«Lungenputzer» nennen die Einheimischen den Aufstieg vom Lutherntal herauf. Wer guten Schnauf hat, schafft es locker in einer Stunde. Gut 400 Höhenmeter hinauf durch grasige Weiden und Wälder auf 1406 Meter. Dieser Berg, der die Lungen putzt, könnte so bekannt sein wie die Rigi, der Titlis, das Schilthorn oder das Jungfraujoch.
Franz Josef Stalder verglich 1797 in seinem Buch über das Entlebuch die Aussicht vom Napf mit jener von der Rigi. Frei von störenden Nachbarbergen schweift der Blick von den Schneebergen des Berner Oberlandes weit übers Mittelland bis zum Schwarzwald. Der Zürcher Professor Leonard Meister schrieb 1782 über dieses Panorama:
Emil August Türler schwärmte 1887 im Werk «Das malerische & romantische Emmenthal» über den Napf:
So können heute nicht einmal mehr hochbezahlte Touristik-PR-Schreiber rühmen.
Noch im 19. Jahrhundert scheint es, als könnte der Napf eine touristische Bedeutung erlangen wie die Rigi. Das einfache Wirtshaus auf dem Berg brennt durch Blitzschlag in die Fahnenstange am 26. Juli 1881 ab. Der damals weitherum bekannte Wirt des Hotels Bahnhof zu Langnau kauft das Gelände auf dem Gipfel und errichtet 1881 ein Hotel mit 35 Zimmern. In der zeitgenössischen Werbung heisst es: «Die neusten Zeitungen liegen auf, und eine Auswahl von Büchern und Musikalien nebst gutem Piano stehen den Gästen jederzeit zur Verfügung.» Ein Piano für den Gott der Natur.
Der Napf ist drauf und dran, ein Kurort zu werden. Emil August Türler schreibt 1887:
Wunderliche Wendungen der Geschichte haben dazu geführt, dass dieser Berg heute weniger bekannt ist also vor 200 Jahren und nie ein Kurort oder eine grosse Touristenattraktion geworden ist. Obwohl er so nahe an den urbanen Zentren unseres Landes liegt.
Das Berghotel steht noch, Hotel und Gastwirtschaft sind während des ganzen Jahres in Betrieb, das Essen ist vorzüglich. Aber das Klavier ist nicht mehr da. Gebadet wird auch nicht mehr. Abgesehen von einem Transportweg führt keine Strasse hinauf, auch keine Bahn bringt die Besucher auf den Gipfel und es gibt am Fusse des Berges keine Infrastruktur, um den Tourismus zu fördern. Zuhinterst im Lutherntal, von wo aus der Aufstieg am kürzesten ist und die Lunge geputzt wird, gibt es nur ein Stück Wiese als Parkplatz. Die Parkgebühr von zwei Franken ist freiwillig beim Stall des dortigen Bauerhofes durch ein Rohr einzuwerfen.
Dabei hätte der Napf alles, um eine Touristen-Attraktion allerersten Ranges zu sein. Dieser Berg ist der Mittelpunkt eines wilden Zentrums der Schweiz. Wie geschaffen für ein Disneyland der Voralpen. Hier verschmelzen die rückständigsten, dunkelsten Enden des Emmentals, des Entlebuchs, des Luzerner Hinterlandes und des Oberaargaus zu einem undurchdringlichen Land wie aus einem Roman von John Ronald Reuel Tolkien. Keine Strasse quert dieses Bergland. Es wird von einem Eisenbahn- und Strassenkreis von knapp 100 Kilometern Länge umschlossen. Aber weil es eben nur rundherum und nicht mitten durch geht, dauert beispielsweise eine Fahrt mit der Eisenbahn von Huttwil auf die hintere Seite des Napfes nach Langnau fast doppelt so lange wie von Bern nach Zürich. Obwohl es nur 25 Kilometer Luftlinie sind.
Den wunderbaren Stillstand der Zeit, nicht einmal 100 Kilometer von den urbanen Zentren Bern, Solothurn und Luzern entfernt, verdankt der Napf seiner ganz besonderen Lage zwischen zwei Kantonen (Luzern, Bern) und zwei Konfessionen. Im oberen Emmental gab man noch nie viel Geld für die Förderung des Fremdenverkehrs aus. Dieser Teil des Bernbietes ist ärmer als die Leventina.
Die Luzerner auf der anderen Seite hätten durchaus Geld und fördern auch in dieser Gegend innovativ den Tourismus. Unter anderem mit der UNESCO-Biosphäre Entlebuch. Aber sie haben keine Lust, eine Strasse oder eine Bahn zu einem Bergrestaurant zu finanzieren, das auf Berner Boden steht und seine Steuern der bernischen Gemeinde Trub abliefert. Die Kantonsgrenze verläuft quer über die Gipfelfläche.
Und so ist der Napf im 21. Jahrhundert ein Monte Verità der Proletarier geworden. So wie der Hügel bei Ascona in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts das Zentrum einer kulturellen Gegenströmung war, und Freidenker und Müssiggänger aus ganz Europa anlockte, so ist der Napf heute ein Ort der Ruhe und Besinnung für Rentner, Büetzer und Bürolisten, die weder Anarchie noch Veränderung der Weltordnung suchen. Laut und lärmig wird es nur selten, wenn lokale Fussballteams als Saisonvorbereitung einen Ausflug mit Besäufnis und Übernachtung zur Teambildung nützen.
