Die Vorstellung macht Angst. Du betrittst das Bahnhofperron und läufst in Richtung deines bereits wartenden Zuges. Und dann passiert es. Scheinbar aus dem Nichts kommt von oben ein 2,275 Kilogramm schwerer Schachtdeckel aus Gusseisen herabgesaust, trifft dich mit einer Geschwindigkeit von 53 Stundenkilometern am Kopf. Die Kraft des Aufpralls ist heftig. Es ist, als ob dich jemand mit der flachen Seite einer Spaltaxt niederschlagen würde. Du bist ein Zufallsopfer. So abgedroschen es klingt: Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort.
Genau dies ist einem Fan des FC Zürich am 13. Mai 2017 passiert, nachdem er im Anschluss an ein Auswärtsspiel seines Teams in Winterthur in den Zug einsteigen wollte. Der heute 28-Jährige verdanke es «einem Heer von Schutzengeln», dass er den Aufprall überlebt habe, sagte seine Anwältin am Donnerstag vor dem Bezirksgericht Winterthur, als der mutmassliche Schuldige sich für die Tat rechtfertigen muss. Er, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, versucht zu haben, den Fussballfan vorsätzlich zu töten.
Enrico F.*, 22 Jahre alt, Rund-um-den-Mund-Bartflaum – blickt meist ausdruckslos in den Gerichtssaal, lässt die ganze Gerichtsprozedur über sich ergehen. Seine Ellbogen auf dem Tisch abgestützt, die Hände ineinander verschlungen. Mit leiser und brüchiger Stimme beantwortet er die Frage der Richterin, wird zwei Mal aufgefordert, lauter zu sprechen. Er sei eigentlich kein Fussballfan und gehe nur selten ins Stadion, betont er. Die meisten seiner kurzen Sätze enthalten jedoch ein «weiss ich nicht», «anscheinend» oder «vermutlich».
Denn wenn die Behauptung des Beschuldigten stimmt, dann kann er sich an praktisch nichts mehr vom fraglichen Abend erinnern. Ein Filmriss – ausgelöst durch die fünf bis sechs Halbliter Becher Bier, die er im Stadion innerhalb von zwei Stunden in sich hineingeschüttet hat. «Es war warm, und so ging es vermutlich umso schneller runter», sagt er, der es sich nicht gewohnt sei, so viel Alkohol zu trinken.
So will Enrico F. nichts mehr davon wissen, dass er auf der zweiten Parketage am Bahnhof Winterthur einen Schachtdeckel aus dem Boden gelöst haben soll, um ihn anschliessend 11 Meter und 13 Zentimeter in die Tiefe zu werfen. Aufs Perron 9, wo um diese Uhrzeit, 20.08 Uhr, die Fans des FC Zürich in ihren Sonderzug einsteigen. Dem Wurf zuvor ging eine verbale Auseinandersetzung mit Zürcher Fans auf Distanz. Auch Stinkefinger wurden dabei ausgetauscht.
An all dies will oder kann sich der Beschuldigte nicht erinnern. Sein Verteidiger spricht von einem Vollrausch. «Seine Erinnerungslücken deuten darauf hin, dass er nicht wusste, was er tat.»
Richterin: «Wer hat den Schachtdeckel auf die Fans geworfen?»
Beschuldigter: «Anscheinend ich.»
Richterin: «Was kann passieren, wenn man einen Schachtdeckel auf Menschen wirft?»
Beschuldigter: «Es kann jemand sterben.»
Richterin: «Wieso haben sie den Schachtdeckel geworfen?»
Beschuldigter: «Das weiss ich bis heute nicht.»
Nur zögerlich gesteht der Beschuldigte die Tat ein. Doch die Beweislage ist erdrückend. Neben Foto- und Filmmaterial, das Enrico F. gemeinsam mit einem Kollegen auf der Parketage zeigt, spricht vor allem eines gegen den Beschuldigten: Die Whatsapp-Nachricht, die drei Minuten nach dem Wurf von seinem Handy aus an seine damalige Freundin geschickt wurde. Der Inhalt dieser Nachricht las die Richterin immer und immer wieder vor. Verbale Peitschenhiebe.
Die orthographisch fehlerfreie Nachricht mit klarer Botschaft ist für den Staatsanwalt Beweis genug, dass der Beschuldigte zu dem Zeitpunkt gar nicht so betrunken war, wie er jetzt dem Gericht weismachen will. Der Alkoholkonsum sei einfach eine Ausrede, um sich vor der Verantwortung zu drücken. Es sei am einfachsten zu sagen, «ich war betrunken. Ich weiss es nicht. Es tut mir leid.» Der Staatsanwalt spricht von einem «egoistischen und pubertären Machtgehabe» mit schrecklichen Folgen.
Schädelkalottenfraktur links, Blutungen unter dem Schädelknochen und in den Hirnhäuten sowie Prellung der linken Schulter. Das sind die Verletzungen, die beim FCZ-Fan im Kantonsspital Winterthur festgestellt wurden. Nach drei Tagen konnte er wieder aus dem Spital entlassen werden, die Folgen spüre er aber noch heute, so die Anwältin des Opfers. Dumpfe und klopfende Kopfschmerzen. Ein Druckgefühl im Ohr.
Sein Mandant sei ein «gutmütiger und friedfertiger Mensch», sagt der Verteidiger von Enrico F. und mahnt das Gericht Nachsicht walten zu lassen und auf eine unbedingte Freiheitsstrafe zu verzichten. «Niemand will, dass der Beschuldigte zukünftig vom Sozialamt abhängig sein wird und erst recht auf der schiefen Bahn landet.»
Auf diese war er bereits vor dem Mai 2017 geraten. Enrico F. wurde am 11. Februar 2016 vom Bezirksgericht Winterthur wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 15 Monate verurteilt. Da der Schachtdeckelwurf noch innerhalb der Probezeit stattfand, könnte die damalige Strafe an die allfällige jetzige angerechnet werden. So fordert die Staatsanwaltschaft zusammengerechnet eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren.
Die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Da nicht mit absoluter Sicherheit nachgewiesen werden könne, dass tatsächlich der Beschuldigte den Schachtdeckel geworfen hätte und nicht etwa sein Kollege.
Das Urteil wird morgen Freitag um 11 Uhr verkündet. Es gilt die Unschuldsvermutung.
* Name von der Redaktion geändert.