Schweiz
Leben

Schweizer Frauenhäuser sind überlastet – Gewalt an Frauen nimmt zu

Gewalt an Frauen
bild: watson

Diese Zahlen zeigen die traurige Wahrheit zu Gewalt an Frauen in der Schweiz

In der Schweiz passiert es jeden Tag: Gewalt gegen Frauen. Auch nach der Corona-Pandemie steigen die Gewalttaten gegen Frauen weiterhin. Körperlich, psychisch, sexuell, wirtschaftlich – nicht jede Gewaltform ist einfach nachweisbar. Ein Überblick zur Situation in der Schweiz.
25.11.2023, 20:0926.11.2023, 13:45
Julia Neukomm
Julia Neukomm
Mehr «Schweiz»

Heute ist der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Alle zwei Wochen wird in der Schweiz eine Frau durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen solchen Tötungsversuch.

Frauen haben ein hohes Risiko, von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen zu sein. Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts richtet. Laut dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann liegt die Ursache dafür unter anderem in der fehlenden Gleichstellung der Geschlechter. Diese Zahlen zeigen, dass solche Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist.

Frauenhäuser in der Schweiz

Nach der Corona-Pandemie hat sich das Interesse und die mediale Aufmerksamkeit in Bezug auf Frauenhäuser in der Schweiz deutlich reduziert. Tatsächlich hat laut dem Jahresbericht der Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO) die Zahl an schutzsuchenden Frauen nach der Pandemie nicht abgenommen. 2022 konnte sogar eine Zunahme festgestellt werden. Das liegt unter anderem daran, dass die Bevölkerung durch die mediale Aufmerksamkeit während der Pandemie heute ein grösseres Bewusstsein für die Existenz von Frauenhäusern hat.

Zurzeit gibt es 23 Frauenhäuser in der Schweiz mit 202 Familienzimmer und 419 Betten. Im letzten Jahr suchten rund 2406 Frauen und Kinder Schutz in einem Frauenhaus. Die Auslastung der Schutzunterkünfte war teilweise so gross, dass Notlösungen gesucht werden mussten, wie beispielsweise Hotelzimmer. Der Europarat empfiehlt ein Angebot von einem Familienzimmer pro 10'000 Einwohnern. Mit nur 0,23 Familienzimmer pro 10'000 Einwohner unterschreitet die Schweiz diese Empfehlung bei Weitem.

Doch nicht nur die Anzahl an Schutzräumen ist ausbaufähig. Auch bei der Finanzierung solcher Orte herrscht Aufholbedarf. In einem Gespräch mit watson erklärte uns Co-Geschäftsleiterin Blertë Berisha von der Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO) die Thematik wie folgt:

«Die Finanzierung der Frauenhäuser sollte vom Bund und Kantonen gewährleistet werden. Eine Minderheit der Häuser ist rein Objekt-finanziert. Die meisten Häuser werden in der Schweiz auch Subjekt-finanziert. Das bedeutet, dass die Finanzierung abhängig davon ist, wie viele Frauen im jeweiligen Haus Schutz suchen. Gibt es weniger Fälle in der Schutzunterkunft, bekommt die Schutzunterkunft vom Kanton und Gemeinden auch weniger Geld. Leider sind die wenigsten Häuser rein Objekt-finanziert und bekommen so keine Gesamtbeiträge unabhängig von der Fallzahl im Haus. Die Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein plädiert für mehr Objektfinanzierungen, um den Frauenhäusern mehr Möglichkeiten bieten zu können.»

Oft müssen Frauenhäuser interkantonal zusammenarbeiten, um den Frauen den nötigen Schutz und die nötigen Ressourcen bieten zu können. Das stellt sich laut Blertë Berisha von der DAO nicht immer einfach dar:

«Eine häufige Hürde ist auch die interkantonale Zusammenarbeit, da jeder Kanton seine eigenen Bestimmungen hat.»
Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein, Co-Geschäftsleiterin Blertë Berisha

Die meisten Frauen, die ein Frauenhaus aufsuchen, sind zwischen 30 und 64 Jahren alt. Oft kommen Frauen mit ihren Kindern in die Unterkünfte. Der häufigste Altersdurchschnitt der Kinder liegt mit 63 Prozent zwischen null und sechs Jahren. Dadurch wird die Bedeutung der Kinderbetreuung in solchen Schutzräumen deutlich.

