Azadeh Jassemi, Sie sind im Dezember 2008 mit ihrem damals 72-jährigen Vater selbst nach Teheran gereist. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Azadeh Jassemi: Sie haben meinen Vater gleich beim Flughafen abgefangen und ihn zwei Stunden lang befragt. Ohne Gewalt. Dann durften wir gehen. Doch schon nach wenigen Stunden in Teheran sagte mein Vater: «Mein Herz blutet.» Das war nicht mehr das Land, das er kannte. Als meine Eltern jung waren, waren die Iranerinnen und Iraner mindestens so westlich angezogen wie die Menschen in der Schweiz und in Deutschland – wenn nicht noch mehr. Und plötzlich war da ein Land, in dem jeder verhüllt sein musste. Und das war nur die Spitze des Eisbergs.
Die Unterdrückung, die Sittenpolizei und ihr brutales Vorgehen haben auch die aktuelle Protestbewegung ausgelöst. Hier gab es in den letzten Jahren keine Fortschritte.
Nein. Händchen halten, sich küssen, als Frau mit einem Mann Kaffee trinken – das geht alles nicht. Wir machten damals diese Erfahrung zusammen, mein Vater und ich. Wir mussten unsere Ausweise vorzeigen, um zu beweisen, dass ich seine Tochter bin. Dann trug ich enge Jeans und Stiefel, die über die Knie reichen, dazu einen Mantel, der bis unter den Po reicht, aber halt eng war. Die Sittenpolizei hat uns angehalten und gesagt, dass ich mich anders anziehen müsse. Wir mussten auf der Stelle etwas Neues kaufen und durften nur so die Einkaufspassage verlassen. Ich bin noch gut davongekommen, wahrscheinlich dank meines Vaters, der schon ein älterer Mann war und den richtigen Ton zu treffen wusste.
Kommen Männer meistens davon, ist der Umgang mit ihnen nachsichtiger?
Nein, sie dürfen zwar ein T-Shirt tragen, aber wenn die Ärmel nicht bis zu den Ellbogen reichen, werden sie mitgenommen.
Was hat sich aus dieser Zeit am stärksten in Ihr Gedächtnis eingebrannt?
Einmal habe ich meine Freunde zu einem Fest eingeladen. Sie badeten im Pool, und ich sah die Narben auf ihren Rücken. Ich dachte, sie stammten vielleicht von einer Impfung. Ich fragte eine Cousine danach. Sie reagierte überrascht: «Ist das dein Ernst?» Das waren Narben von den Schlägen und Peitschenhieben der Sittenpolizei. So ist diese Generation aufgewachsen, mit der Angst im Nacken, mit der Gewalt auf ihre Körper markiert.
Als Reaktion auf die seit Wochen andauernden Proteste hat das Regime das Internet ausgeschaltet. Die Kommunikation ist erschwert. Haben Sie Kontakt zu Freunden und Verwandten im Iran?
Kaum. Und das ist schrecklich, eine riesige Ohnmacht. Unsere Freunde und Familien werden gefoltert, zu Tode geprügelt. Aber dass wir nichts wissen, ist eine emotionale Folter. Ich habe seit 61 Tagen keine Periode mehr gehabt. Seit 41 Tagen nehme ich jeden Abend zwei Schlaftabletten, um überhaupt Ruhe zu finden.
Sie haben 2009 selbst an Demonstrationen gegen das Regime teilgenommen.
Ja, und ich habe damals gesehen, wozu die Wächter der Revolution, die Basidsch-Milizen, fähig sind. Wenn du rausgehst, weisst du, du hast Glück, wenn du nur eine Kugel abkriegst. Wenn sie dich nicht zu Tode foltern oder vergewaltigen. Ein Scharfschütze hat damals einen jungen Mann direkt vor meinen Augen erschossen.
Die Videos, die durchsickern, lassen nur vermuten, wie brutal die Polizei vorgeht.
Bei den Protesten dieses Jahr wurde ein Mädchen festgenommen und «zu Tode vergewaltigt». Sie ist verblutet. Die Ärzte hätten eine andere Todesursache nennen sollen. Eine Ärztin konnte das nicht. So ist dieses Schicksal öffentlich geworden. Es ist eines von vielen anderen. Die Mutter des Mädchens hat sich danach das Leben genommen.
