Frau Hartmann, da geben wir uns Mühe, biologisch und fair einzukaufen. Und dann kommen Sie und verspotten umweltbewusste Konsumenten als «grüne Hedonisten». Was bringt Sie dazu?
Kathrin Hartmann: Ich verspotte niemanden, ich bin vielmehr wütend: Auf die unpolitische Haltung der urbanen, gut verdienenden Leute, die mit ein paar Bio-Lebensmitteln ihr Gewissen reinwaschen wollen. Man fliegt zweimal im Jahr in die Südsee, hat vielleicht noch ein dickes Auto – aber das geht alles in Ordnung, wenn man nur sogenannt nachhaltig einkauft. Dann muss man den eigenen Lebensstil nicht mehr infrage stellen und das System erst recht nicht.
Schauen Sie selber denn gar nicht darauf, was Sie in den Einkaufskorb legen?
Ich kaufe keine Fertigprodukte, Süsses mag ich zum Glück nicht. Aber sonst bin ich im gleichen Dilemma gefangen wie alle anderen auch. Ich sehe Bio-Tomaten aus Spanien im Supermarkt und weiss, dass die Arbeitsbedingungen der Pflückerinnen vermutlich miserabel waren. Auf dem Markt nebenan könnte ich normale Tomaten kaufen, die aus der Region München kommen – was ist nun besser?
Nicht der Einzelne sei dafür verantwortlich, dass Lebensmittel fair produziert werden, sondern die Politik. So lautet die Kernaussage Ihres Buchs «Die grüne Lüge» und des gleichnamigen Films. Machen Sie es sich damit nicht etwas einfach?
Es ist doch zynisch, dass man uns die Verantwortung zuschiebt, zwischen «guten» und «schlechten» Produkten zu wählen. Warum aber ist es erlaubt, dass schlecht produzierte Produkte dastehen? Nehmen wir die Situation in Deutschland: Wir könnten uns zu 93 Prozent selbstversorgen. Doch zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche wird für die Tierzucht genutzt, damit viel Fleisch exportiert werden kann. Dann sind wir auf Importe aus anderen Ländern angewiesen, wo die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung zerstört wird, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Nur eine politische Lösung vermag daran etwas zu ändern.
In der Schweiz kommen im September zwei Volksinitiativen an die Urne, die sich mit dieser Thematik befassen. Die Ernährungssouveränitäts-Initiative will Lebensmittel aus einheimischer Produktion stärken. Der Staat soll dazu die Bauern noch stärker unterstützen und Zölle auf Import-Lebensmittel erheben. Ist es das, was Ihnen vorschwebt?
Ernährungssouveränität ist ein grosser Hebel für globale Gerechtigkeit. Wenn Lebensmittel vor Ort nach den Bedürfnissen der Gesellschaft produziert werden, dann rücken ökologische und soziale Kriterien in den Fokus. Davon profitieren die Menschen – und nicht mehr die grossen Konzerne.
Die zweite Initiative verlangt unter dem Titel «Fair Food», dass alle Lebensmittel – einheimische und importierte –, gewisse Mindeststandards erfüllen müssen. Was halten Sie davon?
Das kommt darauf an, wer die Mindeststandards definiert und wie sie geprüft werden. Es gibt sehr viele Gütesiegel, die komplett wertlos sind. Manche davon hat die Industrie selber initiiert, um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Hersteller verwenden dann ein Etikett mit einem grünen Frosch, um den Konsumenten das gute Gefühl zu geben: «Hey, wir kümmern uns um die Kleinbauern!» Und um den Politikern zu signalisieren: «Ihr müsst uns nicht regulieren, wir machen das schon selber.» Und natürlich ist das auch eine Image-Politur nach innen, damit man weiter gutes Personal frisch von der Uni bekommt.
Im Fall von «Fair Food» soll es aber die Politik sein, die die Regeln für die Lebensmittel-Produktion künftig festlegt.
