Ein Richterspruch, ganz nach dem Gusto der Mafia – Experten kritisieren Urteil
Es war eine gute Nachricht für Kriminelle. In Deutschland etwa knallten die Korken. «Hopp Schwiiz», schrieb ein deutscher Strafverteidiger auf seiner Webseite. «SkyECC-Daten in der Schweiz nicht verwertbar», so der Anwalt, der immer wieder auch Drogenhändler verteidigt.
Über das Urteil, das den deutschen Anwalt so freut, sagt Markus Mohler, früherer Basler Staatsanwalt und Polizeikommandant: «Es käme, falls rechtskräftig, quasi einer Gehilfenschaft für die organisierte Kriminalität gleich, für Drogenhandel und Geldwäscherei.» Die Schweiz würde völkerrechtliche Abkommen verletzen. «Zudem unterliefe sie die internationale Verbrechensbekämpfung anderer Staaten und diskreditierte Zwangsmassnahmengerichte europäischer Rechtsstaaten», sagt Mohler.
Es geht um ein Urteil des Zürcher Obergerichts vom August, das Ermittler und Polizei im ganzen Land aufgeschreckt hat. Darin steht, dass sogenannte SkyECC-Daten in der Schweiz nicht als Beweise verwendet werden dürfen. Die Daten, so das Gericht, seien «absolut unverwertbar», sofern die Beschuldigten sich in der Schweiz befanden, als ihre Chats von Europol abgefangen wurden.
Selbst Kindsmörder käme ungeschoren davon
Absolut unverwertbar – das heisst: unter keinen Umständen. «Selbst gegen einen Kindsmörder, der seine Tat in einem Chat gestanden hat, könnten wir die Daten nicht verwenden«, sagt ein Ermittler.
SkyECC ist bekannt geworden als Messenger von Schwerkriminellen. Etwa sechs Jahre lang hatten Drogenschmuggler, Geldwäscher, Auftragsmörder, Kinderpornoringe über die kanadische App und mit speziellen Handys in Gruppenchats ihre Verbrechen geplant, organisiert und dokumentiert.
Ab 2019 gelang es unter der Führung von Europol, die über Server in Frankreich laufende Kommunikation abzufangen und zu entschlüsseln. Bis 2021, als der Dienst abgeschaltet wurde, waren es mehr als eine Milliarde Nachrichten. Zuletzt konnten die Ermittler die Chats live mitlesen. Und dadurch unter anderem 141 Morde verhindern, wie Europol später angab. Allein im Hamburger Hafen sollen 16 Tonnen Kokain sichergestellt worden sein. Über 60 Verfahren wurden allein in der Schweiz eröffnet, gegen die italienische Mafia, gegen Balkan-Clans, gegen die marokkanische Mocro-Mafia, gegen nigerianische Banden, gegen andere Verbrecher.
Begründung des Gerichts: Souveränität
Aber jetzt sollen diese SkyECC-Daten in der Schweiz unverwertbar sein. Die II. Strafkammer des Zürcher Obergerichts, präsidiert von einem Mitglied der Schweizer Demokraten, begründete dies mit dem «Grundsatz der Territorialität», der im internationalen Strafrecht gelte: Die Staaten müssten «gegenseitig ihre Souveränität beachten».
Frankreich habe vor dem Lauschangriff auf die Gangster-Handys keine Rechtshilfe in der Schweiz beantragt und sei somit nicht berechtigt gewesen, bei uns «Untersuchungs- und Strafverfolgungsmassnahmen» vorzunehmen. Also müssten, so die Richter, sämtliche SkyECC-Daten von Personen, die sich in der Schweiz aufhielten, aus den Strafverfahren entfernt werden. Ebenso die Beweise, die aufgrund dieser Daten erhoben wurden.