Rund 94 Prozent der Gefährder sind männlich, ein Prozent weiblich und ein Prozent divers. Die Zahlen bestätigen, dass geschlechtsspezifische Gewalt und somit patriarchale Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist.

Die meisten betroffenen Frauen erleben Gewalt in Paarbeziehungen (rund 76 Prozent). Zehn Prozent der Gewalt kommt von der Familie und deren fünf Prozent von Ex-Beziehungen. Unter Abhängigkeitsbeziehungen sind alle ausserfamiliären Beziehungen zu verstehen, das sind vier Prozent.

«Es zeigt sich die Tendenz, dass es oft nach Feiertagen zu vermehrten Fällen von häuslicher Gewalt kommt.»
Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein, Co-Geschäftsleiterin Blertë Berisha

Was oft unterschätzt wird, ist die psychische Gewalt, die auf Frauen ausgeübt wird. Rund 85 Prozent der Klientinnen, die 2022 auf die Hilfe eines Frauenhauses angewiesen waren, berichteten über psychische Gewalt. 73 Prozent waren von körperlicher Gewalt betroffen.

quelle: dao
quelle: daobild: watson

Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Schutzsuchenden in einem Frauenhaus betrug im letzten Jahr 49 Tage. Danach kehrten rund zwölf Prozent der Frauen wieder zurück zu ihrem Partner, 41 Prozent entschieden sich, allein zu wohnen.

quelle: dao
quelle: daobild: watson

Die Zahlen der DAO zeigen deutlich, dass solche Schutzräume auch heute zwingend gebraucht werden. Grundsätzlich sind in der Schweiz zu wenig Räumlichkeiten und Ressourcen für Schutzräume sämtlicher Personengruppen vorhanden, so Co-Geschäftsleiterin Blertë Berisha:

«Nicht nur Frauenhäuser sind wichtig, sondern auch Schutzplätze für andere Menschen. Beispielsweise gibt es schweizweit nur ein Mädchenhaus mit einem Sicherheitskonzept. Das ist zu wenig. Frauenhäuser sind erst ab 18 Jahren zugänglich. Zudem bräuchte es auch Häuser für LGBTQIA+ Personen, Personen mit einer Behinderung oder für Personen, die von Substanzen abhängig sind.»

Psychische Gewalt an Frauen

Verschiedene Organisationen leisten durch Kampagnen Aufklärungs- und Präventionsarbeit. Beispielsweise findet jedes Jahr die Präventionskampagne 16 Tage gegen Gewalt an Frauen statt. Das diesjährige Fokusthema befasst sich mit psychischer Gewalt an Frauen.

Psychische Gewalt scheint oft unsichtbar zu sein. Das liegt unter anderem daran, dass diese Art von Gewalt oft schleichend passiert. Unter psychische Gewalt gehören Beleidigungen, Demütigungen, Erniedrigungen, Drohungen, Erzeugung von Schuldgefühlen, Anschreien oder Einschüchterungen, Kontrolle oder Verbot von Familien- oder Aussenkontakten und Beschlagnahmung des Lohns.

Die Schweiz hat seit 2018 ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Diese Konvention fordert die Schweiz zur Gewaltprävention und zum Schutz von Gewaltbetroffenen auf. Dennoch gibt es laut der diesjährigen Präventionskampagne gerade in Bezug auf psychische Gewalt Verbesserungspotenzial.

Beispielsweise ist Stalking in der Schweiz bis anhin kein eigener Straftatbestand. Oft können die Handlungen von Tatpersonen aus diesem Grund nicht strafrechtlich verfolgt werden und Betroffene sind einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt.