Prinzipiell gut. Wenn aber Mindeststandards so harmlos werden, damit alles bleiben kann, wie es ist, wäre das Greenwashing. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir uns fragen: Welche politischen und ökonomischen Kräfte sind es, die heute eine gerechte Gesellschaft verhindern? Welche Machtverhältnisse gilt es zu kippen, damit sich die Menschen hier und anderswo gut ernähren können?
Das ist keine sehr liberale Haltung. Ist es wirklich nötig, den Freihandel einzuschränken und damit die Wahlfreiheit des einzelnen Konsumenten?
Ist es liberal, wenn wir mit unserem Lifestyle die Freiheit von Menschen in anderen Ländern einschränken? Wenn wir es in Kauf nehmen, dass sie krank werden, dass ihnen ihr Land und ihre Selbstbestimmung weggenommen werden? Nein, das ist ein krasses Ungleichgewicht zu unseren Gunsten! Wir nehmen uns das Recht heraus, auf Kosten anderer Menschen über unsere Verhältnisse zu leben. Das ist nicht liberal, das ist die Fortsetzung von Kolonialismus.
Die Gegner der beiden Initiativen befürchten, dass die Preise für Lebensmittel bei einer Annahme steigen würden. Finden Sie das vertretbar?
Die Armen werden gern hervorgezerrt, um den Status Quo zu verteidigen. Wenn Billigflüge aus Klimaschutz-Gründen abgeschafft werden sollen, heisst es: Aber die arme Oma will doch auch mal nach Mallorca fliegen! Natürlich ist es zynisch, von Armen zu verlangen, Bio-Lebensmittel zu kaufen. Das können sie sich im gegenwärtigen System nicht leisten. Billige Lebensmittel sind politisch erwünscht, damit Löhne niedrig bleiben können. Beides muss sich ändern! Darum braucht es die Politik: Sie muss dafür sorgen, dass sich alle Leute gesundes und nachhaltiges Essen leisten können.
Sie stellen die Formel auf: Je gebildeter die Zielgruppe und je schädlicher ein Produkt, desto grösser sei das Bemühen, es mit einem Öko-Siegel zu veredeln. Das müssen Sie erklären.
Die Krux an der grünen Lüge ist, dass wir sie alle so gern glauben wollen. Uns wird das Unmögliche versprochen. Nehmen Sie Nespresso: Eine Maschine, die grotesk teuren Kaffee in die Tasse presst und dabei einen Müllberg von 8000 Tonnen Alukapseln pro Jahr produziert. Aber dann hat man George Clooney, der mit einer Menschenrechtsanwältin verheiratet ist und immer so aufrichtig in die Kamera schaut. Es ist kein Zufall, dass dieses Greenwashing vor allem in reichen Ländern funktioniert. Wir wollen glauben, dass es okay ist, so zu leben. Dass die schlechten Dinge auf der Welt dadurch irgendwie gut werden.
Sie sagen also: Vielen Labels ist nicht zu trauen. Dann bleibt bewussten Konsumenten im Zweifelsfall also nur der Verzicht?
Nein, privater Verzicht ändert nicht viel. Sehen Sie zum Beispiel den Fleischkonsum an: Der ist in Deutschland pro Kopf zwar gesunken, aber die Produktion steigt an, weil mehr exportiert wird. Oder die Kleiderindustrie: Sicher ist es gut, wenig zu shoppen, aber deswegen produziert die Industrie nicht automatisch weniger. Schon jetzt werden ja so viele Kleider hergestellt, wie sie die ganze Menschheit zusammen nie tragen kann! Heute spielen gerade Besserverdienende Öko-Polizei und gucken ihren Mitmenschen auf die Finger: «Aha, du kaufst also eine Avocado?» Aber das führt zu keiner Solidarität, die wir bräuchten, um gegen Missstände zu kämpfen. Die Konzerne sehen uns bei diesem Zirkus zu und lachen sich ins Fäustchen.