Es heisst, Ärzte und Eltern würden zu öffentlichen Stellungnahmen gezwungen, in denen sie sagen, dass Kinder oder Angehörige wegen eines Herzstillstands gestorben sind.
Ja, wegen der Polizeipräsenz in den Kliniken, die Protestteilnehmer behandeln, haben Ärzte Ende Oktober protestiert. Sie haben sich auch dagegen gewehrt, dass sie Todesursachen fälschen müssen. Eine Ärztin wurde vor den Augen aller erschossen. Die anderen Ärzte wurden zusammengeschlagen und verhaftet. Das ist gegen internationales Recht, und die Welt weiss davon.
Unterdrückung und Gewalt dauern im Iran seit Jahren an. Warum sind die Proteste genau jetzt in dieser Intensität aufgeflammt?
Ich denke, es hat schon lange in der Bevölkerung gebrodelt, seit den blutigen Protesten der «grünen Revolution von 2009» und spätestens seit dem Massaker vom November 2019. Man spricht von 1500 Toten, die es damals gegeben hat. Bis dahin haben viele noch daran geglaubt, dass das Regime irgendwann zurückhaltender wird. Diese Hoffnung ist damals gestorben. In den Köpfen aller Iraner hat sich das Bild von Navid Afkari eingebrannt, eines Ringers der Nationalmannschaft, der brutal gefoltert und öffentlich hingerichtet wurde. Er gilt als Märtyrer. Nun haben – dank der Digitalisierung – alle mitgekriegt, wie Masha Amini von den Sicherheitskräften zusammengeschlagen wurde. Und das Volk findet: So geht es nicht weiter.
Ist das der Unterschied: Die digitalen Medien schaffen eine neue Öffentlichkeit, eine andere Visibilität der vom Regime gesteuerten Gewalt?
Die digitalen Medien ermöglichen eine Reichweite, die es in dieser Form noch nie gegeben hat. Während viele grosse Medienhäuser sich lange verdeckt hielten, bevor sie angefangen haben, zu berichten, was im Iran wirklich passiert, konnten die Iranerinnen und Iraner aus dem Iran heraus die ersten Videos und Nachrichten heraussenden und so die Visibilität der Gräueltaten erhöhen. Gleichzeitig ist es kein Geheimnis, dass traditionelle Medienhäuser bestimmten politischen Richtlinien und einem Druck folgen und so die Berichterstattung oftmals einseitig ausfällt. Durch die digitalen Medien wurde hier ein Gegengewicht geschaffen. Nichts lässt sich mehr so leicht unter den Tisch kehren oder beschönigen.
Die Hauptstadt Teheran hat 20 Millionen Einwohner. Wird der Protest auch auf dem Land, in den Dörfern und kleineren Städten unterstützt?
Absolut. Das Regime hat auch andere Städte und Dörfer, insbesondere kurdische, angegriffen. Sie haben ein Spital bombardiert, um die Menschen dort davon abzuhalten, ihre Waffen zum Einsatz zu bringen und nach Teheran zu schmuggeln. Dabei sind ein neu geborenes Baby und seine Mutter gestorben. Wenn einmal 150 Demonstrierende mit Waffen auf die Strasse gingen, denken Sie, dann würden die Revolutionswächter noch bleiben? Nein, die gehen nur weiter gegen die Menschen vor, weil sie schutzlos auf der Strasse stehen.
Wie sehen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, sich ein bewaffneter, paramilitärischer Widerstand herausbildet?
Die ist gering, es würde dafür eine Koordination brauchen. Die Menschen müssten Hilfe von aussen erhalten, von Israel oder sonst einem Staat. Vor allem die Koordination ist im Moment unmöglich, weil alle Kommunikation abgeschnitten wird.
Die Schweiz hat die letzten Sanktionen der EU gegen Mitglieder des iranischen Regimes und X Organisationen nicht übernommen. Sie begründet dies mit der Neutralität und ihrem Schutzmachtmandat. Was denken Sie darüber?
