Streckenausschreibung teilzunehmen wie einst in London, das ist nicht absehbar?
Nein. Das wäre kosten- und zeitintensiv. Zudem erwarten unsere Kundinnen und Kunden von uns primär ein gutes Angebot in der Schweiz und von der Schweiz nach Europa.
Aber die Kunden würden sich freuen, bessere Verbindungen in europäische Städte zu haben.
Die SBB bietet heute mehr als neunzig tägliche Direktverbindungen ins Ausland an. Pro Richtung. Und wir werden weiter ausbauen, unter anderem nach Italien und Deutschland. Dass die Bahn das internationale Potenzial aber nicht ausschöpft, tut mir weh. Enttäuscht bin ich vor allem von der EU. Wenn alle Bahnen einheitliche Systeme einführen würden, etwa bei der Zugsteuerung, beim Strom oder bei den Perronhöhen, könnte man völlig andere Konzepte lancieren. Das würde viele Flüge unnötig machen und dem Klimaschutz helfen.
Die meisten Flüge ab Zürich gehen nach London. Wann kommt die Direktverbindung dorthin?
Wir prüfen das derzeit. England ist ein geschlossenes System. Der Aufwand ist gross, weil etwa die Sicherheitskontrolle auf dem Niveau eines Flughafens vor dem Betreten des Zuges gemacht werden müsste. Eine Verbindung nach London müsste ohne Umsteigen möglich sein, sonst ist sie nicht attraktiv.
Ohne Umsteigen nach London, ist das realistisch?
Sonst ergibt es kaum Sinn. Ich fuhr kürzlich mit dem Zug nach Brüssel und hatte mit meinem Mann fast einen Ehekrach in Paris, weil wir in kurzer Zeit mit Gepäck den Bahnhof wechseln mussten. (Lacht.) Das kann es nicht sein. Was die Destination London betrifft, schauen wir derzeit, mit wem wir zusammenarbeiten und welche Züge eingesetzt werden könnten.
Welche Direktzüge würden sonst noch sinnvoll sein?
Funktionieren könnten Züge mit Destinationen am Mittelmeer. Es muss aber genügend Leute geben, die mit diesen Zügen fahren wollen. Wir müssen mit solchen Verbindungen Geld verdienen.
Das wird vor Ihrem Rücktritt, der für Frühling 2026 geplant ist, kaum mehr möglich sein.
Richtig.
Was wird Sie bis dahin beschäftigen?
Aktuell insbesondere die Sicherheit der Mitarbeitenden, in den Zügen, Bahnhöfen und bei der Arbeit. Wir wollen Zwischenfälle vermeiden und Unfälle möglichst kleinhalten. Wir arbeiten daran, das Bewusstsein dafür zu schärfen. Viel bewegt sich zurzeit im Güterverkehr: Wir sind daran, das Geschäftsmodell in der Schweiz neu aufzustellen. Daneben gibt es Wechsel in der Konzernleitung. Und nicht zuletzt beschäftigt mich auch die Zusammenarbeit mit der Politik: 2026 kommt die Botschaft für den nächsten Ausbauschritt ins Parlament. Es gibt noch viel zu tun. (aargauerzeitung.ch)
Also diejenigen, deren Bahnhof dann nicht mehr bedient würde, profitieren schonmal nicht.