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Abnehmen: Nach Ozempic werden weitere Medikamente entwickelt

Es kommt noch dünner: Diät-Spritze Ozempic war erst der Anfang

Erstmals gibt es mit Ozempic ein wirksames Medikament gegen krankhaftes Übergewicht. Bereits wird aber an noch weit besseren Substanzen getüftelt – die vielleicht auch das Ende des Jo-Jo-Effekts besiegeln können.
04.09.2023, 22:38
Stephanie Schnydrig / ch media
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uebergewichtiger mann misst bauchumfang
An Übergewicht und Adipositas leiden 42 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Medikamente könnten Abhilfe schaffen.Bild: Shutterstock

An Willenskraft fehlt es ihnen, stinkfaul sind sie, essen nur ungesundes Zeugs und zu viel sowieso. Mit solchen Stigmatisierungen sehen sich übergewichtige Personen häufig konfrontiert. «Ich dachte früher auch so», sagt Ralph Peterli, Übergewichtschirurg und stellvertretender Chefarzt Viszeralchirurgie am Universitären Bauchzentrum Basel. «Aber kennt man erst die Wissenschaft, ändert man seine Meinung.»

Tatsächlich weiss man heute, dass der Stoffwechsel sowie das Hunger- und Sättigungsgefühl von neurobiologischen Prozessen gesteuert werden. Willentlich beeinflussbar sind sie nicht. Sie sind einprogrammiert in den Genen, wurden geprägt vom Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft und sind beeinflusst vom eigenen Lebensstil. «Übergewicht entsteht im Gehirn», hält Peterli fest.

Und genau dort setzen die seit einiger Zeit als Wundermittel gehypten Diät-Spritzen an: Ozempic und Wegovy mit dem Wirkstoff Semaglutid. Die Präparate gelten als «Gamechanger» in der Therapie von krankhaftem Übergewicht. Laut Studien schmilzt damit im Schnitt 10 Prozent des Körpergewichts einfach weg. «Es ist wirklich erstaunlich, wie gut die Medikamente wirken. Wie manche Leute damit einfach nicht mehr ans Essen denken und es ihnen damit irrsinnig gut geht», sagt Peterli.

Übelkeit, Erbrechen, Durchfall als Nebenwirkung

Zum ersten Mal liegt damit eine wirksame medikamentöse Waffe im Kampf gegen die Volkskrankheit Adipositas und Übergewicht vor, woran in der Schweiz 42 Prozent der Bevölkerung leiden. Das sind dreimal so viel wie noch vor 30 Jahren. Die volkswirtschaftlichen Kosten dieser Epidemie belaufen sich auf acht Milliarden Franken jährlich.

Die Nachfrage nach den Mitteln ist denn auch riesig und führt mitunter zu Engpässen. Dies, obschon unangenehme Nebenwirkungen auftreten können, vor allem zu Beginn der Therapie. Darüber wird auch in den sozialen Medien geklagt, von Übelkeit, Erbrechen, Magenkrämpfen, Durchfall. «Diese Nebenwirkungen rühren daher, dass der Wirkstoff vergleichbare hormonelle Signale auslöst, wie wenn wir uns bei einer Geburtstagsparty den Bauch mit Torten vollschlagen», erklärt Wolfgang Langhans, emeritierter Professor für Physiologe und Verhalten an der ETH Zürich.

Genau genommen ahmen die Medikamente, die eigentlich für Diabetes Typ 2 entwickelt wurden, das Sättigungshormon GLP-1 nach. Dieses wird zum einen im Darm produziert und, wenn wir uns überessen, im zentralen Nervensystem. Bei Letzterem registriert das Gehirn nicht nur das Signal «Ich bin satt», sondern zusätzlich geht auch der Appetit verloren, man fühlt sich unwohl, schlimmstenfalls muss man sich übergeben.

Aber abgesehen von der teils starken Übelkeit gibt es bei Semaglutid und dessen verwandten Präparaten keine nennenswerten Nebenwirkungen. Im Gegenteil. Eine kürzlich erschienene Studie mit 17'500 Patienten zeigte, dass die wöchentliche Gabe von Wegovy das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen um 20 Prozent verringert.