Zudem kritisieren verschiedene Organisationen, dass kaum Studien zum Thema psychischer Gewalt erfasst werden und dadurch auch keine Massnahmen dagegen entwickelt werden können.

Sexualisierte Gewalt an Frauen

Das Bundesamt für Statistik hat die polizeiliche Kriminalstatistik mit neuen Zahlen zu sexualisierter Gewalt ergänzt. Die Zahlen zeigen deutlich, dass die polizeilich registrierten Straftaten im Bereich der sexualisierten Gewalt seit 2010 stark zugenommen haben. 2022 gab es einen Höchstwert mit rund 5377 Fällen. Am häufigsten wurde sexuelle Belästigung mit 1627 Straftaten registriert.

Von sexualisierter Gewalt betroffen sind zunehmend Frauen.
2022 wurden rund 4129 weibliche Personen und 537 männliche Personen als Betroffene registriert.

Es sind deutlich mehr Männer, die beschuldigt werden, sexualisierte Gewalt ausgeübt zu haben. So wurden 2022 rund 3186 männliche Personen als Täter angeklagt. Als weibliche Täterinnen wurden 100 Personen beschuldigt.

Auch diese Statistik bestätigt, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem in der Gesellschaft ist und die Schweiz für die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt noch einen langen Weg vor sich hat.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Frauenstreik 1991
1 / 8
Frauenstreik 1991
Plakat zum landesweiten Frauenstreik vom 14. Juni 1991 mit dem Motto: «Wenn Frau will, steht alles still». Das Sujet stammt von Grafikerin Agnes Weber. (bild: schweizerisches nationalmuseum / asl)
quelle: schweizerisches nationalmuseum / asl
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Tiktokerin löst Trend gegen Gewalt an Frauen aus
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
224 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Tom Stephansson
25.11.2023 21:07registriert August 2021
Die Grafik "Alter der aufgenommenen Frauen" ist irreführend. Die erste Altersgruppe 18-29 umfasst nur elf Jahre, die Gruppe 30-64 ca. das Dreifache. Die Graphen suggerieren, dass die zweite Gruppe doppelt so stark gefährdet ist wie die Erste. Würde die zweite Gruppe aber ebenfalls in drei Gruppen à 11 Jahren geteilt, wären die Zahlen im Durchschnitt tiefer als bei den 18-29-Jährigen. Ausserdem bräuchte es noch eine Gegenüberstellung von der aktuellen Demographie, weil es eine zusätzliche Rolle spielt, wie viele Frauen sich in den Altersgruppen befinden.
14228
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pandabaer2
25.11.2023 20:46registriert Oktober 2021
Was mich noch interessiert sind:
-dauer der Beziehung
-konfession
-altersspanne
-stätisch/agglo/land

Dadurch kann die Prävention und der Fokus richtig gesetzt werden.
12041
Melden
Zum Kommentar
avatar
Sabrina Zett
25.11.2023 21:46registriert Januar 2014
Es ist so traurig! 😢 Man darf nicht wegschauen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch sehr viel höher als die gezeigten Grafiken
9018
Melden
Zum Kommentar
224
    Corona-Leaks: Bundesgericht verweigert Datenzugriff – was das Urteil bedeutet
    Während der Pandemie flossen geheime Informationen aus dem Bundesrat zum «Blick». Das Ende eines Strafverfahrens.

    November 2020: Die Zahl der Coronatoten stieg von Tag zu Tag. Da tippte Peter Lauener, der Kommunikationschef von Bundesrat Alain Berset, eine Nachricht an Ringier-CEO Marc Walder: «Vertraulich einige Infos: Die Gelder für den Impfstoff sollten wir wohl erhalten.» Am nächsten Tag publizierte Ringiers Zeitung «Blick» die Frontschlagzeile zum Thema – und nahm den Entscheid des Bundesrats dazu vorweg.

    Zur Story