Das Obergericht ging sogar noch einen Schritt weiter: Selbst wenn Frankreich Rechtshilfegesuche gestellt hätte, hätten diese abgelehnt werden müssen. Denn es habe am «dringenden Tatverdacht» gefehlt. Man könne ja kaum davon ausgehen, so das Gericht sinngemäss, dass alle rund 170'000 SkyECC-Nutzer kriminell waren. Es habe sicher «auch Journalisten, politische Aktivisten oder Mitarbeiter von Unternehmen» unter den Nutzern gehabt, mutmassten die Richter.
Die Schweiz wird damit zur Insel – in den umliegenden Staaten und in Rest-Europa sind die SkyECC-Daten verwertbar.
Mohler: Richter «vergassen» Schengen-Recht
Für Markus Mohler, Spezialist in Sicherheits- und Polizeirecht, ist das Zürcher Urteil allerdings «unzutreffend», also ein Fehlurteil. Er sagt: «Das Urteil berücksichtigt das Schengen-Recht nicht. Keiner der diesbezüglichen Artikel im schweizerischen Strafgesetzbuch wird auch nur erwähnt».
Das Gleiche gelte, noch erschreckender, «für ein Bundesgerichtsurteil von 2024, auf das sich das Zürcher Urteil stützt». Auch die Verfasser dieses höchstrichterlichen Spruchs ignorierten Artikel 349b im Schweizer Strafgesetzbuch, der sich auf Schengen-Recht bezieht. «Dieser Artikel hebt das Territorialprinzip explizit auf, wenn es um Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten geht», sagt Mohler. Der Artikel besagt, beim Austausch solcher Personendaten mit Schengen-Staaten dürften «nicht strengere Datenschutzregeln gelten als für die Bekanntgabe von Personendaten an schweizerische Strafbehörden».
Staatsanwaltschaft geht vor Bundesgericht
Rechtskräftig ist das umstrittene Urteil nicht. «Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat beim Bundesgericht Beschwerde erhoben», bestätigt Sprecher Erich Wenzinger gegenüber CH Media. Trotzdem sind Ermittlerinnen und Ermittler in der ganzen Schweiz alarmiert. Sollte das höchste Bundesgericht das Zürcher Urteil bestätigen, brächen in Dutzenden von Verfahren wichtige Beweise weg. Dann könnte die Schweiz zum sicheren Hafen für Schwerkriminelle werden, die von hier aus kommunizieren.
Egal, was diese Gangster auf dem Kerbholz haben.
Urteil verursacht grosse Unsicherheit
Das Urteil spielt den kriminellen Gangs und ihren spezialisierten Anwälten schon jetzt in die Hände. Bis ein rechtskräftiger Entscheid vorliegt, kann es Jahre dauern. Bis dahin wissen Ermittler nicht, ob und unter welchen Bedingungen die SkyECC-Daten in der Schweiz verwertbar sind. Zahlreiche laufende Ermittlungen bei Bund und Kantonen werden behindert oder blockiert, sind voller Unsicherheiten.
Daten aus Chats, die von ausländischen Behörden gehackt wurden, kommt oft entscheidende Bedeutung zu. Das zeigt etwa ein Entscheid des Basler Appellationsgerichts von Anfang Oktober. Es kam im Prozess gegen einen Kokaindealer zum Schluss, dass SkyECC-Daten nicht verwertbar sind, weil sie offenbar nicht klar zugeordnet werden konnten. Folge: Von neun Tonnen Kokain, mit denen der Mann gehandelt haben soll, konnten ihm ohne SkyECC nur gerade 4,2 Kilo nachgewiesen werden.
Ermittler von Bund und Kantonen fordern bei Europol seit 2021 systematisch SkyECC-Daten an, um Verbrechen aufzuklären und Täter zu überführen. In fast jedem grösseren Drogenfall spielten diese Daten heute eine Rolle. Ohne die Auswertung der SkyECC-Daten wären ganze Verbrechernetzwerke nicht aufgeflogen.
Beispiele aus der Schweiz:
- Der Balkan-Clan, der in der Schweiz jahrelang grosse Mengen von Drogen absetzte, die Erlöse über ein Luzerner Reisebüro wusch und nach Albanien schaffte, kommunizierte über SkyECC.
