Sie drängen auf eine Reform der beruflichen Vorsorge. Andere behaupten, die Welt gehe bei einem Scheitern nicht unter. Was stimmt jetzt?
Vera Kupper Staub: Die Welt geht nicht unter. Die allermeisten Pensionskassen sind in der Schweiz gut aufgestellt. Sie haben ihre Arbeit gemacht, den Umwandlungssatz längst gesenkt, die Beiträge erhöht und damit sichergestellt, dass die Renten auch bei längerer Lebenserwartung und tieferem Zinsniveau fair finanziert werden.
Und was ist mit dem kleinen Teil der Kassen, die nur die Minimalversicherung anbieten und diese Anpassungen von Gesetzes wegen nicht machen können?
Sie können ihre Renten nicht fair finanzieren. Das bedeutet, sie können sie nicht ohne Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentenberechtigten finanzieren. Das Gesetz sieht aber eigentlich nicht vor, dass in einer Pensionskasse die Erwerbstätigen die jetzt laufenden Renten mitfinanzieren müssen. Entgegen unserer Erwartungen war jedoch der negative Effekt auf die Verzinsung der Erwerbstätigen dieser Kassen bisher zum Glück relativ klein.
Wieso ist das so?
Weil bei diesen Kassen der Anteil der Rentenberechtigten unterdurchschnittlich ist, aus einem einfachen Grund: Bisher wurden in diesen Kassen relativ wenige Versicherte pensioniert. So bleibt das Personal beispielsweise nicht bis zur Pensionierung in Gastrobetrieben tätig, sondern wechselt die Branche. Für die Kassen hat das zwei Vorteile: Sie müssen relativ wenige Renten finanzieren und im Anlagebereich können sie höhere Risiken eingehen und so höhere Erträge erzielen. Gleichzeitig beziehen ihre Versicherten mit hauptsächlich kleineren Altersguthaben überdurchschnittlich oft das Kapital anstelle einer Rente. Wegen all diesen Gründen sind diese Kassen bisher einigermassen gesund geblieben.
Sie drängen trotzdem auf eine Reform. Wieso?
Aus zwei Gründen: Erstens ist die Situation der BVG-Minimalkassen langfristig so nicht haltbar, insbesondere in Phasen mit schlechteren Anlageerträgen. In diesen Kassen sind Personen versichert, die eher wenig verdienen. Sie haben es am nötigsten, die Anlagerenditen der Pensionskasse für den Aufbau ihres eigenen Alterskapitals verwenden zu können – anstatt die Renten anderer damit zu finanzieren.
Und zweitens?
Zweitens brauchen wir die Reform, damit wir endlich einen Schritt weiterkommen. Die Sozialversicherungen müssen den gesellschaftlichen Entwicklungen immer wieder angepasst werden können. Für die Zukunft ist es wichtig, dass auch Personen mit tiefen Pensen und Mehrfachbeschäftigungen gut versichert sind.
Zweimal schon hat die Bevölkerung darüber abgestimmt, zweimal hat sie eine Reform unter unterschiedlichen Voraussetzungen abgelehnt. Wieso kümmert ein Scheitern offenbar niemanden?
Weil die grosse Mehrheit der Pensionskassen nicht von der Reform betroffen ist und die Versicherten der BVG-Minimalkassen anscheinend keine starke Lobby haben. Die Pensionskassen, welche einen deutlich höheren Versicherungsschutz anbieten, konnten sich auch ohne Reform den neuen Realitäten anpassen.
Wieso brauchen wir dann überhaupt gesetzliche Bestimmungen im Pensionskassenbereich?
Es ist wissenschaftlich erwiesen: Wenn der Staat nicht Vorgaben macht, sorgen die meisten Menschen zu wenig fürs Alter vor. Viele Staaten haben das Zwangssparen eingeführt, weil sich niemand gerne um die Altersvorsorge kümmert.
Wie das?
Die Menschen leben im Jetzt, brauchen das Geld und denken, in Zukunft wird das schon irgendwie gehen. Zudem wird die Bevölkerung durch den Staat bestärkt: Unser System sorgt für eine Rente im Alter, der Einzelne muss sich nicht darum kümmern.
