Ein Meer aus Regenschirmen und kapuzenbedeckten Köpfen in allen Farben hat sich am Freitag gegen 18 Uhr auf dem Zürcher Helvetiaplatz ausgebreitet. Plötzlich durchbrechen Trommelschläge und Pfiffe das Stimmenwirrwarr. Geschätzt 2000 Menschen beginnen, sich in einer breiten Schlange zu formatieren. Sie halten Banner in den Händen: «Kämpfe verbinden» ist in violetter Schrift zu lesen, «Gegen die Krisen» in mattgrün.
SP-Nationalrätin Jacqueline Badran macht Fotos vom Kopf des Demozuges. Mit beiden Händen hält sie ein Handy, in der Armklemme ein Regenschirm, im Mundwinkel steckt die angezündete Zigarette. Sie winkt, hält den Daumen hoch und eilt zur Seite, um den Aktivistinnen und Aktivisten Platz zu machen. Der Zug marschiert los.
Die Schweizer Klimabewegung ist grösser geworden. Aus den «Fridays for Future», an denen Schülerinnen und Schüler auf den Strassen demonstrierten, statt im Schulzimmer zu sitzen, wurde ein «Streik für eine ökologische, solidarische und gerechte Zukunft für alle». So steht es im neuen Manifest.
Bereits im März war klar, dass die Klimabewegung in neuer Formation auftreten wird. An einer Pressekonferenz gab das Streikkomitee bekannt, dass sie sich mit anderen Bewegungen vernetzt und einen Klimaaktionsplan entwickelt habe.
Unter dem Slogan «Strike for Future» gingen sie nun am 21. Mai, zusammen mit Gewerkschaften, feministischen sowie queeren Kollektiven und anderen Organisationen auf die Strassen. Es ist der erste grosse Klimastreik seit Ausbruch der Pandemie. Mit dem Fahrrad, zu Fuss oder tanzend trugen die Aktivistinnen und Aktivisten ihre Forderungen schweizweit in die Öffentlichkeit.
Eine der Personen, die sich an diesem Tag aktivistisch engagiert, ist Saskia Kircali von der Gruppe Klimafeminismus. Auf die Frage, was Feminismus mit der Klimaerwärmung verbindet, sagt Kircali: «Die Natur wird ausgebeutet, als wären ihre Ressourcen unendlich. Es wird als selbstverständlich angesehen. Das Gleiche passiert bei klassisch feminisierten Berufen, wie der Pflege oder der Haushaltsarbeit.»
Die Kämpfe gegen die sozialen und ökologischen Krisen hängen zusammen, sagt auch Annika Lutzke vom Klimastreik. «Wir wollen eine gerechte Zukunft. Die Klimawende bedingt auch den Wandel zu einer faireren und sozialeren Gesellschaft.»
Dass sich die Klimabewegung nun verstärkt auf soziale Fragen bezieht, gefällt auch den Gewerkschaften. Der Schweizer Gewerkschaftsbund schreibt im Voraus: «Ohne Klimawende keine gerechte Wirtschaft». Überhaupt hätten die Arbeitsrechte mit der Klimaerwärmung viel mehr zu tun, als man meine, sagt Unia-Sprecher Dimitri Aich. «Bauarbeitende, Gärtnerinnen oder Gärtner, die ständig draussen sind, kriegen die höheren Temperaturen zu spüren. Das Klima wirkt sich viel direkter auf sie aus als auf einen Büro-Mitarbeitenden», so Aich.
Der Strike for Future ist in vollem Gange. Bauarbeiter, Gärtner*innen und Gastro- und Reinigungsangestellte zeigen auf, welche fatalen Auswirkungen die Klimaerhitzung auf ihre Arbeitsbedingungen hat. 🌏‼ #StrikeforFuture #21mai @klimastreik
— Gewerkschaft Unia (@UniaSchweiz) May 21, 2021
Mehr Infos: https://t.co/0WiBcCeE6z pic.twitter.com/pY2iPPlg7e
Die Corona-Pandemie hätte aufgezeigt, dass eine Wende hin zu einer faireren Gesellschaft dringend nötig sei, findet Aich. Und das lieber früher als später: «Wir wollen jetzt proaktiv handeln. Eine Klimakrise wird die gleichen Probleme wie die Corona-Pandemie mit sich bringen. Menschen aus der Pflege werden wieder gefordert und Arbeitende aus den tieferen Lohnbranchen ans Existenzminimum gebracht.»
