«Soldaten zwangen uns auf die Knie»: Aktivisten der Gaza-Flottille erzählen
Rund hundert Menschen mit palästinensischen Fahnen warten ungeduldig auf die neun Schweizerinnen und Schweizer, die aus der Haft in Israel zurückkehren. Als die Mitglieder der Flottille erscheinen, kochen die Emotionen hoch: Jubelrufe und Tränen mischen sich mit aus voller Kehle skandierten «Free Palestine»-Rufen.
Bei einigen Mitgliedern der Flottille dauert es ein paar Minuten, bis sie die Fassung wiederfinden und die Fragen der Journalistinnen und Journalisten beantworten. Wie lief ihre Festnahme ab? Und wie war die Haft in Israel? Das berichten sie.
Übersetzung
Dieser Text wurde von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Romandie geschrieben, wir haben ihn für euch übersetzt.
Auf der Suche nach Waffen
Der Tessiner Vanni Bianconi erzählt gelassen, was er auf seinem Boot erlebt hat, das von Israel in internationalen Gewässern angehalten wurde.
Bianconi fährt fort: «Wir sahen sofort, wie nervös sie waren, denn sie suchten überall nach Waffen und Sprengstoff – oder nach weiteren Personen, die sich auf unserem Boot hätten verstecken können.» Der Tessiner sagt, die Crew habe den Soldaten erklärt und gezeigt, dass das nicht zutreffe. Das habe etwas Ruhe zurückgebracht, bis zu ihrer Überführung in den Hafen von Ashdod. «Dort begannen die Misshandlungen», so Vanni Bianconi.
Nicht weit von ihm bestätigt Roberto Ventrella, der älteste Aktivist der Flottille: «Man liess uns über eine Stunde auf den Knien, den Kopf zum Boden gerichtet, und sobald wir ihn zu heben wagten, hagelte es Schläge. Sie behandelten uns wie Tiere, wir waren keine Menschen mehr», betont der 86-Jährige. Er fügt hinzu, dass die Soldaten sie, als sie sie von den Booten holten, «wie gefährliche Verbrecher trugen, obwohl wir nichts falsch gemacht hatten», und demonstriert, wie sie ihn ins Gefängnis brachten.
Zu zehnt in einem Raum
Vanni Bianconi berichtet, die israelischen Soldaten hätten sämtliche Aktivistinnen und Aktivisten durchsucht und einigen die persönlichen Medikamente abgenommen – etwa Insulin. Roberto Ventrella sagt, auch seine persönlichen Sachen seien eingezogen worden. Er habe in einen Jogginganzug – faktisch Häftlingskleidung – wechseln müssen. Danach brachte man ihn in einen rund fünf mal fünf Meter grossen Raum, in dem etwa zehn Personen untergebracht waren.
Der 86-Jährige erzählt, dass man ihm vor der Einweisung in eine Zelle des Gefängnisses Ktzi'ot zwei hebräische Dokumente zur Unterschrift vorlegte, die er nicht verstand. Auf Rat einer palästinensischen Anwältin unterschrieb er das zweite: «Darin stand, dass ich 72 Stunden Zeit hatte, in die Schweiz zurückzukehren.»
Der Neuenburger sagt, nach der Unterschrift habe er noch zwei Tage in einer Zelle verbracht, bevor man ihn zusammen mit mehreren weiteren Mitgliedern der Flottille zum Flughafen brachte. «Als sich die Türe des Lieferwagens öffnete, sah ich einen Geisterflughafen, völlig leer, wo weitere Polizisten auf uns warteten. Aber ich wusste, dass ich nach Hause kommen würde», schliesst er.
Die Zurückgelassenen
Mitten in der Menge, in der erleichterte Familien ihre Angehörigen in die Arme schliessen, fällt uns eine junge Frau auf. Es ist Claire, Angehörige von Jérémy Chevalley aus Nyon, der weiterhin in Israel in Haft ist. «Wir freuen uns für die anderen Familien, aber wir zählen weiter die Tage und Nächte ohne Jérémy», sagt sie.
Claire, begleitet von Jeremys Eltern, erzählt uns, der Mann habe im Gefängnis einen Hungerstreik begonnen und diese Information «sei von seinen soeben angekommenen Mitstreiterinnen und Mitstreitern bestätigt worden». «Die Mitstreiterinnen und Mitstreiter von Jérem haben uns seine Tasche zurückgebracht», sagt die junge Frau mit Tränen in den Augen. «Wir haben die Tasche von Jérem, aber nicht ihn.»
Auf die Frage, warum Jérémy Chevalley weiterhin im israelischen Gefängnis Ktzi'ot festgehalten wird, vermutet Claire, selbst Anwältin, er habe sich geweigert, das besagte Dokument zu unterschreiben, das Roberto Ventrella in den Händen hielt. Sie führt aus, nach ihren Informationen verlange das Standardverfahren in Israel von den Aktivistinnen und Aktivisten eine Unterschrift, die bestätigt, sie seien illegal auf israelisches Territorium eingereist – «was falsch ist, denn sie wurden in internationalen Gewässern festgenommen», betont die Anwältin.
Die junge Frau sagt, sie habe bereits an das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) geschrieben wegen Jeremys Situation: «Wir wissen, dass in dem Gefängnis, in dem er sitzt, die Haftbedingungen sehr hart sind – teils gar entwürdigend.»
Sie hofft, dass er heil nach Hause zurückkehrt, fügt aber an: «Im Gefängnis ist Jérémy wohl enttäuscht, dass er der Bevölkerung von Gaza, die derzeit einem Genozid ausgesetzt ist, nicht helfen konnte. Wir respektieren seine Entscheidung zum Hungerstreik und hoffen, ihn bald wiederzusehen», sagt sie.
Als wir die Aktivistinnen und Aktivisten verlassen, begegnen wir Roberto, der sich auf den Heimweg macht. Auf unsere Frage, weshalb er weder Tasche noch Koffer dabeihat, erklärt er, dass ihm im Gefängnis alle persönlichen Sachen abgenommen worden seien und ihm von der israelischen Armee einzig der Pass zurückgegeben worden sei.
Über die Organisation Waves of Freedom bietet ihm Hicham El Ghaoui Bargeld an, um seine Fahrtkosten zu bezahlen. Er nimmt höflich an: «Schauen Sie, ich habe absolut nichts bei mir ausser diesen Kleidern und meinen Schuhen. Aber das ist nicht schlimm. Am Ende merkt man, dass nach all dem nichts wichtig ist. Alles, was zählt, ist der Mensch», sagt er mit einem Lächeln, bevor er sich verabschiedet.