Kann es sein, dass Sie die Macht der Konsumenten unterschätzen? Ein Beispiel: Vor 15 Jahren gab es noch kaum vegetarische Produkte in den Regalen. Heute überbieten sich die Detailhändler gegenseitig mit veganen Linien. Hier hat die Nachfrage doch erfolgreich das Angebot gesteuert.
Ich bin selber seit fast 30 Jahren Vegetarierin und muss sagen: Damals war das Angebot echt trostlos. Noch vor zehn Jahren galten Veganer als Spinner, jetzt ist Veganismus plötzlich anerkannt und man kann gut essen gehen ohne Fleisch. Das ist eine erfreuliche gesellschaftliche Entwicklung. Aber leider eine Nische. Die umweltbewussten Konsumenten werden nie die kritische Masse erreichen, damit das von selber aufhört. In einigen Ländern steigt der Fleischkonsum ja immens. Das liegt auch an der grossen Macht der Agrar-, Fleisch- und Lebensmittelindustrie und einer Landwirtschafts- und Handelspolitik, die diese Privilegien sichert oder sie eben nicht reguliert.
Dann wollen Sie, dass die Politiker den Bürgern das Fleisch verbieten? Dann müssen Sie sich aber auf eine Revolte gefasst machen.
Man kann nicht verbieten, etwas zu kaufen, was legal hergestellt in den Regalen liegt. Aber sehr wohl kann Landwirtschaft so reguliert werden, dass die immense Fleischproduktion, die billigen Futtermittel, die Massenställe und so weiter nicht mehr möglich sind. Wenn es dann einen Aufstand gibt, muss man das auch mal aushalten! Das Problem ist doch, dass sich aus Angst vor den Wählern niemand getraut, Dinge fundamental zu ändern. Das hat man ja schön gesehen, als die Grünen in Deutschland einen Veggie-Day gefordert haben. Die Kantinen hätten dann an einem Tag pro Woche kein Fleisch mehr serviert, es hätte jedoch weiterhin jedem freigestanden, sich an der nächsten Pommes-Bude eine Currywurst zu holen. Aber die Grünen krebsten zurück, aus Angst, nicht mehr gewählt zu werden.
Können Sie es ihnen verübeln? Solange es bei den Konsumenten keine Mehrheit für eine ökologische Wende gibt, wird es auch bei den Wählern keine geben.
Es muss doch um das Gemeinwohl gehen und nicht um die individuelle Konsumfreiheit! Wenn in einer Stadt autofreie Zonen eingerichtet werden, gibt es auch zuerst ein Getöse. Aber dann finden es alle geil, dass sie jetzt auf den freien Plätzen Kaffee trinken können. Dito mit dem Rauchverbot. Ich glaube, mit einer ökologischen Landwirtschaft wäre es ähnlich.
Für wie realistisch halten Sie es, dass Sie den Paradigmenwechsel, von dem Sie träumen, tatsächlich erleben werden?
Zu sagen: «Ach weisst du, das ist eh nicht realistisch» – das kann man sich nur in einer Gesellschaft leisten, in der die Supermarktregale voll sind und man sich in der falschen Sicherheit wiegt, dass es für immer so bleiben wird. Es stimmt, die Zeichen deuten nicht daraufhin, dass Politiker und Konsumenten scharf darauf sind, die alten Gewohnheiten über Bord zu werfen. Aber dennoch entwickeln sich Bewegungen auf der ganzen Welt, die Gerechtigkeit fordern. Denn das einzige, was wir derzeit aus einer realistischen Perspektive mit Sicherheit sagen können, ist, dass es bergab gehen wird, wenn wir nichts unternehmen.
Ihr Buch ist ein eigentlicher Rundumschlag gegen Konzerne wie H&M, Coca-Cola, BP oder Nestlé. Haben Sie schon Post von den Anwälten bekommen?
Nein. Alles was ich schreibe, habe ich belegt. Was sollten sie mir denn vorwerfen? Die Firmen wissen, dass sie die Aufmerksamkeit damit erst recht auf jene dunklen Ecken lenken würden, die der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollen.