Camorra-Geld im Tessin – und ein umstrittener Freispruch in Lausanne
«Diese Art von Geldfluss ist besorgniserregend», zitierte der «Corriere del Ticino» am 28. Mai 2021 Fiorenza Bergomi, die Einzelrichterin am Bundesstrafgericht in Bellinzona. Sie hatte soeben einen Juwelier aus Lugano, einen Italiener, verurteilt. Wegen Geldwäscherei, mangelnder Sorgfalt bei Finanztransaktionen und Tätigkeit ohne Bewilligung der Finanzmarktaufsicht (Finma).
Die Zeitung stellte fest, der Fall zeige «ein chronisches Problem unseres Finanzplatzes» auf: die Leichtigkeit, mit der Kapital mit Verbindungen zur Mafia dorthin gelange.
Im Zentrum des Verfahrens, das Resultat einer schweizerisch-italienischen Justizzusammenarbeit, stand eine Schattenbank der neapolitanischen Camorra in Mailand, über die Millionen gewaschen wurden. Die Bundesanwaltschaft betrachtete den Juwelier als Helfer dieses Systems; dieser Einschätzung folgte auch die erstinstanzliche Richterin. Sie hielt es für erwiesen, dass der Juwelier – was dieser bestritt – um die mafiöse Herkunft von 639’000 Franken wusste, die in zwei Tresoren seiner Firmen lagerten. Ein im Tessin lebender «Finanzagent» der Mafia, der einst mit der Schwester des Juweliers liiert war, hatte es dort deponiert.
Der Finanzagent hatte sogar ausgesagt, der Juwelier habe ihm geholfen, das Geld im Tresor zu deponieren. Zudem gab es drei entlarvende Selfies, wie Tessiner Medien berichteten: Die Fotos zeigten den Juwelier und den Geldwäscher mit einem Haufen von Bündeln von 1000er-Noten. Es waren die gleichen Scheine, die später in den Tresoren des Juweliers beschlagnahmt wurden.
Die Richterin verurteilte den Juwelier zu einer Geldstrafe auf Bewährung. In einer Reihe von anderen Anklagepunkten – es ging unter anderem um den Kauf von Diamanten im Wert von 750'000 US-Dollar bei einer israelischen Firma – sprach sie den Mann mangels Beweisen frei. Die Berufungskammer in Bellinzona bestätigte den Spruch später in allen Teilen.
Ein befangener Bundesrichter am Werk?
Nicht so das Bundesgericht in Lausanne – es sah den Juwelier frei von Schuld. Mitte 2024 hob es das Urteil auf und schickte den Fall zur Regelung der Entschädigungsfrage für den Beschuldigten nach Bellinzona zurück. Die höchsten Richter befanden: Die Geldwäscherei sei nicht bewiesen. Zwar habe der Juwelier wissen müssen, dass die Berge von Tausenderscheinen aus kriminellen Geschäften stammten. Aber er habe nicht wissen müssen, dass dieses Geld später in seinen Tresoren landete.
Nicht nur die Bundesanwaltschaft staunte über diese Wendung. Von einer «unerwartet gutgeheissenen Beschwerde» schrieb der Solothurner Rechtsanwalt Konrad Jeker, Betreiber des Blogs strafprozess.ch.
Ab hier wird der Fall speziell. Teil des dreiköpfigen Lausanner Spruchkörpers war mit Giuseppe Muschietti (FDP) ein Bundesrichter, der mit dem Fallkomplex bereits früher zu tun hatte – noch in seiner Zeit als Bundesstrafrichter in Bellinzona. 2018 sprach er als Einzelrichter einen Compliance-Verantwortlichen eines Finanzinstituts vom Vorwurf der Verletzung der Geldwäsche-Meldepflicht frei. Gleichentags sprach er eine Treuhänderin vom Geldwäschevorwurf frei. Beide erhielten hohe Entschädigungen.