Ist das Vertrauen berechtigt?
Ja. Allerdings darf man keine falschen Erwartungen haben. Die Bundesverfassung soll den bisherigen Lebensstandard in «angemessener Weise» weitergewähren. Das hat die Politik bei 60 Prozent des letzten Lohnes definiert. Und das bedeutet nicht Saus und Braus. Personen, die mit 100 Prozent ihres Lohnes nicht gut über die Runden kommen, werden es mit 60 Prozent noch schlechter haben. Zum Glück haben wir für diese Fälle das System der Ergänzungsleistungen.
Zurück zur Reform: Müssen die Versicherten von BVG-Minimalkassen Angst haben, dereinst ohne Rente dazustehen?
Nein! Kurzfristig bedeutet Nichtstun auch nicht den Tod von Pensionskassen. Aber jene nahe am BVG-Minimum können weiterhin keine fairen Renten produzieren. Das muss sich ändern. Denn es kann nicht sein, dass ein Gesetz diese Pensionskassen zwingt, eine unfaire Finanzierung aufrecht zu erhalten.
Die Senkung des gesetzlichen Umwandlungssatzes führt für die Betroffenen unmittelbar dazu, dass die Renten sinken.
Das stimmt, wenn keine anderweitigen Massnahmen getroffen würden. Aber: Niemand will Rentensenkungen. Das Leistungsziel soll erhalten bleiben, das ist eine Vorgabe der Reform.
Wie lassen sich Rentensenkungen abwenden?
Wir unterscheiden zwischen zwei Massnahmen mit unterschiedlichen zeitlichen Horizonten: Langfristig müssen die Arbeitgeber und Arbeitnehmer mehr Beiträge bezahlen. Die Versicherten brauchen ein höheres Alterskapital, damit es wegen längerer Lebenserwartung und tieferen Renditen nicht zu einer Rentensenkung kommt. Das ist die normale Art, um die Rente zu finanzieren. Doch dafür brauchen die Versicherten Zeit.
Für Versicherte, die bald in Rente gehen, braucht es eine kurzfristige Massnahme.
Genau, die sogenannte Übergangsgeneration hat nicht genügend Zeit, um ausreichend Altersguthaben anzusparen. Für sie braucht es eine kurzfristige Lösung.
Das Parlament streitet sich über solche Rentenzuschüsse. Wieso ist es so schwierig, da eine faire Lösung zu finden?
Der grosse Streit in der Reform dreht sich um die Frage, wer während dieser Übergangsphase einen Zuschlag erhalten soll: Naheliegend wäre es, nur jene Personen, die direkt vom tieferen gesetzlichen Umwandlungssatz betroffen sind, zu entschädigen. Das wären fast ausschliesslich die Versicherten in den BVG-Minimalkassen. Aber um die Akzeptanz der Reform zu erhöhen, ist die Idee der verschiedenen Reformvorschläge, zusätzlich Personen einen Rentenzuschuss zu gewähren, die eine kleine Rente haben – unabhängig vom Grund, wieso das so ist. Nur sind das dann nicht Kompensationen, sondern Rentenverbesserungen für einen Teil dieser Übergangsgeneration.
Und das halten Sie für problematisch?
Das ist ein politischer Entscheid. Man muss sich aber bewusst sein, dass die Reform im Prozess der sinkenden Umwandlungssätze relativ spät kommt. Viele Personen gingen bereits mit reduzierten Umwandlungssätzen in Pension. Ende 2021 lag der Median-Umwandlungssatz bei 5,3 Prozent. Wenn das Parlament nun entscheidet, breit Zuschüsse für eine Übergangsgeneration von 15 Jahrgängen zu verteilen und grosszügig zu sein, schafft es damit auch eine neue Ungerechtigkeit gegenüber jenen Pensionierten, die in den letzten rund zehn Jahren ohne einen solchen Zuschuss mit einer tiefen Rente in Pension gegangen sind – und zwar willkürlich ab einem bestimmten Jahrgang.
