Der italienische Journalist und Mafiaexperte Roberto Saviano hat sich dem Recherchieren über das organisierte Verbrechen verschrieben. Indem er über die Machtstrukturen der Mafia schreibt, riskiert er auch sein Leben, denn er benennt Namen und Netzwerke. Sein neuestes Werk «Treue, Liebe, Begehren und Verrat – Die Frauen in der Mafia» beleuchtet nun das andere Geschlecht. Es geht im Buch darum, welche Rollen die Frauen in der Mafia einnehmen und wie die emotionalen Beziehungen instrumentalisiert werden, schreibt das SRF.
Die Funktion der Frauen zeigt Saviano anhand realer Geschichten aus den vergangenen 40 Jahren. Seine Erkenntnisse zieht er beispielsweise aus Gerichtsprozessen, Urteilsbegründungen oder Gesprächen mit Ermittlern oder Kronzeuginnen.
Auch an die Frauen in der Mafia gibt es genaue Erwartungen, wie sie zur Organisation beitragen können. Ein wichtiger Punkt ist die Mutterschaft, damit das Fortleben der Mafia gesichert ist. Eine schwangere Frau ist somit ein Muss für jeden Mafioso. Ohne Kinder wird ein Paar geächtet.
Diesen Zustand zeigt der Autor anhand der Geschichte von Vincenzina Marchese. Diese heiratete 1991 Leoluca Bagarella, einen weltweit gesuchten Boss der Cosa Nostra, der bis in die 90er als einer der gefährlichsten Verbrecher galt. Auch davor lebte sie «im Dunstkreis der Mafia».
Marchese hatte mehrere Fehlgeburten: «Sie fühlte sich so unzulänglich, dass sie sich umgebracht hat», sagt Saviano. Keine Kinder zu haben, sei für einen Mafiaboss nämlich wie ein Machtverlust.
Emotionen und Sex würden dafür genutzt werden, die Macht der Mafia zu stärken. Die Frauen müssten deshalb auch die eigenen Kinder in den Mafia-Clan eingliedern. Im Erwachsenenalter sollen diese dann geeignete Personen ehelichen und Berufe wählen, die der kriminellen Struktur von Nutzen seien.
Die Nachkommen der Bosse müssen heutzutage auch nicht mehr in die Fussstapfen des Vaters treten, sondern können der Organisation auch als Anwalt, Arzt oder Politiker «mit einer weissen Weste» dienen. Die Mütter müssen deshalb dafür sorgen, dass sie diese Positionen erreichen.
Die Mafia-Frauen haben es gemäss Saviano nicht leicht, beispielsweise wenn Familienmitglieder getötet werden oder spurlos verschwinden. Gemäss Saviano ertragen das viele Frauen nur dank eines starken Konsums von Psychopharmaka.
Die Frauen dürften zudem über die Vorgänge kein Wort verlieren und müssen absolut loyal sein. Das heisst, sie dürfen ihre Leute nicht verraten, müssen sich nach dem Clan richten und die Regeln der Mafia den Kindern weitergeben. Der Journalist sagt dazu: «Ohne Loyalität gibt es keine Mafia.»
Laut Saviano nehmen die Frauen aber nicht nur traditionelle Geschlechterrollen ein. In den vergangenen 30 Jahren seien sie immer höher in der Hierarchie der Organisation aufgestiegen, vor allem in der neapolitanischen Camorra. «Frauen haben hier im Drogenhandel mit Südamerika eine zentrale Rolle übernommen. Sie stehen heute an der Spitze der grossen Kartelle», meint der Journalist.
Die Frauen hätten oft das Sagen bei den kriminellen Geschäften, wenn der Ehemann beseitigt wurde oder in Haft sitze. Im Gegensatz zu den Männern greifen die Frauen dabei weniger selbst zur Waffe. Jedoch bleibt die extreme Gewalt durch beispielsweise den Auftrag zum Mord bestehen, indem Clan-Mitglieder stellvertretend Verbrechen ausführen.
Einige der Frauen, welche an die Spitze der Clans gelangten, möchten aber die Regeln der Organisation nicht mehr einhalten. Sie brechen ihr Schweigen und sagen gegen den Clan aus. Das Ziel dabei ist es, selbst strafmildernde Umstände zu erhalten und in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden. Der Stellenwert der Kronzeuginnen werde immer wichtiger, meint Saviano. Denn die Justiz gehe davon aus: Die Frauen wissen alles.
Der italienische Journalist hat für seine Recherchen mit vielen Kronzeuginnen gesprochen. Eine davon ist Rosa Di Fiore aus Apulien, die heute nicht mehr unter diesem Namen lebt. Ihre Eltern waren in den 80er-Jahren in der Schweiz tätig. Als die Familie nach Italien zurückging, verliebte sich Di Fiore in Pietro Tarantino. Der Sprössling einer Mafia-Familie faszinierte sie. Obwohl ihre Eltern an der Verbindung zweifelten, heiratete Di Fiore ihn und stieg in den Handel mit Heroin und Kokain ein.
Laut Saviano gibt es bei den Kronzeuginnen gemischte Gefühle, wenn sie über die Zeit bei der Mafia sprechen. «Ich sehe, dass sie zittern, wenn sie von ihrem früheren Leben erzählen. Ich spüre oft, dass sie in der neuen Lebensphase aufrichtig sind, zugleich aber auch nostalgisch angesichts des immensen Reichtums und der Macht, die sie früher hatten.»
Die Frauen nehmen viel auf sich, indem sie unter einer neuen Identität nach Norditalien oder in ein anderes Land ziehen. Ihre Familien dürften sie nicht mehr sehen. Saviano erzählt: «Sie führen alle ein verzweifeltes Leben. Viele von ihnen zeigen Reue, nicht wegen eines moralischen Dilemmas, sondern weil sie Angst haben, zu sterben.»
Saviano recherchiert seit 20 Jahren im Feld der organisierten Kriminalität. Dafür zahlt auch er einen hohen Preis. Er lebt zurückgezogen und ist auf Polizeischutz angewiesen. (kek)