Das Kind hatte Cerebralparese, konnte nicht sprechen, nicht sitzen, hatte Mühe beim Schlucken, schlief schlecht, hatte Schmerzen und Krämpfe. Es war knapp drei Jahre alt, als seine Eltern es töteten. Sie verabreichten ihm Schlafmittel und Drogen und erstickten es dann. Vor dem Bezirksgericht Bremgarten AG sagten sie letzte Woche, sie hätten es nicht ertragen, ihr Kind leiden zu sehen.
Die Details zum Prozess:
Das Gericht verurteilte sie wegen vorsätzlicher Tötung zu acht Jahren Gefängnis. Vor dem Urteil sagte die Gerichtspräsidentin aber auch:
Die Frage geht deshalb an Jürg Streuli, Kinderarzt, Palliativmediziner und Ethiker bei Dialog Ethik.
Bedeutet das Urteil, dass Aussenstehende nie entscheiden können, ob es lebensunwertes Leben gibt?
Jürg Streuli: Grundsätzlich darf es aus meiner Sicht tatsächlich kein lebensunwertes Leben geben – diese Grundkonstante ist für unsere Gesellschaft wichtig. Leben hat immer einen Wert, selbst wenn Leben versehrt ist. Aber es gibt Situationen, die so leidvoll sind, dass sich Angehörige gegen künstliche Ernährung oder medizinische Massnahmen entscheiden, oder jemand bestimmt für sich selbst, dass er oder sie nicht mehr weiterleben will.
Wenn jemand nicht mehr selber entscheiden kann, unterscheidet das Recht zwischen aktiver direkter und aktiver indirekter Sterbehilfe. Das Erste ist eine Straftat, das Zweite nicht. Worin besteht genau der Unterschied?
Bei der indirekten Sterbehilfe geht es primär um die Verhinderung des Leidens. Wir sehen das Leben unter unglaublich schwierigen Umständen vor uns, möchten das Leiden behandeln mit starken Medikamenten – und nehmen gleichzeitig in Kauf, dass der Tod eintritt.
Ist das nicht spitzfindig formuliert? In der Konsequenz stirbt jemand wegen einer Handlung von jemand anders.
Nein, so haben wir das Leiden ernst genommen und sahen, dass wir trotzdem an Grenzen kamen. Der vorliegende Fall war eine sehr tragische Situation. Ich kenne ihn nicht persönlich. Aber man muss davon ausgehen, dass es an Unterstützung für die Eltern gemangelt hat oder die Eltern sie nicht angenommen haben. Zum Beispiel von einem pädiatrischen Palliative-Team. Vielleicht wäre man sogar zum gleichen Resultat gekommen. Solche Teams können unter Umständen indirekte Sterbehilfe unterstützen, wenn man das Leid nicht mehr kontrollieren kann. Aber man hätte dann eine Handlung nicht nur aus der persönlichen Sicht der Eltern, sondern auch aus professioneller Sicht gut begründet.
Die Eltern können also nicht alleine zu dem Schluss kommen, auch wenn sie das Kind eng betreuen?
Nein, sobald es um Leben und Tod geht, sind die Eltern verpflichtet, eine objektive Zweitbeurteilung zuzulassen. Die persönliche oder religiöse Auffassung genügt nicht. Wenn die Eltern alleine entscheiden, bleibt der Verdacht, dass das Kind und die Eltern hätten unterstützt werden können und man beiden mit einer externen Betreuung des Kindes neue Kraft und Lebensqualität hätte geben können.
Das Kind war allerdings noch sehr klein – da kann man es nicht so leicht weggeben.
Nein, aber die Eltern haben diesen Prozess abgekürzt. Ich erlebe immer, dass die Eltern nach einer gewissen Zeit enorm an ihrem Kind hängen und es sehr gut lesen können. Manche sehen, dass die Kinder in vielen Bereichen sehr zu frieden sind, viel Lebensqualität haben und sich auf ihrem Level weiterentwickeln. Aber ich erlebe auch, dass Eltern sehr verzweifelt sind, weil sie ihr Kind leiden sehen. Denn es kann sein, dass wir bei einer schweren Behinderung mit unserer Medizin an die Grenze kommen. Um das alles zu sehen und entscheiden zu können, braucht es Hilfe von aussen.