Neutralität hat immer ihren Preis. Es ist kein Geheimnis, dass Diktatoren und Terroristen ihr Geld in der Schweiz haben. Mit diesen Geldern und dem Zugriff, den die Mullahs auf dieses Geld haben, bezahlen sie den Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Wenn die Basidsch-Milizen kein Geld mehr bekommen, dann schlagen sie nicht mehr die Proteste ihres Volkes nieder. Wenn die Schweiz von guten Diensten spricht, muss man sagen: Nein, ihr ermöglicht die Unterdrückung, um eure Interessen zu wahren. Aber irgendwann bezahlt man den Preis dafür.
Woran denken Sie?
1979 haben die USA die Taliban ausgerüstet, um gegen die Sowjets zu kämpfen. Bis zum heutigen Tag zahlen wir den Preis. Bis heute leiden Menschen darunter. Ayatollah Khomeini ist von Paris aus mit der Hilfe Frankreichs, der USA und Grossbritanniens in den Iran gekommen. Natürlich hat der Westen seine Interessen zu wahren – aber zu welchem Preis? Alle paar Jahre passieren Attentate von Islamisten und wir sagen: schrecklich. Aber wir schauen nicht zurück und gestehen uns ein, dass wir selber daran mitschuld sind.
Wenn Sie Ihre Freunde im Iran erreichen: Gibt es für sie derzeit noch einen Alltag?
Alles ist in der Schwebe. Am Tag versuchen sie, ihrer Routine nachzugehen, und am Abend nehmen sie ihre Rucksäcke und gehen auf die Strasse. Sie haben gelernt, dass sie sich nicht in grossen Gruppen versammeln dürfen. Damit ein Scharfschütze nicht alle auf einmal erschiessen kann.
Sind Sie in der Schweiz sicher?
Nicht wirklich. An Demonstrationen sind schon Spitzel festgenommen worden, deren Handy von der Polizei angeschaut wurde, und man sah, dass sie in die Gesichter der Demonstranten vergrössert haben. So haben wir manchmal den Eindruck, dass wir niemandem mehr trauen können. Vor einer Woche wurde ein Demonstrant vor der iranischen Botschaft in Berlin niedergestochen. Und das Regime schleust Spitzel ein, die versuchen, politisches Asyl zu erhalten. Die Botschaften im Westen wissen darum und beschützen diese Terroristen auch noch. Wie steht es denn hier mit der Neutralität?
Haben Sie Angst?
Wenn ich sehe, was die Iranerinnen und Iraner alles auf sich nehmen, dass sie ihr Leben riskieren, dann habe ich hier keine Angst. Ich würde mich schämen, wenn ich Angst hätte.
Was tun Sie von der Schweiz aus?
Ich habe mit Exiliranern in Grossbritannien einen Verein gegründet, und wir schreiben jetzt Tag und Nacht Briefe an Regierungen, Menschenrechtsorganisationen. Wir versuchen, so genau wie möglich zu recherchieren, die Gräueltaten zu dokumentieren, um zu sagen: Das ist, was passiert. Bitte tut etwas!
Haben Sie Antworten erhalten?
Bisher ist die einzige politische Institution, die geantwortet hat, das britische Parlament, nicht die deutsche Aussenministerin, nicht die Schweiz, nicht die EU.
Was ist der nächste Schritt?
Wir wollen Geld sammeln, damit wir medizinische Güter ins Land schleusen können. Denn das ist im Moment ein grosses Problem, dass sich die Menschen nicht mehr in die Spitäler trauen und sich zu Hause selber verarzten müssen.
(aargauerzeitung.ch)
Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass Neutralität auch ein Wert ist, dass das bisherige Festhalten an ihr auch für Verlässlichkeit spricht und wir diese Verlässlichkeit nicht einfach bedenkenlos wegwerfen sollten.
Aber wenn sich Terrorregime dank ihren Schweizer Bankkonten an der Macht halten und damit den Terror an und die Unterdrückung der Bevölkerung damit finanzieren können, dann geht eben Neutralität zu weit und dann müssen wir davon abrücken.