Der Napf ist also eine wunderbare Oase der Ruhe geblieben. Eine Gegenwelt zur globalisierten Hektik des 21. Jahrhunderts. In der Naturmythologie gilt der Berg mit der dominanten Lage und Ausrichtung als Kraftzentrum und Sitz von Gottheiten.
Eingeweihte sagen, auf den Weiden des Gipfel-Plateaus bilde sich ständig ein See von ionisierter Luft und die Schwingen der Nagelfluh, aus der dieser Zauberberg aufgebaut ist, wirke intensiv. Die aussergewöhnliche Atmosphäre hänge auch mit der Wirkung des Goldes zusammen, das aus dem Inneren ausstrahle. Die Sage lautet, dass mitten im Napf ein riesiger Goldklumpen liege und das Regenwasser ständig kleine Mengen durch die Nagelfluh in die Bäche spüle, wo sich alle ein bisschen davon holen können.
Dazu bedarf es allerdings einiger Geduld, Fachkenntnis und Gerätschaften, die verschiedene Anbieter von Goldwasserexkursionen zur Verfügung stellen. Tatsächlich ist das Napfgold das älteste bekannte Goldvorkommen der Schweiz und wurde bereits vor zweitausend Jahren von den Helvetiern ausgewaschen. Die Mengen sind allerdings verschwindend klein.
Das wahre Gold ist schwarz. Hier wissen die Menschen noch, wie Holz in Kohle verwandelt wird. Jahrhundertelang war die Köhlerei ein wichtiger Wirtschaftszweig. Abnehmer dieser Kohle waren Schmiede, Eisengiessereien, Ziegeleien und Glashütten, aber auch die Rüstungsindustrie, die Holzkohle zur Herstellung von Schwarzpulver benötigte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Köhlerei vor dem Aus. Die Umstellung von Industrie- auf Grillkohle brachte in den 1980er Jahren die Rettung. Die grossen Holzkohlenstücke sind bei Grillspezialisten besonders gefragt. Und so sehen wir noch heute an schönen Sommertagen rund um den Napf den weissen Rauch von den Kohlenmeilern in den Himmel steigen wie seit den Zeiten der Urväter. Grad so wie am Horizont die Dampfsäule des Atommeilers von Gösgen.
Bis tief in den Dezember hinein ist der Napf ein Ort des Lichtes. Die Menschen entfliehen dem Nebel über dem dicht besiedelten Mittelland auf diesen Berg. Und ein bisschen spüren und ahnen auch die Ungläubigen, dass hier noch immer eine unheimliche Kraft der Natur wirkt. Nicht nur, weil es in den Krächen rund um den Berg viele alternative Lebensformen gibt, in Jurten und Hütten gehaust wird, und hie und da eine wahre Mordsgeschichte nach draussen dringt. Nicht nur, weil hier jener rebellische Freiheitsrang kultiviert wird, der einst zu den Bauernaufständen des 17. Jahrhunderts geführt hat.
Oben, am Rande des kleinen Plateaus steht eine Gedenkstätte für den 35-jährigen Felix Arnold, einen Spitzenringer. Der mehrfache Schweizer Meister geriet im März 2009 beim Abstieg vom Napf in ein Schneebrett und verlor sein Leben. Und weiter unten, vor dem Waldstück zum letzten Aufstieg, finden wir eine kleine Gedenktafel, die an einen Wanderer mahnt, der hier an einem Herzschlag gestorben ist.
Ein Wunder, dass es kaum eine andere Gegend in unserem Land gibt, wo sich so viele Sagen aus der Vorzeit erhalten haben, und noch heute leiht ihnen manch frommes Gemüt sein Ohr. Die grosse Ur-Angst des naturnahen Menschen ist hier noch wohlbekannt. Von Lästerern, die der Teufel entführt, sind Legendengeschichten übervoll. Noch im 19. Jahrhundert liess die Luzerner Kantonsregierung im katholischen Teil des Napfbergland heilige Bäume fällen, weil ihnen das Volk abergläubische Verehrung zollte.
Verbürgt ist der Fall eines Mannes, der nebenbei auch als Totengräber in einer kleinen Gemeinde im Napfbergland arbeitete. Er half einem Bauern bei der Heuernte. Aber ein heftiges Gewitter hielt alle von der Arbeit ab. Der Mann sah mit den anderen zur Untätigkeit verurteilten Heuern in den Regen hinaus und haderte, bei dem Hudelwetter hätte er seine Zeit besser nützen und ein Grab schaufeln können. Auf die Ermahnung, er versündige sich, lachte er nur. Am nächsten Tag verschied sein Vater völlig überraschend an einem Herzschlag.
Die Freundin aus der grossen Stadt hat dieses wunderlich-unheimliche Herzland der Schweiz leicht schaudernd ein Wolfsland genannt. Was sind da Rigi, Schilthorn oder Jungfraujoch schon gegen ein echtes Wolfsland?