Im vergangenen Jahr war das FBI auf einen Rekordwert von Kinderpornografie-Fällen aus der Schweiz gestossen. Innert fünf Jahren – seit das FBI 2014 erstmals Verdachtsfälle ans Fedpol meldete – hatte sich die Anzahl fast verzwanzigfacht. Von den 9000 Meldungen des letzten Jahres hatte die Staatsanwaltschaft Baden sich mit dem Fall von Javiera (alle Namen geändert) zu befassen.
Vor zehn Jahren hatte Fred die junge Latina auf einer Reise in deren Heimat kennen gelernt. Javiera, ledige Mutter eines damals 8-jährigen Buben, die als Schreibkraft in einem Konsulat arbeitete, und der doppelt so alte Schweizer verliebten sich. Gut sieben Jahre pflegten die beiden eine Fernbeziehung mit regelmässigen Besuchen von Javiera in der Schweiz. 2010 wurden sie Eltern einer Tochter, Alicia. Seit dem Sommer 2016 leben Mutter und Tochter hier bei Fred, der für ihren Unterhalt aufkommt. Alicia, die durch den Papa das Schweizer Bürgerrecht hat, geht hier zur Schule; Javiera besucht Deutschkurse und verdient als Reinigungskraft ein Zubrot, mit dem sie ihren bei ihrer Mutter in Lateinamerika lebenden, inzwischen 16-jährigen Sohn unterstützt. In näherer Zukunft will Javiera eine Ausbildung zur Pflegekraft machen.
Das harmonische Leben der kleinen Familie wurde vor einem guten Jahr Knall auf Fall aus den Fugen gehoben, als eines Tages die Polizei aufkreuzte, den Laptop von Fred und Javieras Smartphone beschlagnahmte und das Paar von einer Staatsanwältin in die Mangel genommen wurden. Im November 2017 hatte die junge Frau ein kurzes Video, das sie auf ihrem Smartphone zugeschickt bekommen hatte, weiterleiten wollen, was von Facebook verhindert wurde. Daraufhin hatten die Mühlen der Justiz zu mahlen begonnen. Schliesslich war an Fred rein gar nichts hängen geblieben. Javiera aber wurde der Pornografie angeklagt.
Auf dem Video sind laut Anklage «drei heimlich gefilmte Buben zu sehen, die offensichtlich an ihrem Geschlechtsteil manipulieren und danach erschrocken wegrennen». Vor der Staatsanwältin und auch vor dem Richter betonte Javiera mehrfach, sie habe das Video einfach nur lustig gefunden und keinen Moment daran gedacht, dass es als Pornografie verboten sein könne. Nein, das Video habe sie nicht im Geringsten sexuell stimuliert, antwortete sie auf eine Frage von Einzelrichter Bruno Meyer. Als Auskunftsperson betonte Fred – ein profunder Lateinamerika-Kenner – dass es in Javieras Heimat zahlreiche Communitys gebe, die einen äussert regen Smartphone-Video-Austausch pflegen. Seine Partnerin schilderte er als «frohsinnige, vom Wesen her unschuldige Natur».
Ein 58-jähriger Journalist, ebenfalls bestens vertraut mit Lateinamerika und dessen Bewohnern, legte als Zeuge dar, dass diese «bezüglich sexuellen Handlungen und Nacktdarstellungen in der Öffentlichkeit sehr viel prüder» seien, dass hingegen «schwarzer Humor sehr beliebt und verbreitet ist».
Ein Kind zwischen den FrontenEine bedingte Geldstrafe von 4500 Franken, 800 Franken Busse sowie fünf Jahre Landesverweisung, so der Antrag der Anklägerin. Fred betonte, dass – würde diese vollzogen – er Alicia auf alle Fälle hier behalten wolle: «Sie geht sehr gerne zur Schule, ist eine sehr gute Schülerin. In der Heimat von Javiera – sie ist eine sehr gute Mutter – hätte das Kind keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten.» Javiera ihrerseits betonte, dass Alicia «ganz bestimmt mit mir würde gehen wollen».
Der amtliche Verteidiger forderte einen Freispruch. Objektiv sei der Tatbestand der Pornografie nicht erfüllt: Im Video gebe es weder eine Nahaufnahme von Geschlechtsteilen, noch seien Erwachsene beteiligt. «Entsprechend fehlt in der Anklageschrift eine exakte Beschreibung der strafbaren Handlungen. Subjektiv, so der Verteidiger, habe Javiera nicht vorsätzlich gehandelt: «So hat sie nicht erkannt, dass der Inhalt des Videos strafbar sein könnte, sondern es als Jux empfunden und wollte die Community an dem Spass teilhaben lassen.» Sollte der Richter wider Erwarten einen Schuldspruch fällen, müsse im Urteil das Augenmerk auf das Kindeswohl gerichtet werden.
Richter Bruno Meyer sprach Javiera schuldig der Pornografie. «Das Gesetz ist in dem Bereich niederschwellig. So sind auch Aufnahmen von Kindern, die sich selbst befriedigen, strafbar – unabhängig davon, ob Erwachsene beteiligt sind oder nicht.» Die Gesetzgebung sei zu Recht streng, was aber den von der Staatsanwältin gestellten Strafantrag – vor allem auch die zusätzliche Busse - keinesfalls rechtfertige.
300 Franken Geldstrafe bedingt, so das Verdikt von Richter Meyer. Und keine Landesverweisung! «Grundsätzlich ist eine solche bei straffälligen Ausländern zwingend. Wir Richter haben aber immerhin einen gewissen Spielraum. Es kann doch wirklich nicht sein, dass wegen eines solchen – Entschuldigung – ‹Blödsinns› eine Familie auseinandergerissen wird.» Der Eintrag im Strafregister allerdings lässt sich nicht vermeiden.