Die Aufregung war gross, als vor Weihnachten 2024 die letzte Postfiliale des Onsernonetals ihre Türen schloss. Es handelte sich um eine Agentur im Gemeindehaus von Loco, die in Zusammenarbeit mit der Post sieben Jahre ihre Dienste angeboten hatte. Die Kosten der Dienstleistung seien nicht mehr tragbar, begründete die Gemeinde Onsernone ihren Entscheid für die Schliessung. Proteste waren die Folge.
Tatsächlich ging für das abgelegene Seitental im Tessin mit nur 600 Einwohnern eine Ära zu Ende. Denn auf den gut 20 Kilometern zwischen Cavigliano und Spruga mit dem Seitenast nach Gresso und Vergeletto gibt es seither keine einzige Poststelle oder Agentur mehr. Das ist symptomatisch für die Entwicklung in peripheren Randregionen.
Cristiano Pessina hat die Entwicklung hautnah mitverfolgt. Er ist der «historische Pöstler» im Tal und geht demnächst – nach über 40 Dienstjahren – im Alter von 62 in Frühpension. «Vor 30 Jahren gab es zehn Poststellen und zehn Pöstler im Tal», erzählt er. Dann wurde die Zahl halbiert und vor zehn Jahren seien nur noch drei Pöstler übrig geblieben, die eine Weile teils am Schalter und ansonsten in der Zustellung arbeiteten. Nach seiner Pensionierung würden wohl die verbleibenden zwei Pöstler die ganze Arbeit machen müssen, prognostiziert Pessina.
Wir treffen den Pöstler und seine Kollegen morgens um 7 Uhr in der ehemaligen Poststelle von Loco. Nun wird dort die Post sortiert, die per Lieferwagen am frühen Morgen vom Verteilzentrum in Cadenazzo eingetroffen ist. Jeder Postbote legt die Briefe in nach Namen und Adressen beschriftete Fächer, um sie dann in einer grauen Kiste für den jeweiligen Rundgang in der richtigen Reihenfolge bereit zu haben.
Auf dem Handy der Pöstler sind Päckchen registriert, die während der Tour ebenfalls abzugeben sind. Auffällig im Depot sind die grossen Kisten von Coop und Migros. Es handelt sich um online bestellte Waren, insbesondere Lebensmittel – teilweise schwere Kisten mit Bier und Wein oder Katzenfutter.
Ein Teil dieser Waren ist für ein Hostel in Loco bestimmt. «Das machen wir am Ende der Tour», sagt Pöstler Michele Celli, den wir auf seinem Rundgang begleiten. Mit dem gelben Post-Kastenwagen fährt er einige Meter, bevor er den ersten Brief und die erste Tageszeitung in einen Briefkasten wirft. Die Empfänger dürfen sich freuen, es ist noch nicht einmal 8 Uhr. Dann geht es weiter talaufwärts nach Berzona, der Gemeinde, in der einst Max Frisch wohnte.
Celli trägt die Post durch die engen Gassen; er weiss genau, wo er was einwerfen muss, auch wenn manchmal sogar der Name am Briefkasten fehlt. «Manche Feriengäste lassen sich Post nur mit dem Namen des Dorfes schicken», erzählt Celli. Es sei nicht immer leicht, die Empfänger ausfindig zu machen. Mit einem GPS käme er auch nicht weiter, weil nicht alle Strassen einen Namen haben. In Loco sind einige Häuser einfach mit «Paese» (Dorf) und einer Zahl verzeichnet.
Hie und da wechselt der Pöstler mit den Empfängern der Post einige Worte. Für viele ältere Menschen im Tal ist der Postbote der einzige menschliche Kontakt am Tag. Eine Seniorin beschwert sich, weil in einer Einkaufstasche gelieferte Lebensmittel verdrückt waren. «Da können wir nichts dafür, wir haben die Tasche schon so aus dem Container genommen», antwortet Celli.
Nach Berzona und Loco und einer kurzen Kaffeepause in der einzigen Beiz im Dorf muss noch Auressio mit der Post versorgt werden. Auch hier sind viele Treppen und Stufen zu bewältigen, die von einem Pöstler körperliche Fitness verlangen. Cristiano Pessina hat gemessen, dass er in einem Jahr rund 2400 Kilometer und einen Höhenunterschied von 600’000 Treppenstufen zurücklegt. Der 57-jährige Celli sagt: «Ich arbeite sechs Tage pro Woche – danach bin ich schon ziemlich müde.» Und er erzählt, wie er einmal sechs Weinkisten mit jeweils sechs Flaschen zu einem abgelegen wohnenden Kunden schleppen musste. Schwerstarbeit.
Die Schliessung der Poststellen hat für gewisse Kunden negative Folgen. Sie müssen beispielsweise für das Abholen eines eingeschriebenen Briefes nun ins – je nach Wohnort – bis zu 40 Minuten entfernte Verscio fahren, wenn sie nicht zu Hause sind. Dort befindet sich jetzt die nächstgelegene bediente Post. Und auch diese ist von einer Schliessung bedroht.
Erstaunt sind die Pöstler im Tal allerdings einstimmig über ein anderes Phänomen. Nur ganz wenige Personen melden sich für den Hausservice an. Nach der Schliessung der Agentur von Loco ist bis jetzt keine einzige Anfrage eingegangen. Dabei zählt dieser Ortsteil immerhin 150 Haushalte und ist die grösste Siedlung im Tal.
Mit dem Hausservice können Briefe verschickt, Pakete aufgegeben werden oder Einzahlungen getätigt werden, der Pöstler kommt dafür bis an die Haustür. Interessierte Kundinnen und Kunden können ihre Bestellungen über eine App oder über einen sogenannten Bestellstift machen, der keine Internetverbindung erfordert.
«Es ist für uns unverständlich, dass dieser Service kaum verlangt wird – das ist sehr schade», sagt Franco Marcovicchio, der das Postteam in der Region leitet. Er könne nicht nachvollziehen, «dass gegen Poststellenschliessung protestiert wird, aber nachher eine Dienstleistung, die besser ist, nicht in Anspruch genommen wird».
Damit verstärkt sich der Eindruck, dass die Proteste gegen die Postschliessungen oft nicht Ausdruck eines realen Verlustes dieser Dienstleistung sind, sondern häufig symbolischen Charakter tragen. Tatsächlich sagt uns ein älterer Herr: «Erst schliesst der Dorfladen, dann der Schalter der Gemeinde, schliesslich die Poststelle – dieses langsame Absterben des Tallebens ist unsere grosse Sorge.» (aargauerzeitung.ch)