«Alle» inkludieren wollen: Wird die Bewegung dem gerecht? Oder führt diese Bemühung vielmehr dazu, dass einige bewusst ausgeschlossen werden? Einige, die sich gegen die Klimawende engagieren wollen, sich aber nicht hinter das Gesamtpaket an Forderungen stellen können? Mit Arbeitgeberverbänden hat sich die Bewegung beispielsweise nicht verbündet.
Menschen und Organisationen vom bürgerlichen Spektrum inkludieren, wollte das Streikkomitee zwar, sagt Lutzke. «Aber das hat nicht geklappt. Sie wollten sich nicht hinter unsere Forderungen stellen.»
Die junge Aktivistin spricht von einem Aktionskonsens, der massgebend ist, um Teil des «Strike for Future» zu sein. «Wir schliessen ja nicht Verträge ab oder verteilen Anmeldeformulare, mit denen man dann dabei ist. Dabei ist, wer unser Anliegen teilt.»
Dass eine soziale Bewegung wachsen und möglichst viele Mitstreitende gewinnen will, liege in ihrer Natur, sagt die Politikwissenschaftlerin Michelle Beyeler. «Und das ist das, was der Klimastreik jetzt macht.» Beyeler ist Privatdozentin an der Universität Zürich und hat zu sozialen Protestbewegungen geforscht.
Sich mit anderen Organisation zu verbünden sei eine Chance, die eigenen Anliegen durchzusetzen, sagt die Wissenschaftlerin. Allerdings berge das auch Risiken: «Wenn sich die Anliegen zu sehr zersplittern, schwächt das die Bewegung. Einigkeit macht sie stark.»
Soziale Bewegungen koordinierten sich über einen Konsens bezüglich ihrer Anliegen und Taktiken, wie Streiks, Demos oder andere Aktionen. «Wenn nun gewisse Gruppen, Gewerkschaften oder feministische Kollektive, sehr aktiv sind, können diese den Konsens in Richtung ihrer Forderungen beeinflussen.»
Als Beispiel dafür nennt Beyeler die Corona-Demonstrationen: «Wo sich anfangs Menschen gegen starke Corona-Massnahmen sammelten, kamen mit der Zeit rechtsextreme Gruppierungen hinzu und beeinflussen nun vermehrt den Konsens der Bewegung in ihre Richtung.»
Ob die Klimabewegung auch Gefahr laufe, unterwandert zu werden, kann Beyeler nicht beurteilen. «Die Radikalisierungsfrage ist sicher angebracht». Was allerdings dagegen spreche: «Viele Aktivistinnen und Aktivisten, die am Anfang bei der Klimabewegung dabei waren, sind es immer noch. Sie wären vermutlich abgesprungen, wenn die Bewegung schon zu radikal und vom ursprünglichen Konsens abgekommen wäre», sagt Beyeler.
Eine Prognose möchte die Politikwissenschaftlerin nicht geben. Was sie allerdings heraushebt: «Die Stärke der Klimajugend bisher war: Ihre Streiks waren in der Regel friedlich.» Zwar hätte es vereinzelt illegale Aktionen gegeben, wie die Besetzung des Bundesplatzes. «Aber im Gros kam es nicht zu schweren Gewaltakten.» Ein gewisses, radikales Auflehnen gehöre auch dazu, sagt Beyeler. «Wenn man sich zu sehr anpasst, dann passiert nichts.»
Angepasst nein, gewalttätig auch nein: Die Klimastreik-Bewegung hielt sich am Freitagabend an diesen Leitsatz. Friedlich und mit viel Lärm zogen sie durch die Zürcher Innenstadt und erinnerten die Bevölkerung einmal mehr daran: «There is no Planet B.»
Alles andere, sorry nein! Das hat damit nichts zu tun. Fokussiert euch auf ein Ziel und bleibt dabei, ansonsten wird alles versanden.