Eine andere Studie offenbarte, dass der Wirkstoff sogar gut ist fürs Gehirn von Übergewichtigen. Denn Übergewicht führt zu einer verminderten Insulinempfindlichkeit, was wiederum die Fähigkeit zum assoziativen Lernen herabsetzt. Das macht der Wirkstoff schon nach einmaliger Gabe wieder rückgängig.

Bis zu 24 Prozent Gewichtsverlust möglich

Jahrzehntelang war der Weg von pharmakologischen Substanzen zur Gewichtsreduktion mit «Desastern gepflastert», wie Wolfgang Langhans sagt. Aufsehenerregend und tragisch war zuletzt der Fall Rimonabant, ein Wirkstoff, der die Lust am Essen nahm. Aber: «Das Medikament hat Patienten nicht nur die Lust am Essen genommen, sondern einigen auch die Lust am Leben», sagt Langhans. Nach Berichten über Suizide in Grossbritannien sowie zu Suizidgedanken wurde die Arznei 2008 nach kurzer Zeit wieder vom Markt genommen.

So erstaunt es nicht, dass sich Pharmakonzerne nun die Hände reiben – und in Goldgräberstimmung an noch wirksameren Abnehm-Spritzen tüfteln. Dazu gehört der Konzern Eli Lilly mit dem Wirkstoff Tirzepatide, der zu durchschnittlich 16 Prozent Gewichtsverlust führt, wie eine im Juni erschienene Studie in «The Lancet» zeigt. Der Clou: Tirzepatide wirkt zweifach, indem es nicht nur das Sättigungshormon GLP-1 imitiert, sondern zusätzlich das Darmhormon GIP. Das unter dem Handelsnamen Mounjaro laufende Präparat ist in der Schweiz seit November 2022 für Erwachsene mit Diabetes mellitus Typ 2 zugelassen, aber noch nicht erhältlich.

Neuere Präparate wirken sogar dreifach: Sie stimulieren nicht nur die Rezeptoren von GLP-1 und GIP, sondern auch die von Glukagon. In einer soeben erschienen Studie im renommierten «New England Journal of Medicine» erzielte ein Präparat namens Retatrutid, ebenfalls aus dem Hause Eli Lilly, eine Reduktion des Körpergewichts um sogar 24 Prozent.

«Wieso dieser dreifache Agonist so gut wirkt, ist meines Wissens noch nicht geklärt», sagt Langhans. Doch er hat eine Vermutung: Glukagon spielt eine Rolle dabei, wie viel der verspeisten Kalorien einfach als Wärme verpuffen, anstatt in die Fettdepots zu wandern. Wird der Wärmeanteil erhöht, kann man – vereinfacht ausgedrückt – mehr essen, ohne zuzunehmen.

Zudem geht wohl bald eine Abnehm-Kapsel mit dem Wirkstoffkandidaten Orforglipron in die finale klinische Phase. Statt gespritzt, kann das Medikament geschluckt werden.

Der Adipositasexperte Ralph Peterli ist von den Zahlen der neuen Präparate beeindruckt: «Diese Medikamente kommen den chirurgischen Eingriffen wie Magenbypass oder Schlauchmagen sehr nahe.» Mit diesen Operationen lässt sich das Körpergewicht um 25 bis 30 Prozent reduzieren.

Wie der Jo-Jo-Effekt entsteht

Neben den GLP-1-Medikamenten richten manche Adipositas-Forscher den Blick auf das Hormon Leptin. Dieses meldet den Fettstatus ans Gehirn und hilft den Sättigungshormonen, ihre Funktion zu entfalten. Bei Übergewichtigen allerdings kann eine Leptin-Resistenz entstehen. Die Folge: Der Hunger wird nicht gestillt, obwohl die Fettspeicher längst gefüllt ist. Wie Untersuchungen nahelegen, könnte die Gabe des Hormons Amylin diese fiese Resistenz bei Übergewichtigen teilweise aufheben.