- Die albanisch-italienischen Drogenschieber, die von Grenchen SO aus operierten, aufflogen und sich nach Tirana absetzten, wo sie verhaftet wurden, kommunizierten über SkyECC.
- Die sizilianische Mafia-Familie, deren Boss sich mitsamt Vertrauten im Unterwallis niederliess, bevor er in Italien verhaftet wurde, kommunizierte über SkyECC.
- Der belgische Kokain-Boss Flor Bressers, genannt «der Fingerabschneider», der jahrelang unerkannt in der Schweiz lebte, bis er 2022 in Zürich verhaftet und ausgeliefert wurde, kommunizierte über SkyECC.
Nicht nur bei grossen Fällen sind die Daten wertvoll. «Der Wert von SkyECC-Daten besteht nicht zuletzt darin, dass Vorgänge, die man zuvor nicht genau erklären und zuordnen konnte, nun erklärt und zugeordnet werden können», sagt ein Ermittler. Etwa die Übergabe eines Pakets durch einen polizeibekannten Drogenhändler. Erst anhand von Chat-Nachrichten gelinge manchmal der Nachweis, dass es bei der Transaktion um Betäubungsmittel ging.
Was, wenn auch das Bundesgericht zum Schluss kommt, dass gehackte Chats wie jene von SkyECC in der Schweiz unverwertbar sind? Dann werde die Schweiz an Attraktivität für kriminelle Banden gewinnen, sagt ein Ermittler.
Politiker sehen Handlungsbedarf
CH Media fragte Mitglieder aller Parteien an, ob sie Handlungsbedarf sehen, falls das Verwertungsverbot der SkyECC-Daten Tatsache wird. Alle, die antworteten, meinen, dass das Parlament in diesem Fall aktiv werden müsste. Sicherheitspolitikerin Linda De Ventura (SP, SH) sagt: «Falls die abgefangenen Chats der organisierten Kriminalität in der Schweiz tatsächlich nicht als Beweismittel verwendet werden können, zeigt das dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf.» Denn: «Die Täter operieren länderübergreifend, vernetzt und hochprofessionell.»
Allenfalls sei gesetzgeberischer Handlungsbedarf gegeben, um mehr Klarheit zu schaffen und sicherzustellen, dass die Daten bei schweren Straftaten verwendet werden können, sagt Anwalt und Nationalrat Simone Gianini (FDP, TI). Aber: «Die wahllose Nutzung von Daten, die durch Massenüberwachung und unter Verletzung unseres Hoheitsgebiets durch einen anderen Staat gesammelt wurden, darf nicht zugelassen werden.»
Auf Grundrechte und Schutz der Privatsphäre pocht auch der Genfer Anwalt Christian Dandrès (SP), auch er Mitglied der Rechtskommission. Aber ähnlich wie Mohler sagt er, dass die Territorialität hier nicht greife: «Die europäischen Länder, unter ihnen die Schweiz, haben beschlossen, bei der Verfolgung von Straftaten eng zusammenzuarbeiten. Dies ist nötig, um das organisierte Verbrechen wirksam zu bekämpfen.» Es wäre «absurd», Daten nur deswegen nicht zu verwerten, weil sie von der Behörde eines anderen Landes gesammelt wurden.
Nationalrat Dandrès: SkyECC-Nutzer eine kriminelle Vereinigung?
Sollte das Bundesgericht den Zürcher Spruch bestätigen, hätte das Parlament aus Dandrès' Sicht Handlungsbedarf: «Sonst wird das organisierte Verbrechen dieses Schlupfloch nutzen. Die Kriminellen werden die Grenze überqueren, um in der Schweiz von Straffreiheit zu profitieren.»
Der Genfer Anwalt geht noch einen Schritt weiter in Bezug auf SkyECC: «Man kann sich fragen, ob die Nutzung dieses Netzwerks unter Mafiosi nicht so weit verbreitet war, dass es selbst als kriminelle Vereinigung anzusehen ist.» (aargauerzeitung.ch)