Dass die Eltern sich keine Hilfe geholt haben, hat das Gericht bemängelt.
In meinen Augen hat das Gericht gut argumentiert. Wir müssen uns aber auch an der eigenen Nase nehmen: Ich weiss, dass die Region, in der die Familie lebte, eher schlecht abgedeckt ist, was palliative Betreuung betrifft. Wir hatten zufällig gerade letzten Freitag Stiftungsratssitzung und haben uns entschieden, unter dem Titel «Gesundheitskompass» ein Lotsenkonzept für die ganze Schweiz aufbauen. Dabei geht es auch darum, die bestehenden Angebote wie die Kinderspitex mit den Betroffenen zu verknüpfen. Die Leute können sich direkt bei uns melden.
Kommt es nicht zu einem Gerichtsverfahren, wenn sich die Eltern zuerst Hilfe holen und das Kind dann durch indirekte Sterbehilfe stirbt?
Bei einem Todesfall muss immer ein Arzt oder eine Ärztin entscheiden, ob es ein natürlicher Tod war oder nicht. Wenn also ein Arzt hinzugerufen wird und nicht sagen kann, ob es gut für das Kindeswohl war, dass das Kind gestorben ist, dann gilt es als unnatürlicher Todesfall und die Staatsanwaltschaft wird eingeschaltet. Aber wenn der Arzt sieht, dass der Tod die Folge eines gut abgewogenen Prozesses mit externen Meinungen war, gilt es als natürliche Todesursache.
Ist es nicht seltsam, zu sagen, dass ein Kind, das nach hoher Morphin-Dosis starb, an einer natürlichen Todesursache gestorben ist?
Man spricht von einem natürlichen Tod, wenn die Grundkrankheit so starkes Leiden verursacht, dass dieses nur mit sehr starken Medikamenten zu kontrollieren ist und diese Medikamente zu einem früheren Tod führen. Aber man muss auch betonen, dass eine gute Schmerztherapie mit Morphin das Leben sogar verlängern kann und dank der Schmerztherapie wieder Raum für neue Lebensqualität möglich ist. Will man nicht primär das Leiden beenden, sondern das Leben, dann spricht man von direkter Sterbehilfe, welche in der Schweiz verboten ist.
Und wenn es kein Medikament gibt, welches das Leiden beendet?
Das Leiden kann schlussendlich immer beendet werden, einfach zum Preis des Schlafes – also wenn man eine Sedation herbeiführt. Bei einem Kind mit Schluckstörungen kann das irgendwann aber zum Tod führen.
Ist es für Sie ein Widerspruch, dass Eltern aber über Behinderungen wie Trisomie 21 entscheiden können, bevor das Kind auf der Welt ist?
Nein, wir entscheiden rechtlich zwischen Geborenen und Ungeborenen. Die Fristenlösung ist ein guter Kompromiss, um dieser schwierigen Situation gerecht zu werden. Je älter das Ungeborene wird, desto stärkere, objektive Gründe braucht es, um das Kind noch abtreiben zu können. Das Kindeswohl wird da schon vorbereitet, die Mutter kann zu einem späten Zeitpunkt nicht mehr alleine entscheiden. Man stellt schrittweise immer höhere Anforderungen. In der 28. Woche beispielsweise abzutreiben, ist eine sehr belastende Situation. Auch dazu braucht es einen Prozess, bis die Lösung stimmig ist. Auch für Ungeborene gibt es jetzt palliative Care-Teams. (aargauerzeitung.ch)
Das in manchen Situationen für die betroffene Person und Angehörigen Sterbehilfe eine Option ist, finde ich dennoch auch richtig.
Was bei dieser Entscheidung Religion zu tun hat, kann ich als Atheist nicht nachvollziehen.
Was mich an dem Urteil stört sind die 8 Jahre für die Eltern, ja vor dem Gesetz war es falsch, aber ist man als Elternteil nicht gestraft genug wenn man nur den Ausweg sieht sein eigenes Kind zu erlösen??? Wäre Therapie und Hilfe nicht angebrachter?