In den Achtzigerjahren, erzählte ein alter Winterthurer Mafioso einem Boss aus Italien, «kamen so viele Familien aus Giffone hierher». Er zählte unter anderem die «Alten der Familie A.*» auf und eine Handvoll Mitglieder der Familie B.* Und erwähnte auch Mitglieder der Familien C.* und D.*
Das von den schweizerisch-italienischen Ermittlern abgehörte Gespräch fand im Rahmen einer «Mangiata», eines Clan-Essens, Ende Mai 2020 in einem Winterthurer Schrebergarten statt. Die Abhöraktion gehörte zur Anti-Mafia-Operation «Nuova Narcos Europea», die im November 2021 durch Verhaftung von 104 Mafia-Verdächtigen in Italien und der Schweiz ihren vorläufigen Höhepunkt erlebte.
In Zentrum dieser ’Ndrangheta-Aktivitäten in der Schweiz steht der Clan der Larosa aus Giffone in Kalabrien. Boss Giuseppe Larosa alias Peppe la Mucca (Sepp die Kuh) war selbst bis zu seiner Verhaftung 2014 in der Schweiz aktiv, genauer im Bündnerland. Jetzt sitzt er auf Sardinien im Gefängnis. Aber andere Clan-Mitglieder sind längst in die Bresche gesprungen, führten die Geschäfte weiter und bauten sie wohl noch aus.
Recherchen zeigen: Die an der «Mangiata» in Winterthur genannten Familien haben sich nicht nur in Zürich, sondern insbesondere im Bündnerland ausgebreitet und entlang einer Art Kokain-Achse durch die Alpen installiert (siehe Grafik) und Posten aufgestellt: Um Transport, Lagerung und Verteilung der Ware sicherzustellen. Auf umgekehrtem Weg, nach Süden, transportierten die Clans Waffen und Sprengstoff, wie die neusten Ermittlungen ebenfalls bestätigen.
Eine Drehscheibe mit diesem lukrativen und dreckigen Geschäft mit den Drogen ist Davos. Dort haben verschiedene - gemäss italienischen Untersuchungsakten aktiv in die mafiösen Geschäfte verwickelte - Mitglieder der an der Winterthurer «Mangiata» erwähnten Familien ihren Wohn- und Geschäftssitz.
Dazu gehören drei Brüder aus der «Winterthurer» Familie A., die ihre Wurzeln in Giffone hat. Zwei von ihnen sind mit ihren aus Kalabrien stammenden Ehefrauen in Davos domiziliert, haben aber auch Adressen in Italien. Auch zumindest ein dritter Bruder ist in diesem Davoser Umfeld auszumachen. Alle drei nahmen laut italienischen Ermittlern an Mafia-Essen, einer so genannten Mangiata, in der Lombardei teil. Gegen aussen hin sind die Brüder als Angestellte im Bereich Gastronomie und Baugewerbe tätig.
Aus abgehörten Gesprächen wurde aber klar, dass sie und andere Clanmitglieder angaben, ausschliesslich vom Kokainhandel zu leben, und dass sie nur zum Schein und durch fiktive Anstellung über Briefkastenfirmen Arbeitstätigkeiten auf schweizerischem Boden nachgingen. In der Schweiz, staunten italienische Ermittler, seien solche «Arbeitsverhältnisse» offenbar leicht zu bewerkstelligen.
Tatsächlich zeigen weitere Recherchen schnell einmal: Einer der Brüder gründete 2019 eine Importfirma in Davos, die er noch im gleichen Jahr wieder löschen liess. Danach gründete er in Winterthur mit einem anderen Italiener eine Firma für «Transporte aller Art».
Dieser Bruder der Familie A. ist mutmasslich besonders tief in die Drogengeschäfte verstrickt. Von ihm heisst es, dass er mit einem anderen Clan-Mitglied nach Brasilien reiste, um den «Versand» eines Schiffscontainers mit 388 Kilo Kokain zu organisieren. Die Aktion war ein Flop, die Drogen wurden im Dezember 2019 von der italienischen Justiz im Hafen von La Spezia abgefangen.
Dieser Bruder gilt auch als Hauptdrahtzieher in einem Schmuggelfall des Clans von 11 Kilo Kokain, der im September 2020 an der Zollstelle Kriessern SG aufflog. Das Kokain sollte eigentlich in ein Lager nach Malans GR gebracht werden. Doch ein für den Clan arbeitender Sizilianer im Mini Cooper mit doppeltem Boden wurde von der Grenzwache erwischt. Das Kokain gehörte zu einer Lieferung von mindestens 367 Kilo, die per Luftfracht aus Brasilien in Frankfurt angekommen war.
