Kondukteurin: «Alli Billett vorwise, bitte!»
Mist. Jetzt passiert es.
Und es ist so falsch.
Ich werde jedes Mal nervös bei diesem Satz, selbst wenn ich ein Billett habe. Nur heute hab ich wirklich keins. Ich hab es schlicht vergessen. Es war keine dieser bewussten Entscheidungen, so wie früher, als nicht so liquide Studentin, die zuweilen lieber Bier als Drämmli bezahlte. Jenes kann man natürlich auch stehlen, solcherlei Kleindelikte wiederum liegen noch weiter in der Vergangenheit.
Die legendären Teeniediebstähle mit Karin ...
Hach, Karin, du ausgefuchste Lebenskünstlerin, wie du uns jedes Mal rausgehauen hast, wenn wir mit fünf übereinander getragenen Spitzenbüstenhaltern erwischt wurden!
In einer Zeit, in der sich die Menschen noch zuhörten und von einer guten Geschichte überzeugen liessen.
In einer Zeit, in der die Waren noch nicht anständig gesichert waren und unsere Brüste noch nicht in die geklauten Körbchen passten.
Nun gut, inzwischen sind sie da längst wieder raus- oder besser runtergewachsen. Und Karin ist weg.
Karin, wie hätte ich dich jetzt gebraucht! Du hättest gewusst, wie man sich aus dieser Situation herausredet. Sicher hast du in deinem ganzen Leben überhaupt noch nie ein Billett gelöst. Du brauchst sowas nicht.
Du hast deine Schlagfertigkeit, deinen Schalk, deine Schläue.
Karin, du bestechendstes aller Wesen, wo steckst du bloss?
Kondukteurin: «Hend Sie Ihres Billett scho zeigt?»
Nein, aber ich könnte dir was anderes zeigen. Den Sonnenuntergang, meine Kinder, einen ... Penis?
Typisch. Braucht man mal einen Penis, hat man keinen. Ich kann dieser Frau, die nicht einmal eine Kondukteurinnen-Kluft trägt, überhaupt nichts vorweisen. Keinen lockeren Spruch, keine herzerwärmende Ausrede und schon gar kein Billett.
Nein, aber wollen Sie stattdessen meine angeschwitzte Stirn sehen? Sie dürfen auch gern mal anfassen, es ist kalter Schweiss, Angstschweiss. Er ist überall, überzieht meine ganze Haut, sodass Sie mich schlechter zu fassen kriegen, wenn ich fliehe. Aber keine Sorge, ich fliehe nicht. Hab ich verlernt. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und schwitze schuldbewusst vor mich hin. Mein Herz pocht sich schier aus meiner Brust heraus vor lauter Erregung. Sehen Sie's schon? Sehen Sie, wie es rot und ungestüm an meine Leibeswand klopft?
Ich fühle mich wie Raskolnikow, der Typ in Dostojewskis «Schuld und Sühne», der den Schädel einer alten Frau spaltet. Mit einem Beil, für das er eigens eine Halterung in seine Jacke einbaut, um es unbemerkt bis zu ihrer Wohnung mitzuschleppen. Ich hab kein Beil. Und auch keine Halterung dafür. Ich habe nicht geplant, ohne Fahrschein zu fahren. Und umbringen will ich auch niemanden. Als Verbrecherin fühle ich mich gleichwohl. Ich bin diejenige, die es gewagt hat, nicht für ihre Zugreise zu bezahlen. Die Beförderungserbschleicherin. Der faule Apfel, der hundert gesunde anzustecken droht, der ihre rote Pausbäckigkeit in braunen Verfall verwandelt.
Ich bin die Vernichtung, das Verderben, der Ruin.
Der Staatsfeind Nr. 1.
Kondukteurin (sehr bestimmt): «Hallo?! Hend Sie Ihres Billett jetzt zeiget oder nöd?»
Ich (sehr flüsternd): «Karin?»
Kondukteurin: «Hä?!»
Es scheint fast, als wäre auch meine innere Karin fort. Da ist keine Kühnheit mehr, keine jugendliche Dreistigkeit, kein Funken Waghalsigkeit. Ade Verwegenheit, hallo Konformismus.
Ich: «Nei, hani nöd. Ich ha vergässe z'löse.»
Puh. Jetzt ist es raus.
Dabei waren die Kondukteurinnen zu zweit. Und die andere hätte mich theoretisch schon kontrolliert haben können, deshalb ihre Frage. Silbertablett nichts dagegen! Sie hat mir die Ausrede quasi hingeknallt, und alles, was ich hätte sagen müssen, wär «Ja» gewesen! Zwei lächerliche Buchstaben! Ein Ja statt ein Nein.
Warum hab’ ich sie nicht einfach vertauscht?
