Die Debatte um die «Ehe für alle» steckt seit 2013 im Parlament fest und kommt nur schleppend voran. Diesen Sommer sprach sich die vorberatende Kommission des Nationalrats zwar für die «Ehe für alle» aus – allerdings mit Ausnahmen. In der kommenden Frühjahrssession dürfte die Gesetzesänderung nochmals behandelt werden.
Noch schwerer als die Politik tut sich die Kirche mit der Frage, ob auch Homosexuelle heiraten dürfen. Die Katholiken wollen gar nicht erst Stellung zur «Ehe für alle» beziehen. Bei den Reformierten ist man ob der Frage gespalten. Segnungen für homosexuelle Paare sind in der reformierten Kirche schon lange gang und gäbe. Aber sollen sie auch heiraten dürfen?
«Ja», findet Gottfried Locher, oberster Protestant der Schweiz. Der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK nahm schon diesen Sommer klar Stellung. Seither ist Feuer im Dach der Reformierten. Seit Montag tagt die Delegiertenversammlung des SEK, um in dieser Angelegenheit zu einer Übereinkunft zu kommen. Der Religionssoziologe Jörg Stolz erklärt, warum es sich die Protestanten gewohnt sind, zu streiten.
Herr Stolz, die Reformierten sind sich uneinig, ob Homosexuelle mit der «Ehe für alle» dieselben Rechte haben sollen wie heterosexuelle Verheiratete. Warum spaltet diese Frage so?
Jörg Stolz: Die reformierte Kirche ist sehr heterogen. Es gibt liberale, feministische, religiös-soziale und evangelikale Strömungen. Letztere haben bezüglich der Homosexualität eine sehr kritische Haltung. Dazu kommt, dass die reformierte Kirche basisdemokratisch ist.
Die Spaltung innerhalb der Kirche gehört also sozusagen zum Programm bei den Protestanten?
Ja, es ist normal, dass in der reformierten Kirche Meinungsverschiedenheiten aufeinanderprallen. Protestanten protestieren halt. Und gerade die Sexualmoral und Fragen um die Familie sind grosse Fragen, die in der christlichen Gemeinschaft fundamental sind. Auch international führen diese Themen zu grossen Verwerfungen innerhalb der Kirchen.
Segnungen für homosexuelle Paare sind in der reformierten Kirche schon lange gang und gäbe. Aber trauen wollen viele Pfarrer ein lesbisches oder schwules Paar nicht. Wo liegt das Problem?
Um in der Kirche heiraten zu können, muss sich ein Paar zuerst zivil trauen. Weil das nach Schweizer Recht bisher für homosexuelle Paare nicht möglich war, fand die reformierte Kirche einen Kompromiss. Sie bat ein Ritual an, das ein bisschen so aussah wie eine Heirat, aber nicht so genannt wurde und auch nicht als solche galt. Wenn nun künftig Homosexuelle zivil heiraten dürfen, dürfen sie sich theoretisch auch kirchlich trauen lassen. Doch daran scheiden sich die Geister.
Die katholische Kirche will zur «Ehe für alle» gar nicht erst Stellung beziehen, von den Reformierten hingegen erwartet man eine gewisse Offenheit gegenüber modernen Lebensformen. Doch wie modern ist die reformierte Kirche wirklich?
Im internationalen Vergleich ist die reformierte Kirche in der Schweiz sehr modern. Gerade wenn man Schwesternkirchen in den USA anschaut, gibt es theologisch wie auch gesellschaftlich grosse Unterschiede. Auf der anderen Seite sind unsere Volkskirchen pluralistisch und vereinen verschiedenste Stimmen. Die einen sind progressiver und die evangelikal Denkenden sind konservativer. Und es sind Letztere, die sich jetzt gegen die «Ehe für alle» wehren.
Wie gross ist deren Einfluss?
Das ist gar nicht mal so einfach zu sagen. Wir schätzen, dass von allen Reformierten zwischen drei bis sechs Prozent Evangelikale sind. Nicht so viele also. Allerdings sind sie unter den Praktizierenden stärker vertreten, sind fleissigere Kirchengänger und vom Mitgliederschwund innerhalb der reformierten Kirche nicht so stark betroffen.
Sie sprechen es an: Die reformierte Kirche leidet seit Jahren unter Mitgliederschwund. Wäre es für sie jetzt nicht eine Chance, sich bei der Frage um die «Ehe für alle» progressiv zu positionieren?
Es sieht ganz danach aus, als wäre genau das die Strategie vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund und dessen Präsident Gottfried Locher.
Ist das eine kluge Strategie?
Ich bin kein Unternehmensberater für Kirchen. Aber wenn man es aus einer soziologischen Perspektive betrachtet und sieht, wie unglaublich schnell und unglaublich stark sich die Akzeptanz von Homosexualität verbreitet, ist es schon klug, da als Kirche mitzuhalten. Eine andere Frage ist, ob das auch theologisch sinnvoll ist.
Heute gibt es in der reformierten Kirche schwule und lesbische Pfarrer und mehrere christliche Organisationen von Homosexuellen. Ist die Frage damit nicht sowieso hinfällig, ob Homosexuelle nun auch heiraten dürfen?
Nicht unbedingt. Trotz der Diversität in der reformierten Kirchen, braucht es Regeln, die für alle gelten sollten. Jetzt ändert sich das zivile Recht stark. Es macht darum Sinn, dass sich die Kirche festlegt, wie sie ihre Regeln verändern will.
Der oberste Protestant der Schweiz, Gottfried Locher, sagte, dass die Homosexualität «Gottes Schöpfungswille» entspreche. Was steht denn in der Bibel über die Homosexualität?
Biblische Texte wurden in Zeiten geschrieben, in der Homosexualität sehr kritisch angeschaut wurde. Die Frage ist, was man mit dem biblischen Text macht. Er kann verschieden ausgelegt werden. Evangelikale leiten daraus ab, dass Homosexualität nicht statthaft ist. Aber man kann die Bibel auch ganz anders lesen.
Und wer entscheidet denn, was gilt?
Die Protestanten haben keine zentrale Instanz, die entscheidet. Es gilt das Priestertum aller Gläubigen. Jeder muss für sich selber entscheiden, wie er die Bibel auslegen will. Das war ein zentraler Punkt der Reformation. Es gibt kein gemeinsames Bekenntnis, keine gemeinsame Ansicht darüber, was sie glauben.
Und was, wenn sich Protestanten in dem, was sie glauben, widersprechen?
Dann ist das einfach sehr liberal und fortschrittlich. Ein individualisiertes Modell der Kirche, wenn Sie so wollen.
Nun gut. Je nachdem wie das Wort Gottes ausgelegt wird, ergeben sich unterschiedliche Schlussfolgerungen für das Leben. Aber wer entscheidet nun über die «Ehe für alle»?
Das passiert demokratisch mit dem Entscheid der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds. Dieser gibt eine Empfehlung für seine Mitgliederkirchen ab. Zwar ist diese Empfehlung ein starkes Zeichen, doch wie sie schliesslich umgesetzt wird, obliegt jedem Pfarrer selbst.
Heute ist es dafür zu spät.
Quasi halb-staatlich organisierte Glaubensgemeinschaften haben für mich keinerlei Daseinsberechtigung mehr.
Das bedeutet freilich nicht, dass sie verboten werden müssen - sehr wohl aber als normale, privatrechtlich organisierte Vereine angesehen werden sollen inkl Steuerpflicht etc.