Die Kalabrier befürchteten, dass der Sizilianer, dem sie plötzlich nicht mehr trauten, in Haft ihre Geheimnisse ausplaudern könnte. Sie stellten ihm daher sofort einen, wie die italienischen Ermittler sagen, «Anwalt der `Ndrangheta» aus dem Kanton Zürich zur Seite. Um zu kontrollieren, was der Kurier den Ermittlern gegenüber aussagte. Der Anwalt konnte seinen Auftraggebern in der Folge offensichtlich Positives berichten: «Der Sizilianer ist gerissen .... er hält immer an der gleichen These fest und hat eine Geschichte erfunden», erzählten sich Mafiosi am Telefon und waren vorerst etwas beruhigt.
Vertreten ist in Davos und in Vilters SG auch die an der Winterthurer «Mangiata» erwähnte Familie B. Ein Mitglied wird verdächtigt, für den Clan die Autos mit Drogenverstecken präpariert zu haben: in einer claneigenen Karosseriewerkstatt in der Provinz Como.
Die Familie B. ist besonders eng mit den Larosa. Die Tochter von Boss «Peppe la Mucca» heiratete einen Sprössling der B. Er ist derzeit laut Ermittlern vom Kanton Solothurn aus im Kokain-Geschäft im Einsatz. Und führt dort auch ein Restaurant.
Ein in der Larosa-Sippe gut verankertes Mitglied der Familie C. wiederum hat sich in Domat/Ems installiert. Der Lastwagenfahrer wird verdächtigt, Waffen in den Süden geliefert zu haben.
Auffallend viele der mutmasslichen Mafiosi wirkten über die Zeit als Baggerfahrer für lokale oder landesweit bekannte Bauunternehmen. Die Mafiosi suchen derartige Anstellungen, um Aufenthaltsbewilligungen in der Schweiz zu erhalten.
Einen der in Graubünden stationierten Drahtzieher des Kokaingeschäfts, der auch im Waffenhandel aktiv sein soll, findet man im Internet, abgebildet auf dem Bagger einer grossen Schweizer Bauunternehmung sitzend. Jetzt sitzt auch er in Untersuchungshaft.
Ohnehin posten die mutmasslichen Mafiosi gerne Bilder von sich in schöner Alpenumgebung und mit Vorliebe im Schnee. Damit holen sie sich in Kalabrien regelmässig Applaus.
Ältere derartige Bilder zeigen den Vater eines anderen Drahtziehers, wie er im Bündnerland auf dem Bagger sitzt. Dieser Vater ist offensichtlich ein Vertrauensmann von Giuseppe Larosa, dem obersten Clan-Boss, und weist wechselnde Wohnsitze auf der Achse Sargans SG–Flims GR auf. Sein Sohn, Beschuldigter im neuen Verfahren, ist der engste Vertraute von Larosa junior, der das Schweiz-Geschäft leitete. Bis er letztes Jahr mit einem Kilo Drogen im Auto erwischt und erstmals verurteilt wurde. Derzeit sitzt er in Giffone in Kalabrien den Rest der Strafe unter Hausarrest ab.
Ein von CH Media befragter lokaler Bauunternehmer im Bündnerland, der über die Zeit mehrere Mafiosi beschäftigt haben muss, gibt an, die Leute seien unauffällig und angenehm gewesen, es sei nie ein Verdacht aufgekommen. Die Unterkünfte, in denen die Kalabrier regelmässig Verwandtenbesuch aus Italien erhielten, eigneten sich jedenfalls gut für mafiöse Absprachen und Umtriebe.
Ein weiterer Schwerpunkt ist Chur. Dort sind mehrere Mafiosi festzustellen, die im Kokain-Geschäft der Larosa eine zentrale Rolle spielen. In Chur sind verschiedene Akteure aktiv, die laut Ermittlungen am Drogenhandel im grossen Stil beteiligt sind. Dazu gehört E.*, der in Chur wie auch Küblis Firmen im Bereich Gastronomie registriert hatte. An Adressen, an denen mitunter auch Mitglieder der Larosa-Familie gemeldet waren. Für die unauffällige Verteilung der Drogen setzt der Clan im Kanton Graubünden offensichtlich auf Restaurants. Ein derartiges Restaurant befindet sich beispielsweise in der Surselva.
Die ’Ndrangheta ist Familiensache. Fällt der Boss aus, wird er im operativen Geschäft familienintern ersetzt. Im Fall der Larosa ersetzte zunächst der Sohn den Boss in der Schweiz. Als dieser in den Knast kam, übernahm der Onkel aus Mailand. Jetzt sitzt auch der im Gefängnis.
Ein Boss nach dem anderen wird verhaftet, grosse Drogenlieferungen aus Südamerika werden abgefangen: Die Larosa scheinen derzeit etwas angeschlagen. Rivalisierende `Ndrangheta-Familien aus Kalabrien feierten kürzlich voller Schadenfreude die «Pechsträhne» des in Giffone nicht nur beliebten Clans.
Es gilt die Unschuldsvermutung.
*Namen der Redaktion bekannt (aargauerzeitung.ch)