Mein Gott, welche Welten zwischen diesen zwei kurzen, verdichteten Wörtchen liegen! 100 Stutz, Gerechtigkeit, die Grundpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft – oder doch nur der SBB?
Warum hab’ ich nicht gelogen?
Menschen neigen zum Denunziantentum, das hat die Historie leider zur Genüge gezeigt. Irgendeiner hätte mich bestimmt verpfiffen. Der Gewissenhafteste von allen, der es als seine Bürgerpflicht ansieht, mein Vergehen zu melden. Für alle ehrlichen Menschen in diesem Zug und in allen Zügen des Landes.
Aber dieser äussere Verrat war es nicht. Es war der innere, der mich dazu bewog, die Wahrheit zu sagen.
Ich musste meine Sünde gestehen. Mich reinigen.
Wie sich da meine katholisch geprägte Seele gefreut hat. Und mein Gesicht erst! Bin ich froh, hab’ ich es nicht anschauen müssen. Diese saublöde, bussbereite Fresse, wie sie beinah dankbar den Strafzettel entgegennimmt von dieser diensteifrigen Frau. Ein Gesicht, das schreit: «Strafe mich, strafe mich!», als wär ich ein sich freudig geisselnder Flagellant.
«Gegrüsst seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen ...»
Diese christlichen Wurzeln nerven. Kann mir die endlich mal jemand ziehen? Sie sind der Feind aller künstlerischen Realitäts-Ausschmückungen. Der Tod aller Fluchten und Notausgänge. Der Tod jeder guten Geschichte.
Seit aus vielen Göttern der eine geworden ist, gibt es nur noch eine Wahrheit. Und ihre vielen Alternativen sind allesamt bloss noch böse Lügen. Was ist nur aus der guten alten Dichterei geworden, dem Respekt gegenüber gelungener Erfindungen, der Offenheit für andere Welten, einem Leben im Gegenteil?
Früher war ich eine alte Griechin, bereit für Schandtaten, für odysseusartige Listen, fürs Überleben! Und jetzt?
Der Rothenfluhsche Verschnitt des kategorischen Imperativs!
Mimimi «der Lügner hebt die Gemeinschaft auf», mimimi er ist «feige und nichtswürdig». Selber, du ... Kant!
«Stelled Sie sich vor, wenn das alli würed mache!», riefe der gewissenhafte Passagier meinem Lügen-Ich zu, nachdem er mich an die Kondukteurin verraten hätte.
Das Ding ist, dass es eben nicht alle machen! Die meisten sind wie ich, abgeschliffen vom Rad der Zeit, zu korrekt, zu schuldbewusst, zu feige, zu faul, zu brav, zu gewohnt, zu alt, zu reich, zu was weiss ich. Karins hingegen sind selten. Sie sind die Gauklerinnen, die Zauberinnen und Mythomaninnen dieser Welt! Menschen, die ihre Not in eine Heldengeschichte zu verwandeln verstehen.
Es ist nicht alles schwarz und weiss, selbst das Schwarzfahren nicht. Lasst uns mehr spazieren gehen im Graubereich, mit dem unser aller Leben gepflastert ist. Lasst uns hin und wieder verschlagene Ausreden erfinden, schwänzen, streiken, blau machen, aus der Reihe tanzen, dem Reiz des Verbotenen nachgehen, über die Stränge schlagen.
Kleine Karins sein.
Adrenalin ausschütten und den Nervenkitzel spüren!
Kondukteurin (drückt den Busszettel aus und händigt ihn mir aus): «Do.»
Ich: «Danke!»
Kondikteurin: «Bim nöchschte Mol wirds denn türer!»
Ich: «Chunt nie meh vor, danke vielmol, än schöne Tag no, ade, ade, und merci!»
Denkt einfach dran Freunde: Karins sorgen nicht unbedingt dafür, dass Billettpreise günstiger werden. Und bei allzu vielen Karins gibts dann auch plötzlich keinen ÖV mehr, in dem man sich als Karin fühlen und verhalten kann. Bähnler und Büssler gehen nämlich nicht nur zur Arbeit, weil sie das so geil finden…
Musste ich aber noch nie zeigen, hatte immer ein Billet!
Aber einmal hatte ich zwar das Billet, jedoch ein ungültiges, da auf das falsche Datum gelöst. Kondukteur im IC zwischen Zürich und Bern macht deswegen einen Riesenterror, der ganze Waggon schaut schon gespannt zu mir hinüber, wie mir eine Standpauke gehalten wird. O.k., ich bezahle die Busse, gehe am Bahnhof Bern ins SBB Reisezentrum, die Dame am Schalter lacht, stellt mir ein gültiges Billet für die Rückreise aus und vergütet mir die Busse.