Im Keller des Bischofssitzes in Solothurn steht der «Giftschrank». Er ist grün, aus Metall und hat ein Schloss. In den Schubladen deponierte das Bistum Basel vor allem zwischen 1935 und 1980 die Personaldossiers von Priestern mit Skandalpotenzial. Die Kirchenoberen stuften diese Akten als geheim ein. Nicht einmal alle Mitarbeiter hatten Zugang. Der Archivar wachte über den Schlüssel.
Heute lagert im Giftschrank nicht mehr symbolisches, sondern echtes Gift: Gegenstände aus Blei, für die das Bistum keinen besseren Aufbewahrungsort gefunden hat. Alle Personalakten liegen inzwischen im öffentlich zugänglichen Archiv.
Dies wissen allerdings nicht einmal alle Fachleute. So hat die Luzerner Kantonalkirche im November vom Bischof gefordert, er solle endlich keine Akten mehr vernichten. Dabei hat er dies, soweit bekannt, nie getan. Andere Bistümer haben nachweislich heikle Dossiers geschreddert. Das Bistum Basel hingegen hat alle fein säuberlich archiviert.
Im ehemaligen Geheimarchiv lagern die Dossiers von 145 Priestern. Im gleichen Zeitraum waren etwa 2500 Priester im Amt. Das Bistum Basel stufte also jeden zwanzigsten Geistlichen als Problem ein.
Tatsächlich dürfte der Anteil höher sein. Einige Missbrauchsfälle archivierte das Bistum nicht im geheimen, sondern im normalen Archiv. Hinzu kommt: Es handelt sich nur um jene Fälle, die kirchenintern dokumentiert sind.
Allerdings sind die Fälle sehr unterschiedlich. Einige Priester verstiessen nur gegen die katholische Moral. Sie schafften es nicht, wie vom Zölibat verlangt, ohne Sex zu leben, und führten deshalb heimliche Affären. Im «Giftschrank» lagen diese Dossiers neben jenen von Schwerverbrechern.
Diese Zeitung hat Einsicht in das ehemalige Geheimarchiv verlangt und erhalten. Einsehbar sind die Dossiers jener Priester, die seit mindestens 30 Jahren tot sind. Nachfolgend präsentieren wir fünf Fälle, die das ganze Spektrum des katholischen Sündenregisters abdecken. Sie dokumentieren, welche Priester beim Bischof in Ungnade fielen, wie die Kirche intervenierte und was dies für die Betroffenen bedeutete.
Leo Helbling, Pater des Klosters Einsiedeln SZ, geboren 1901, geweiht 1937, gestorben 1987.
Eine 27-jährige Hausfrau aus Ruswil LU besucht 1943 den 15 Jahre älteren Pater Leo Helbling im Kloster Einsiedeln. Im Beichtstuhl vertraut sie ihm an, gegen das sechste Gebot verstossen zu haben. Es besagt: «Du sollst nicht ehebrechen!» Er weist sie an, sie solle nachher auf sein Zimmer kommen. Sie solle an der Pforte läuten und nach ihm verlangen. Mit Füllfeder notiert sie später:
Weiter schildert sie, dass er sie danach dazu gedrängt habe, ihn sexuell zu befriedigen. Jahrelang schweigt sie «aus Angst und Furcht». Doch dann meldet sie den Fall dem Bistum Basel. Dort ist bereits eine ähnliche Tat des Paters aktenkundig. Doch dieser behauptet, sich nicht zu erinnern. Aussage gegen Aussage.
Wem soll der Bischof glauben? Er fragt zwei Männer aus Ruswil über «die Sitten» der Frau aus. Der Gemeindepräsident und ein Kirchenrat bestätigen beide, sie habe «moralisch einen guten Ruf», sie sei «eine ehrenwerte Person». Die Männer bezeugen ihre Aussagen, indem sie die Bibel berühren. Deshalb glauben die Kirchenoberen der Frau und nicht Pater Helbling.
Später gesteht er in einem Brief: «Es handelt sich bei mir um eine sadistische Veranlagung.» Es errege ihn, wenn er Leute bestrafen könne. Er habe sich vom Gedanken irreleiten lassen, es könnte der Seele bestimmter Menschen nützen, wenn sie Gelegenheit zum Sühneleisten erhielten. «Ich habe längst eingesehen, dass das verkehrt ist», schreibt er.
