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Warum Rücksichtsnahme gerade heute so wichtig ist

So schlimm wie hier war es natürlich nicht. Aber fast.
So schlimm wie hier war es natürlich nicht. Aber fast.Bild: Shutterstock
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Ein Hoch auf dich! (Wenn du rücksichtsvoll bist)

Wir leben in schwierigeren Zeiten als auch schon. Den Luxus, rücksichtsvoll zu sein, sollten wir uns trotzdem leisten.
26.08.2025, 20:1126.08.2025, 20:11
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Eine enge Bergstrasse im Tessin – eine dieser engen Bergstrassen, auf denen man stets hofft, es möge doch jetzt wirklich gopfertelli kein Postauto entgegenkommen. Weil: Platz für Gegenverkehr gibt es keinen. Auch wenn wir nur in einem kleinen Renault unterwegs sind. Doch da kommt etwas. Glück gehabt. Es ist nur ein Kleinwagen mit Tessiner Kennzeichen.

Trotzdem weicht der Wagen aus. Haarscharf an die Felswand ran. Ich versuche dasselbe mit dem Geländer. Als wir uns langsam kreuzen, lächeln wir uns kurz verklemmt an. Am Ende reichte es locker – aber nur, weil wir beide, die einheimische Fahrerin etwas souveräner als ich, aufeinander Rücksicht nahmen.

Unten im Tal herrscht, was leider nur als Wortschöpfung amüsieren kann: «stockender Kolonnenverkehr» – und das erst noch in beiden Richtungen. An einer Einfahrt wartet ein Fahrzeug, das sich einreihen will. Es ist eine Mission Impossible. Es müssten sich gleichzeitig in beiden Spuren Lücken bilden. Ich kann es vorwegnehmen: Genau das ist passiert. Ein Fahrzeug hielt kurz an, im Gegenverkehr wurde geistesgegenwärtig reagiert – und nach ein paar Wartesekunden und einem wunderbaren Zusammenspiel verschiedener ProtagonistInnen hatte der stockende Kolonnenverkehr nun auch dieses Fahrzeug verschlungen.

Das ist doch einfach fantastisch. Die involvierten Personen haben sich vermutlich noch nie im Leben gesehen, geschweige denn zusammen geredet oder Pferde gestohlen. Vielleicht ist die eine Person eine AfD-Wählerin und die andere ein italienischer Gemüsebauer. Alter, Geschlecht, Hautfarbe, alles egal. Die Schönheit des Moments liegt eben genau darin, dass zwei anscheinend komplett unverbundene Menschen ohne Absprache zusammen erfolgreich kooperieren. Einfach, weil sie dieselben Werte teilen. Ich könnte heulen, so schön wie das ist. Das sind echte Glücksmomente für mich.

Jetzt aber mal halblang mit dem Oxytocin, Schreiberling! Solche Vorkommnisse sind doch normal. Das ist nur eine Frage einer einigermassen guten Kinderstube – und ausserdem läuft das im Internet unter «faith in humanity restored» – «Das Vertrauen in die Menschheit wieder hergestellt». Es gibt dazu hunderte Videos.
Vermutlich ein paar Leser jetzt.quelle: Vorstellung des Schreiberlings

Nanana.

Ruhig mit den jungen Pferden.

Egoismus ist schon lange keine Frage der Kinderstube mehr. Egoismus ist das Grundnahrungsmittel unseres Zeitgeistes. Mit Donald Trump besetzt gar ein Hyperegoman das wichtigste politische Amt der Welt. Mit den Kürzungen der Sozialleistungen beerdigt er den US-Wohlfahrtsstaat endgültig. Dafür aber überhäuft er die reichsten US-Bürger mit Steuergeschenken. Das «Wir» wird schon lange torpediert. Es gilt nur noch das «Ich».

Was mich zu diesem Artikel motivierte: Dieses Video aus einem US-Kino:

Video: watson/Emanuella Kälin

Die Entwicklung der Ego-Gesellschaft dauert schon länger. Trump treibt nur auf die Spitze, was Ronald Reagan bereits in den 80er begann: Gewinne privatisieren, die Kosten dafür aber sozialisieren. Reagan war es auch, der mit enormen Steuergeschenken an die Reichsten (und der Aufrüstung) die Lawine der explodierenden Staatsverschuldung in den USA lostrat – und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten vergrösserte.

Dass solche Entwicklungen eine Gesellschaft prägen, war abzusehen. 2003 erscheint 50 Cents Debutalbum «Get Rich or Die Tryin’» – «Werde reich oder stirb beim Versuch dabei». Es wurde zum meistverkauften Album des Jahres in den USA und zum Mantra der nächsten zwei Jahrzehnte – auch in Europa. Hierzulande beginnt ab der Jahrtausendwende der Siegeszug des SUVs. Die Autos werden immer grösser und schwerer. Wir wollen Präsenz markieren, Platz einnehmen. Hier komme ich. Ich, ich, ich. Und wenn es knallt, dann soll es möglichst den anderen erwischen. Logisch.

