Die einzigen Menschen, die wissen, was in jener Nacht passierte, sitzen als Opfer und Beschuldigter vor den Oberrichtern. Und ihre Schilderungen könnten gegensätzlicher nicht sein.
Sie wollte eigentlich wach bleiben an jenem Abend. Sie setzte sich mit einem Messer in der Hand auf die Bettkante. Wartete darauf, dass er in den Keller gehen würde – wie jeden Abend. Dann würde sie zu ihrer Mutter gehen. Den Koffer hatte sie schon gepackt. Doch er ging nicht in den Keller. Irgendwann wurde ihr kalt. Sie legte das Messer ins Buch auf dem Nachttisch, kroch unter die Decke und schlief ein. Sie merkte nicht, dass er ins Schlafzimmer kam. Sie erwachte, weil sie keine Luft mehr kriegte. «Ich dachte, das fühlt sich nicht an wie ein Traum. Das ist Realität. Er versucht wirklich, mich umzubringen.» Die Frau schluchzt und ringt nach Luft, während sie den Oberrichtern schildert, was in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 2015 passierte. Ihr Mann habe ihr ein Kissen auf das Gesicht gedrückt, später habe er mit beiden Händen versucht, ihr Nase und Mund zuzuhalten.
Der Beschuldigte beteuerte, er sei unschuldig und bat die Oberrichter, ihn freizusprechen. Als er an jenem Abend ins Bett ging, habe seine Frau schon geschlafen, erzählt er. Ihm sei aufgefallen, dass sie schlecht Luft bekomme, deshalb habe er sie geweckt, ihr gesagt, sie schnarche. Dann sei er eingeschlafen. Plötzlich habe er ein Geräusch gehört. Seine Frau sei am Boden gelegen. Völlig neben sich, das Messer in der Hand. Sie habe ihm den Hinterkopf an die Nase geschlagen. Sie sei aufgekratzt gewesen, habe ihm gesagt, sie gehe jetzt ins Büro. Er habe durch das Fenster beobachtet, wie sie davon fährt und habe sich dann schlafen gelegt. Geweckt worden sei er von zwei Polizeipatrouillen, die sturmläuteten. Sie nahmen ihn fest. Er verbrachte über zwei Jahre im Gefängnis – bis zum Prozess vor dem Bezirksgericht Rheinfelden Ende April 2017.
Es gibt keine Zeugen. Aber Indizien. Sie wollte sich scheiden lassen. Er googelte unter anderem nach Rattengift, K. O.-Tropfen und dem Medikament Trimipramin. Im Wasser, das er ihr an jenem Abend aufgetischt hatte und das sie, weil es komisch schmeckte, in zwei Fläschchen abfüllte und später der Polizei übergab, wurde Trimipramin gefunden. Ihre Verletzungen am Hals passten zu den gemachten Aussagen. Auch Tonaufnahmen von der Tatnacht gibt es. Die Frau hatte ein Aufnahmegerät installiert, um ihrem Mann seine Affäre nachzuweisen und ihn zu überwachen.
Die Bezirksrichter zweifelten an der Qualität der Beweise. Ausserdem sei kein richtiges Motiv ersichtlich. Sie kamen zum Schluss, die Tat lasse sich dem Beschuldigten nicht zweifelsfrei nachweisen und sprachen ihn frei. Die Staatsanwältin legte gegen das Urteil Berufung ein. Vor Obergericht verlangte sie, wie bereits vor Bezirksgericht, eine achtjährige Haftstrafe.
Mit Erfolg. Das Obergericht verurteilte den Beschuldigten wegen versuchter, vorsätzlicher Tötung zu acht Jahren Gefängnis. Ausserdem muss er seiner Frau eine Genugtuung von 15'000 Franken bezahlen. Inwiefern sich die Argumentation der Oberrichter von jener der Vorinstanz unterscheidet, wird das begründete Urteil zeigen.