Als Strafe muss er Exerzitien machen. Das sind geistliche Übungen. Das Kloster Einsiedeln will ihm zudem verbieten, «Frauenpersonen einzeln zu empfangen ausserhalb des Beichtstuhles».
Leo Helbling unterrichtet 37 Jahre lang Geschichte an der Klosterschule Einsiedeln. Mit 87 stirbt er nach einem Abendessen an einem Schlaganfall. Ein Bruder lobt ihn als «klösterliches Original», versteckt in den Nachruf allerdings auch einen kritischen Satz: «Seine seelische Energie und ein ausgeprägtes Durchsetzungsvermögen machten es ihm und anderen nicht immer leicht.»
Paul Lachat, Pfarrer von Burgdorf BE und Nenzlingen BL, geboren 1910, geweiht 1937, gestorben 1984.
Eine Coiffeuse und ein Pfarrer verlieben sich im Sommer 1960 in Burgdorf BE. Nachbarn beobachten, wie ein «schwarzer Mann» die Frau regelmässig in ihrer Mansardenwohnung besucht. Er mache im Treppenhaus nie Licht, um von aussen nicht gesehen zu werden, melden sie. Einmal habe er das Haus erst nach Mitternacht verlassen.
Der Inhaber des Coiffeurgeschäfts meldet dem Bistum jedes Telefongespräch, das seine Angestellte mit dem Geistlichen führt. Er informiert die kirchliche Obrigkeit auch über ein anonymes Schreiben, das sie per Post erhält. «Pfui, Pfarrerliebchen!», steht darin. Bischof Franziskus von Streng, der im Protokoll «Reverendissimus» genannt wird, lädt den Pfarrer 1961 zu einem Verhör ins Bischofshaus.
Reverendissimus: «Sie wissen wohl, warum wir Sie kommen lassen.»
Pfarrer Lachat: (Schüttelt den Kopf in verneinendem Sinn.)
Reverendissimus: «Sie sollen intime Beziehungen haben zu einer Angestellten des Damencoiffeurs G. Der betreffende Herr hat uns einen rechten Eindruck gemacht. Wir lassen Sie nicht kommen, um Sie zu verurteilen, aber wir hoffen, Sie zu retten aus diesem Verhältnis, damit es in Burgdorf nicht publik wird und ein Skandal entsteht.»
Pfarrer Lachat: «Es tut mir leid, dass ich Sie mit solchen Sachen bemühen muss. Ich will gar nichts abstreiten, obwohl ich weiss, dass Eifersucht beim Kläger mitspielt. Ich wünsche, dass man mich sobald als möglich versetzt.»
Reverendissimus: «Mit einem Stellenwechsel ist es nicht gemacht. Sie sollten auch jedes Jahr Exerzitien machen. Es muss eine innere Umwandlung stattfinden. Ich weiss: Ein anderer Bischof würde strenger dreinfahren. Ich habe aber erfahren, dass man auch da mit Milde mehr erreicht.»
Der Pfarrer gelobt Besserung, doch bald erwischen ihn die Sittenwächter von Burgdorf wieder bei einem Treffen mit seiner Geliebten. In einem weiteren Verhör streitet er alles ab.
Deshalb bietet der Bischof nun auch die Frau zu einer Einvernahme auf. Zuerst bestreitet sie die Affäre, doch als die Kirchenoberen sie in die Enge treiben, beginnt sie zu weinen und gesteht ihre «Sünden». Der Bischof wirft ihr vor, «mitschuldig am Versagen eines Priesters zu sein» und verbietet ihr den Kontakt zu ihm.
Das Bistum bestraft Pfarrer Lachat mit acht Tagen Exerzitien und versetzt ihn in eine kleine Kirchgemeinde: nach Nenzlingen BL. Kurz darauf wird er krank. Später verliert er in einer Kurve die Kontrolle über sein Auto und knallt in einen Lastwagen. Er wird gehbehindert und reicht seine Kündigung ein. Er stirbt mit 74.