Statt den Sättigungsmechanismen widmen sich manche Wissenschafter dem Hunger. Für dieses quälende Gefühl spielen die AgRP-Neurone eine «faszinierende Rolle im Gehirn», wie Wolfgang Langhans sagt. Experimente mit Mäusen haben gezeigt, dass, wenn man diese Nervenzellen deaktiviert, die Tiere verhungern.

Wie Forscher erst kürzlich herausgefunden haben, können Diäten die Kommunikation dieser Neurone tiefgreifend durcheinanderbringen. Bei Mäusen auf Diät wurden vermehrt Hungersignale gesendet. Das blieb auch nach der Diät so. Liesse sich das verhindern, wäre das womöglich das Ende des gefürchteten Jo-Jo-Effekts. «Langfristig ist es unser Ziel, Therapien für den Menschen zu finden, welche helfen könnten, das Körpergewicht nach einer Diät zu halten», wird der Leitautor Henning Fenselau vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung in einer Pressemitteilung zitiert.

Spritzen statt Sport machen

Obschon all die neuen Medikamente und Ansatzpunkte im Kampf gegen die weltweite Adipositas-Epidemie äusserst vielversprechend klingen, mahnen einige Forschende zu Vorsicht. Zum Beispiel die US-Psychiater Cynthia Bulik und Andrew Hardaway. Im Fachblatt «Science» warnten sie kürzlich davor, dass wirksame Diät-Medikamente dazu führen könnten, dass Menschen keinen Sport mehr treiben, weil sie ja sowieso schlank sind. Insgesamt würde das der Gesundheit aber schaden. Andere Experten befürchten, dass die Stigmatisierung von Dicken noch schlimmer werden könnte, weil der gesellschaftliche Druck zum Dünnsein steigt.

Ein erster und wichtiger Schritt wäre laut Ralph Peterli, dass die Schweiz Adipositas als chronische Krankheit anerkennt, wie dies die Weltgesundheitsorganisation bereits vor über zwanzig Jahren getan hat. Dafür kämpft auch der Verein «Allianz Adipositas Schweiz». Er fordert die Politik unter anderem dazu auf, Adipositas als eigenständige Krankheit anzuerkennen und die Strafnorm gegen Diskriminierung so zu erweitern, dass adipöse Personen besser vor Stigmatisierung geschützt werden. (bzbasel.ch)

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Swen Goldpreis
05.09.2023 02:53registriert April 2019
"...dass wirksame Diät-Medikamente dazu führen könnten, dass Menschen keinen Sport mehr treiben, weil sie ja sowieso schlank sind."

Ich bin nur leicht übergewichtig. Aber ich merke an mir selber, dass mir Sport sehr viel schwerer fällt, seit ich etwas dicker geworden bin. Daher kann ich mir gut vorstellen, dass es für jemanden stark Übergewichtigen praktisch unmöglich ist, Sport zu treiben. Vielleicht sind die 20 Kilo, die jemand mit so einem Medikament verliert, genau das, was es braucht, um wieder mit regelmässigem Sport anfangen zu können. Einfach so eine Idee...
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nullKOMMAnichts
04.09.2023 23:34registriert September 2023
Ich plädiere grundsätzlich für Selbstverantwortung. Doch bei der Bekämpfung der Adipositas-Epidemie (O-Ton WHO), sind wohl staatlich verordnete Lenkungsabgaben wie die Zuckersteuer sowie Warnkennzeichen wie in Chile notwendig. Ansonsten profitieren die
Lebensmittelindustrie, insbesondere von hochverarbeiteten Produkten und Süssgetränken, und die Pharmaindustrie mit hochpreisigen Medikamenten zu Lasten der Gesellschaft.
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Geri Gagarin
04.09.2023 23:04registriert Februar 2023
42% der Bevölkerung? Währe es nicht einmal Zeit proaktive etwas zu unternehmen? Der einzelne kann wohl nicht viel machen, dass mag sein, aber das überdenken unserer westlichen fastfood zucker fleisch Ernährung hätte definitiv ein massiven Einfluss auf die Volksgesundheit.

Aber ja schon klar Eigenverantwortung 🙈
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