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Präsident des jüdischen Dachverbands spricht über Messerangriff

Präsident des jüdischen Dachverbands spricht über Messerangriff

Das Attentat auf einen orthodoxen Mann in Zürich hat die jüdische Gemeinschaft schwer verunsichert. Der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds über seine Erwartungen an die Behörden und die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung.
09.03.2024, 10:0409.03.2024, 10:04
Christoph Bernet / ch media
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Eine Woche ist es her, seit ein 15-Jähriger in Zürich versucht hat, einen Juden mit einem Messer zu töten. Der jüdische Familienvater überlebte schwer verletzt. Der Angreifer hatte geplant, mehrere Juden zu töten.

Der jugendliche Täter ist schweizerisch-tunesischer Doppelbürger. Seine Profile in den sozialen Netzwerken, das Bekennervideo sowie Aufnahmen der Tat selber zeigen, dass er von der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) inspiriert war und mutmasslich vor der Tat mit IS-Exponenten im Kontakt stand.

Die Tat ereignet sich zu einem Zeitpunkt, in der das Sicherheitsgefühl der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz bereits stark gelitten hat. Grund dafür: die seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 zu beobachtende Zunahme antisemitischer Vorfälle. Bislang waren dies Schmierereien, Drohungen, Beleidigungen, Hasskommentare und einzelne Tätlichkeiten.

Jüdischsein wird aus Angst versteckt: «Das ist inakzeptabel»

«Der schreckliche Angriff in Zürich hat das Sicherheitsgefühl bei vielen Jüdinnen und Juden in der Schweiz nochmals negativ beeinflusst», sagt Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), des Dachverbands der jüdischen Gemeinden.

Ralph Lewin, Praesident Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund SIG, spricht waehrend einer Gedenkveranstaltung fuer die Opfer der Terrorangriffe der Hamas auf Israel, am Montag, 16. Oktober, 2023 ...
Ralph Lewin., Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG).Bild: keystone

Gegenüber der «Schweiz am Wochenende» zählt er Fälle auf, bei denen Jüdinnen und Juden wegen Sicherheitsbedenken gegen aussen nicht mehr als solche erkennbar sein wollen: der Rabbiner, der seine Kippa je nach Situation unter einem Hut versteckt, die Familie, welche die Mesusa – eine in traditionellen Haushalten am Türrahmen angebrachte Schriftkapsel - abmontiert hat, das Ehepaar, das keine Post von jüdischen Institutionen mehr in den Briefkasten geschickt bekommen will. «Das darf nicht sein, das ist inakzeptabel», sagt Lewin. Jeder Mensch in der Schweiz müsse offen zu seinem Judentum stehen können, ohne sich fürchten zu müssen.

Gemäss Ralph Lewin ist der Messerangriff vom letzten Samstag die schlimmste antisemitische Tat hierzulande seit Jahrzehnten: «Diese Gewalteskalation ist ein Schock, auch für mich persönlich.» Doch völlig überraschend komme der Angriff nicht: «Wir haben immer – und seit dem 7. Oktober nochmals verstärkt – davor gewarnt, dass aus Worten Taten werden könnten.»

In den letzten Jahren habe es in der Schweiz nur wenige Fälle von physischer Gewalt in Form von Tätlichkeiten gegen Jüdinnen und Juden gegeben. «Wir hatten gehofft, dass die Hürde für solche Taten im Vergleich zum Ausland weiterhin hoch bleibt. Aber wir wussten auch, dass es jederzeit zu einer solchen Gewalttat kommen kann.»

«Haben die Sicherheitsbehörden Fehler gemacht?»

Ist der Messerangriff der Beweis dafür, dass das in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien virulente Problem des «importierten Antisemitismus» bei gewissen muslimischen Bevölkerungsgruppen auch die Schweiz erreicht hat?

Antisemitismus komme in verschiedenen Milieus vor, betont Lewin: bei Links- und Rechtsextremen, in verschwörungsaffinen Kreisen, in islamistischen Milieus, aber auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. «Aus einem Einzelfall einen Rückschluss auf eine ganze Bevölkerungsgruppe wie etwa die rund 400'000 hier lebenden Muslime zu ziehen, wäre ganz falsch», stellt Lewin klar.