Finanziert würden die Zuschüsse überdies von den Erwerbstätigen, die man eigentlich entlasten wollte.
Ja und das geht auch nicht anders. Wichtig scheint mir darum, sich gut zu überlegen, wie «grosszügig» man sein will. Diese Zuschüsse werden ja zu einem grossen Teil wiederum von jenen Erwerbstätigen bezahlt, deren Pensionskassen bereits tiefere Umwandlungssätze haben und darum die ganze Umstellung in ihren Pensionskassen bereits mitfinanziert haben.
Sind die Renten denn überhaupt zu tief?
Nein, das kann grundsätzlich nicht gesagt werden. Es gibt viele individuelle Gründe, wieso jemand mit einer tiefen Rente konfrontiert sein kann: Sie war lange nicht oder nur in einem kleinen Pensum erwerbstätig; er hatte vielleicht mehrere Anstellungen und erreichte nirgends die Schwelle, um in die Pensionskasse aufgenommen zu werden; eine andere Person hat eine Scheidung hinter sich. Zudem werden wir erst im Jahr 2025 den ersten Jahrgang haben, der die vollen 40 Beitragsjahre unter dem Regime des BVG-Obligatoriums eingezahlt hat. Viele der Personen, die in den letzten Jahren mit einer tiefen Rente in Pension gingen, waren nicht während 40 Jahren bei einer Pensionskasse versichert.
Wer wenig verdient, hat eine kleine Rente. Ist das nicht unfair?
Die AHV und die berufliche Vorsorge sind zwei ganz unterschiedliche Systeme: In der AHV erhalten alle im Minimum eine bestimmte Rente. Die Finanzierung beinhaltet eine starke Umverteilung von hohen zu tiefen Erwerbseinkommen. In der zweiten Säule spart jeder für sich. Die BVG-Altersrente ist direkt vom eigenen Erwerbseinkommen abhängig. Wer wenig Erwerbseinkommen hatte, wird eine tiefe Rente erhalten. In der Pensionskasse werden nur die Risiken Alter, Tod und Invalidität zusammen solidarisch getragen. Diese Unterschiede sind politisch – mindestens bisher – so gewollt.
Die aktuelle Reform möchte deshalb das BVG modernisieren und den vielfältigen Erwerbsleben von heute anpassen.
Genau. Im aktuellen Vorschlag möchte man den Versicherungsschutz von Personen mit tiefen Pensen und Mehrfachbeschäftigungen verbessern, was wichtig und richtig ist. Dies soll durch Reduktionen des Koordinationsabzugs und der Eintrittsschwelle erreicht werden. Dadurch würden mehr Erwerbstätige mit tieferen Löhnen neu BVG-versichert.
Das Problem ist dabei ein soziales: Gerade für tiefe Löhne, die besser versichert werden sollen, sind höhere Beiträge ein Problem. Das Geld fehlt im Portemonnaie.
Richtig, einen besseren Versicherungsschutz gibt es nicht gratis. Jedoch zahlt nicht nur der Erwerbstätige, sondern auch der Arbeitgeber einen höheren Beitrag. Die «Last» des besseren Versicherungsschutzes wird gemeinsam getragen. Von der höheren Rente profitiert jedoch nur der Erwerbstätige, namentlich mit Partner, Partnerin sowie Kindern. Es ist eine Investition in die Zukunft.
Die Banken kassieren mächtig ab bei den Vermögensverwaltungskosten…
Die Pensionskassen selbst haben keinen Anreiz haushälterisch mit dem Geld umzugehen…
Statt ständig die Leistungen zu reduzieren und die Beiträge zu erhöhen, sollten die Kosten gesenkt und staatlich gedeckelt werden…
Wir alle müssen es halt verstehen: 2. und vor allem die 3. Säule werden durch unser eigenes Verhalten von heute für morgen aufgebaut. Niemand sollte erwarten können, heute einfach mal das Leben zu geniessen mit ein klein wenig Arbeit nebenbei, und dann im Alter grosse Anforderungen zu stellen.