Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Schweiz zu einem mir unbekannten Zeitpunkt als Nation entschieden hat: «Littering finden wir scheisse, unsere Strassen sollen für immer blitzblank bleiben und wer den Abfall nicht trennt, soll den roten Pass abgeben. Wenn damit eine Staatenlosigkeit einhergeht, dann soll das so sein.»
Ich vermute, dass das schon vor meiner Geburt so entschieden wurde. Denn seit ich denken kann, hatte ich den Verdacht, dass die Polizei sofort jede Person verhaftet, die ihren Abfall widerrechtlich entsorgt.
Wir haben uns schon als Kinder grosszügig blossgestellt, wenn jemand seine Süssigkeitenverpackung auf den Boden geschmissen hat.
Im Chor haben wir geschrien: «Umweltverschmutzung! Das beschleunigt die Erderwärmung!» Wir gerieten aber immer in Erklärungsnot, wenn wir das mit der Erderwärmung genauer erklären mussten. Aber recht hatten wir schon damals irgendwie. So halb.
Der Nationalrat kann noch so hohe Littering-Bussen einführen. Er könnte sagen: «Wer ein benutztes Taschentuch auf die Strasse schmeisst, bekommt eine 10'000-Franken-Busse.» Mich tangiert das nicht. Die Schweizer Anti-Littering-Doktrin konnte ich während 28 Jahren verinnerlichen. Bevor ich Abfall auf den Boden schmeisse, würde ich ihn 400 Stunden mit mir mitschleppen. Ich schwör's, Herr Polizist!
Ich bin mir sicher, dass Millionen von Schweizern und Schweizerinnen das genau so internalisiert haben wie ich. Wir sind besessen mit korrekter Abfalltrennung und -entsorgung. Das ist in unserer DNA.
Faktisch habe ich hierzulande noch nie jemanden während eines Littering-Aktes beobachtet. Ich weiss nicht, wie ich in einer solchen Extremsituation reagieren würde. Sollte ich die Person zurechtweisen, wenn ich sie auf frischer Tat ertappen würde?
Ich könnte sagen: «He Sie, das git imfall e zünftigi Buess. Das tüend Sie besser ufläse!» Das wäre Balsam für die Seele vieler Schweizerinnen und Schweizer. Law and Order – auch beim Littering. Wahrscheinlich würde ich aber nichts sagen. Ich würde hinschauen, denken: «Ded heds doch grad en Chübel», und weitergehen.
Ich finde es gut, dass wir Littering kollektiv ablehnen. Ich mag eine umweltbewusste und saubere Schweiz. Touristinnen und Touristen sollen in die Schweiz kommen und sagen: «Hier ist es mir schon fast zu sauber.» Denn: «Zu sauber» ist genau das Mass an Sauberkeit, welches wir anstreben.
Aber manchmal erwische ich mich bei der Vorstellung, wie schön und bequem das wäre, den Abfall widerrechtlich zu entsorgen.
Die alte Couch an den Strassenrand zu stellen und nicht mit den verlorengeglaubten und bald abgelaufenen Coupons in die Entsorgungsstelle Hagenholz zu hasten am Samstagnachmittag. PET und Glas zusammen in einen normalen Sack, diesen gratis in eine öffentliche Abfalltonne schmeissen und nicht beides separat an zwei Orten entsorgen. Elektroschrott ohne mit der Wimper zu zucken in die Metallsammlung zu werfen.
Ich weiss haargenau, dass man das nicht darf. Ich mache das auch nicht, weil ich unsere Umwelt nicht verschmutzen möchte. Aber manchmal erwische ich mich bei Gedankenexperimenten, welche in diese Richtung gehen. Guilty pleasures of a Swiss girl, sozusagen.
In solchen Momenten frage ich mich, ob es wohl auch andere Menschen gibt, die, wie ich, über das Littering fantasieren. Weltweit wahrscheinlich wenige. In der Schweiz gibt es aber möglicherweise ein paar Leute. Der Schweizer Volksmund würde sie vielleicht als «Abtrünnige» bezeichnen.
Aber diese «Abtrünnigen» würden nie Littering-straffällig werden. Denn wir kennen alle jemand, der jemand kennt, der eine exorbitant hohe Busse bekommen hat, weil er gelittert hat.
Ich habe auch schon eine Gruselgeschichte gehört. Bis heute weiss ich nicht, ob die Geschichte wirklich stimmt, geniesst sie also mit Vorsicht. Weil sie lustig ist, erzähle ich sie euch trotzdem:
Angeblich wurde der Vater meiner Freundin vor einigen Jahren auf eine Aargauer Polizeistation zitiert, weil man ihn des Litterings verdächtigte. Er hatte wohl einen Plastiksack verloren, in dem sich adressierte Couverts, ein paar Holzscheite und eine ungeöffnete Packung Zigaretten befanden. Die Polizei habe ihn aufgrund der Couverts identifizieren können. Doch zur ultimativen Täter-Überführung habe man ihn gefragt: «Rauchen Sie L&M-Menthol-Zigaretten?»
Der Polizist hätte dann das Zigarettenpäckchen, welches sich in dem Sack befand, hochgehalten. Da habe er gesagt: «Ja, genau! Das sind meine.» Die Polizisten hätten daraufhin gesagt: «Also waren Sie es! Sie haben den Sack bewusst nicht richtig entsorgt und einfach liegen gelassen.» Danach habe er eine saftige Busse von mehreren Hundert Franken erhalten.
Die Geschichte klingt zwar wie aus einem «Police Academy»-Film, aber da wir uns in einem Land befinden, welches dem Littering aktiv den Kampf angesagt hat, könnte sie auch stimmen.
Bei mir hat sie auf jeden Fall gewirkt: Obwohl ich mittlerweile erwachsen bin und weiss, dass man nicht verhaftet wird wegen Littering, habe ich bis jetzt Angst, dass es trotzdem passieren könnte. Man weiss ja nie.
Extrem schädlich im Wasser und dennoch zuhauf an/in Gewässern zu finden.
Unsereins hat als Teenager selbst Zigarettenstummel eingepackt und im nächsten Eimer entsorgt.