Arnold Hädener, Pfarrer von Wisen SO und Welschenrohr SO, geboren 1894, geweiht 1926, gestorben 1969.
Im Solothurner Dorf Welschenrohr geht 1935 ein Gerücht um. Pfarrer Arnold Hädener soll neun Schulkinder und Ministranten missbraucht haben. Er ist 41 Jahre alt und predigt hier seit zwei Jahren. Zuerst haben die Kinder aus Angst geschwiegen. Doch dann beginnen sie, einander von ihren Erlebnissen zu erzählen. So sprechen sich die Fälle im Dorf herum und die Väter erstatten Anzeige.
Das Richteramt in Balsthal nimmt sofort Ermittlungen auf. Der Gerichtspräsident geht zum Schulhaus und befragt dort die Kinder. Die schwersten Vorwürfe erhebt ein 14-jähriger Bub. Er gibt zu Protokoll:
Der Bub unterschreibt das Protokoll. Die Polizei legt es mit den Aussagen der anderen Kinder dem Pfarrer vor. Dieser gesteht unter Tränen alles und sagt: «Ich erkläre mich im Sinne der Anzeige schuldig und ersuche um ein mildes Urteil.» Nach einer Woche schliesst das Richteramt seine Voruntersuchung ab und der Staatsanwalt erhebt Anklage.
Schon zwei Wochen später steht das Urteil fest: Ein Schwurgericht verurteilt den Priester zu 18 Monaten Gefängnis. Ein Anwalt meldet dem Bischof, das Gericht habe in den letzten 30 Jahren «keinen so argen Fall» beurteilt.
Der Bischof entlässt den Mann aus dem Priesterstand. Er wird arbeitslos und geht in Privatkonkurs. Nach der Freilassung aus dem Gefängnis bettelt der Ex-Priester den Bischof mehrmals in Briefen an, ob er ihm nicht ein kleines Amt geben könne: «Ich verspreche Ihnen aufrichtig, dass ich mein Leben so führen und meine Pflichten so erfüllen werde, dass Sie nie eine Klage über mich vernehmen werden.»
Doch der Ex-Priester bricht sein Wort. Mit 69 begeht er wieder ein Sexualdelikt und muss ins Gefängnis. Das Bistum hilft ihm danach, einen Platz in einer Benediktinergemeinschaft in Uznach SG zu finden. Er stirbt mit 75.
Die «Solothurner Nachrichten» drucken einen Nachruf, der eine Anspielung an die Sexualverbrechen enthält: «Pfarrer Hädener hat sein Kreuz oft schwer getragen und ist daran gereift für die ewige Glückseligkeit.»
Leo Weingartner, Pfarrer von Heiligkreuz TG, geboren 1902, geweiht 1927, gestorben 1978.
Pfarrer Leo Weingartner hat eine Leidenschaft für die Fotografie – und für Frauen. Während seiner Amtszeit nimmt er Hunderte Fotos von Frauen auf, die ihn im Pfarrhaus besuchen. Er fotografiert sie im Bad, im Schlafzimmer, auf dem Sofa und mit einem Gewehr in der Hand.
Hat er weiblichen Besuch, schickt er seine Haushälterin fort. Doch sie verfolgt sein Doppelleben wie eine Detektivin. Sie stöbert in seiner Fotosammlung und schickt dem Bischof eine Auswahl davon. Die heikelsten lässt sie weg, um zu verhindern, dass ihre Pfarrei allzu schlecht dasteht. Sie meint, das übermittelte Material sollte genügen, um den Pfarrer loszuwerden.
Die Fotos legt das Bistum im Personaldossier des Pfarrers ab. Es sind Hunderte Schwarz-Weiss-Bilder in kleinen Couverts. Nur eines ist leer. Darauf hat die Haushälterin mit Bleistift geschrieben: «Diese Photos haben mir am meisten zugesetzt.» Was darauf zu sehen ist, bleibt ein Geheimnis.
Die archivierten Fotos wirken aus heutiger Sicht harmlos, teilweise sogar bieder. In der damaligen Zeit aber – wir schreiben das Jahr 1949 – erscheinen sie skandalös. «Dass man von ein- und derselben Frauenperson so viele Aufnahmen machen kann, scheint auf eine abnormale Veranlagung zurückzuführen sein», notiert ein Thurgauer Sittenwächter in einem Brief an den Bischof.