Es sei nun Aufgabe der Untersuchungsbehörden, herauszufinden, was den Angreifer von Zürich genau zu seiner Tat verleitet hat. «Dieser Jugendliche ist in der Schweiz aufgewachsen», sagt Lewin. Es müsse abgeklärt werden, was mit ihm passiert sei und ob und wie man seine Radikalisierung allenfalls hätte erkennen und die Tat hätte verhindern können. «Haben die Sicherheitsbehörden Fehler gemacht? Hätten Schul- oder Sozialbehörden mehr tun können? Auf diese Fragen brauchen wir Antworten.»

Doch klar sei auch: Eine hundertprozentige Sicherheit könne es nicht geben, auch wenn das schwer zu akzeptieren sei. Sollten die Untersuchungen ergeben, dass islamistische Milieus, eine bestimmte Moschee oder Social Media einen Einfluss auf den Angreifer von Zürich gehabt haben, so dürfe man auf keinen Fall wegschauen. Dann müsse man gezielt und mit den richtigen Massnahmen ansetzen: «Aber wir können und dürfen jetzt nicht quasi mit der Schrotflinte auf eine ganze Religionsgemeinschaft zielen.»

Kein Nährboden für Hass wie in Paris oder London

Verhältnisse wie in gewissen europäischen Grossstädten, in denen einzelne, stark muslimisch geprägte soziale Problemviertel für Jüdinnen und Juden zu No-Go-Zonen geworden sind, sieht Lewin in der Schweiz nicht am Entstehen.

In solchen Quartieren lebe oft eine sozial wenig durchmischte, wirtschaftlich und sozial abgehängte Bevölkerung, die mit Armut, Arbeitslosigkeit und einem Leben ohne Perspektiven konfrontiert sei: «Solche von der Gesamtgesellschaft isolierte Subkulturen, die einen Nährboden für den Hass auf vermeintlich bevorteilte Bevölkerungsgruppen wie die Juden bilden, kennen wir in der Schweiz nicht.»

Es bestehe die Möglichkeit, dass der islamistische Hintergrund des Messerangriffs von Zürich politisch instrumentalisiert werde. Das gelte es zu verhindern. Der gesellschaftliche Zusammenhalt, der in der Schweiz weiterhin deutlich besser ist als in anderen europäischen Ländern, sei der jüdischen Gemeinschaft viel wert. Es sei genau der Mechanismus der Verallgemeinerung, die von einer einzelnen Person auf eine ganze Bevölkerungsgruppe schliesse, unter der Jüdinnen und Juden zu leiden hätten, sagt Lewin: «Das wollen wir auch bei anderen Bevölkerungsgruppen nicht sehen.» (aargauerzeitung.ch)

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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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*klippklapp*
09.03.2024 11:38registriert Dezember 2017
Wow, was für ein tolles und differenziertes Interview!

Es braucht wahrscheinlich viele Puzzle-Steine, welche zu mehr Sicherheit führen.

Als Lehrerin habe ich das Gefühl, Schulen müssten besser geschult werden, um Radikalisierung zu erkennen. Und dann braucht es natürlich die richtigen Instrumente um die Jugendlichen wieder abzuholen.
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AdiB
09.03.2024 11:12registriert August 2014
«Aus einem Einzelfall einen Rückschluss auf eine ganze Bevölkerungsgruppe wie etwa die rund 400'000 hier lebenden Muslime zu ziehen, wäre ganz falsch»
Als muslim danke ich ihnen für diese worte. Ich befürchte aber dass diese worte in der debatte untergehen werden.
Wir muslime verstecken je nach situation leider auch unseren glauben. Früher hatte ich keine bedenken in einem restaurant zu fragen ob schwein drin ist. Heute nehm ich lieber das vegi menü, als die abwertenden blicke und wie man aufeinmal unhöflicher bedient wird.
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