Gegen ein gesundes Mass an Durchsetzungswille ist nichts einzuwenden. Spiel hart – aber fair. Doch die Fairness steht unter Druck. Im Weissen Haus sitzt ein greiser Hallodri, der täglich vormacht, dass sich Ruchlosigkeit fürs eigene Portemonnaie ausbezahlt. Im Nahen Osten geht Benjamin Netanjahu zum Selbsterhalt sogar über Kinderleichen. Hinzu kommen ein Krieg in Europa, die Auswirkungen des Klimawandels, ein rasanter Gesellschaftswandel und technische Errungenschaften, die wir nicht mehr nachvollziehen können. Öl ins Feuer giessen die Krankenkassenprämien und die steigenden Mieten. Für das, was ich früher für eine 2-Zimmer-Wohnung in Zürich bezahlte (805 Franken), bekommt man heute nicht einmal mehr ein WG-Zimmer. Und die Kinderfrage richtet sich heute immer mehr auch ans Portemonnaie. Viele von uns müssen die Gürtel enger schnallen. Eine Familie lässt sich fast nur noch mit einem kombinierten Arbeitspensum von mehr als 120 Prozent finanzieren.

Ein Effekt davon ist, dass die Ellenbogen wieder vermehrt ausgefahren werden. Man könnte zu kurz kommen, untergehen. Hierzulande existiert wenigstens noch ein funktionierendes Sozialwesen. Ich wage zu behaupten, dass das in den USA nicht mehr der Fall ist.

Unter solchen Umständen ersäuft das Vertrauen in andere Gesellschaftsmitglieder in einem ungeniessbaren Brei aus Stress und Überlebenskampf. Aus Mitbürgern werden Konkurrenten. Unsere Gesellschaft droht, in einen Fight-or-Flight-Modus zu kippen.

Das äussert sich dann halt auch im Strassenverkehr. Die zwei oben geschilderten Szenen erzählen nur die halbe Geschichte. Nicht beschrieben habe ich, wie bei derselben Fahrt ein Cabriolet-Fahrer versuchte, noch schnell vor dem Bus die Kurve zu kriegen und seine persönlichen Bedürfnisse dabei über diejenigen der zahlreichen Insassen stellte. Nicht beschrieben habe ich, dass sich dann diverse Fahrzeuge stauten, weil der Bus die enge Kurve schneiden musste, und das dank des Cabriolets nicht mehr konnte. Dass die Motorradfahrer, die sogleich überholten und sich durchzwängten, die Situation auch nicht entschärften. Dass das Ego eines Einzelnen rasch zum Problem vieler wurde.

Es ist eben nicht einfach eine Frage der guten Kinderstube. Es ist eine Frage, ob trotz der zunehmend verschärften Lage noch genügend Ressourcen aka Souveränität vorhanden sind, seinen Mitmenschen respektvoll zu begegnen. Wenn man das kann, ist es ein Zeichen von Stärke. Leute von dieser Stärke sind die Grundpfeiler einer gesunden Gesellschaft. Und wenn ich sie erleben darf, dann geht mir das Herz auf.

Und auch wenn dies ein guter Schluss wäre, will ich noch etwas anfügen: Wie konnte es so weit kommen, dass Ruchlosigkeit fast schon wie eine Medaille zur Schau getragen wird, fast cool ist? Vor allem in den ÖVs fällt mir das bei Leuten auf, die den freien Fensterplatz zusperren. Nicht selten erkenne ich in ihren Gesichtern einen süffisanten Stolz. Als wären sie so richtig im Reinen mit sich selbst und ihrem Tun.

Nein. Den freien Platz zusperren, ist kein Zeichen von Stärke. Es beweist Überforderung. Das ist nicht stark. Das ist schwach. Das ist vor allem aber auch uncool. Weisst du, wer cool ist? Keanu Reeves. Und weisst du was? Er würde, quod probatum est, den Platz freimachen.

So reagiert KKS auf Absage von Trump

Video: watson/Emanuella Kälin
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123 Kommentare
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Znuk
26.08.2025 20:45registriert März 2014
Sehr schön.

Ich liebe es wenn der Bus Danke blinkt, wenn ich ihn reingelassen habe.
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John H.
26.08.2025 20:26registriert April 2019
👍👍 Ich habe nicht genügend Daumen für diesen Artikel.
Mehr Gelassenheit und Aufmerksamkeit.
Danke!
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Buhmann
26.08.2025 20:46registriert Februar 2021
Ja, mache ich weiterhin. Auch wenn ich oft das Gefühl bekomme: Es wird nur ausgenutzt.

Grundsätzlich geht es sicher vielen so☺️.
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