Aktenkundig ist, dass der Pfarrer schon seit Jahrzehnten bei Frauenbesuchen beobachtet wird. Er sei «wie ein Mann mit einer ansteckenden Krankheit zu behandeln», schreibt ein anderer Pfarrer. Der Bischof müsse intervenieren, weil der Schaden für die Pfarrei zu gross wäre, wenn die Sache publik würde. «Aber wohin mit dem Mann?», heisst es in einem Dokument. «Ist es bei ihm eine erbliche Veranlagung, so wird er es auf einem anderen Posten wieder tun.» Schliesslich darf er bleiben.
44 Jahre lang predigt Weingartner in Heiligkreuz, einer abgelegenen Pfarrei im Mittelthurgau. Der Nachruf der «Thurgauer Volkszeitung» beschreibt ihn als «legendäre Pfarrergestalt». Sein Grab liegt am Eingang der Kirche. Er war der letzte Pfarrer der Gemeinde.
Ludwig Lohmer, Pfarrer von Nunningen SO, geboren 1900, geweiht 1937, verschwunden.
Eine Mutter meldet sich 1955 beim Bistum Basel. Der Pfarrer von Nunningen SO habe ihre beiden Buben, 15 und 16 Jahre alt, sexuell missbraucht. Der 15-Jährige gibt in einem Verhör durch das Richteramt Dorneck-Thierstein zu Protokoll:
Der Ermittler notiert, es sei circa fünfzehn Mal vorgekommen, dass sie sich im Pfarrhaus Oberkirch gegenseitig den Penis «frottierten».
Mit der Zeit merken die Eltern, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt. Sie fragen ihn aus und so erfahren sie von den Sexualdelikten. Der Vater stellt den Pfarrer zur Rede. Dieser entschuldigt sich bei der Familie. Der Mutter wäre es am liebsten, niemand würde davon erfahren. Sie befürchtet aber, dass sich der Pfarrer an weiteren Buben vergehen könnte. Deshalb meldet sie den Fall.
Das Bistum Basel suspendiert den Pfarrer. Ein Gericht verurteilt ihn zu drei Jahren Gefängnis. Der Ex-Priester geht zurück in seine Heimat Deutschland, wo sich seine Spur verliert.
Lohmer ist einst in die Schweiz gekommen, weil er in Deutschland einen «moralischen Schwächefehler» begangen hat. Im Personaldossier fehlen nähere Angaben dazu. Die Stelle in Nunningen hat er 1954 erhalten, weil schon damals Personalmangel herrscht. Das Bistum Basel hat in diesem Jahr 25 Priesterstellen offen, für die nur 15 frischgeweihte Priester bereitstehen.
Viele Jahre später meldet sich ein weiteres Opfer. Ein heute 79-jähriger Mann schreibt in einem Brief, was er damals im Religionsunterricht erlebt hat. Der Pfarrer habe ihn wegen Kleinigkeiten zusammengeschlagen. Auch andere Lehrer hätten geschlagen, aber nicht so.
Der Pfarrer habe sich auf einen Stuhl gesetzt und mit seinen Beinen den Kopf des Schülers eingeklemmt. Dann habe er ihn blau und grün geschlagen. Vermutlich habe sich der Lehrer daran aufgegeilt.
Im Jahr 2010 versucht Generalvikar Roland Trauffer, den Mann mit einem Brief von einem Kirchenaustritt abzuhalten. Der Vikar gibt den Medien die Schuld, die nur über sexuellen Missbrauch in der Kirche, aber nicht in der Familie schreiben würden. Statt aus der Kirche müsste man folglich aus der Gesellschaft austreten, behauptete das Bistum Basel.
Heute rät die Kirche von Ablenkungsmanövern ab. In einem Kommunikationskonzept schreiben die Bischöfe: «Wir können uns als Vertreter und Vertreterinnen der Kirche nicht einfach von der Schuld befreien, die an den Tätern und Vertuschern und an der ganzen Institution haftet. Wir müssen mit dieser Schuld leben.» (aargauerzeitung.ch)
Mal Klartext sprechen was hinter den Türen der so alles abgeht!