Rechtsanwalt Jeker kam in seinem Blog zum Schluss: Der Bundesrichter hätte in den Ausstand gehört. Kürzlich staunte auch die «Weltwoche»: Beim Lausanner Freispruch sei Muschetti sogar Referent gewesen, «also der für die Urteilsredaktion verantwortliche Richter». Sprich die treibende Kraft.
Die Bundesanwaltschaft reichte in Lausanne ein Revisionsgesuch ein, verlangte also eine Neubeurteilung. Die Präsenz von Muschietti im Spruchkörper habe die Vorschriften über den Ausstand verletzt. Das Urteil, das er 2018 als Einzelrichter fällte, habe den gleichen Grundsachverhalt betroffen: Der freigesprochene Compliance-Mann und der Juwelier seien Beschuldigte im gleichen Verfahren gewesen. Zusammen mit sieben weiteren Beschuldigten.
Kollegen des Richters lehnen Revision ab
Das Revisionsgesuch landete bei der gleichen strafrechtlichen Abteilung. Muschietti gab an, er sehe keine Ablehnungsgründe gegen seine Person. Und sowieso hätte die Bundesanwaltschaft seinen Ausstand früher beantragen müssen. So sahen es auch seine Abteilungskollegen. Mit Urteil vom 11. Juli 2025 traten sie auf das Revisionsgesuch nicht ein.
Die Begründung: Die Bundesanwaltschaft hätte den Ausstand früher verlangen müssen. Zwar wird die Zusammensetzung der Spruchkörper nicht vorgängig publiziert, jene der zuständigen Abteilung sei jedoch bekannt gewesen. Die Bundesanwaltschaft hätte den Ausstand vorsorglich verlangen und nicht das Urteil abwarten dürfen.
Die Verfahrensparteien dürften sich also nicht mehr darauf verlassen, dass Richter ihre Ausstandspflichten selbst erkennen und wahrnehmen, warnte Anwalt Jeker in seinem Blog.
Einem anderen Fach-Blog, inside-justiz.ch, fiel ein Widerspruch auf. Ausgerechnet Patrick Guidon (SVP), einer der drei Richter, die über das Revisionsgesuch entschieden, hatte noch 2014 in der Fachzeitschrift Plädoyer betont: «Das aktive Offenlegen ist richtig und wichtig. Ich plädiere für einen offensiven Umgang mit möglichen Ausstandsproblemen.»
Zum Mafia-Fall: Zwei ehemalige führende Mitglieder der «Nuova Famiglia» betrieben in Mailand eine Camorra-Bank mit Aktivitäten in der Lombardei, im Tessin und in Ungarn. Sie vergab unter anderem Wucherkredite an Unternehmen. Einer der Finanzagenten war jener Mann, der in den Tresoren des Juweliers Tausenderbündel deponierte. Über Strohleute sollen er und seine Familie rund 4,25 Millionen Franken bei Tessiner Geldinstituten angelegt haben.
Der Juwelier trat zeitweise als Organ einer Handelsfirma in Lugano auf. Diese galt als Scheinfirma der Camorra und diente unter anderem dazu, ihrem Finanzagenten eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz zu verschaffen. 2016 wurden der Finanzagent und die Betreiber der Camorra-Bank in Italien zu Haftstrafen von bis zu 12 Jahren verurteilt.
Geldwäsche-Verdächtige dürfen in Lausanne auf Milde hoffen. Das zeigte sich 2022 auch im Fall eines Tessiner Treuhänders, der überraschend vom Vorwurf der Kokain-Geldwäsche freigesprochen wurde. Die Vorinstanz hatte ihn noch verurteilt.
An diesem Urteil von 2022 wirkte Muschietti nicht mit, obwohl er der einzige italienischsprechende Richter in der Abteilung war. Das Bundesgericht begründete damals gegenüber CH Media: Muschietti habe 2017 am Entscheid der Vorinstanz mitgewirkt. Er war also im Ausstand. (aargauerzeitung.ch)
