Dieser Roman müsste mit einer Triggerwarnung beginnen: Achtung, die Lektüre könnte Ihnen aufzeigen, dass Sie rettungslos von gestern sind! Dass der Roman dann auch noch «Tick Tack» heisst, also wie das Geräusch einer Uhr, die unsere Lebenszeit kassiert, ist nur eine von vielen Pointen, die Julia von Lucadou parat hat.
Alt kann man sich hauptsächlich wegen der Sprache fühlen, die den Jugend- und Tiktok-Slang nicht platt imitiert, aber aufnimmt. Sie sorgt andererseits mit ihren unzähligen Anglizismen für Komik. Man liest «lip-syncen», «Caption» oder «cute AF». Ein bisschen versteht man es ja, und das reicht.
Julia Lucadou erzählt davon, wie Tiktok-Teens ticken, und zwar nicht die Angepassten, sondern Girls, die überall Mainstream wittern. Die Autorin versucht damit etwas vom Schwierigsten in der Literatur: Sie will nicht nur ein diffuses Lebensgefühl, sondern Verweigerungsmomente einer pubertierenden Generation glaubwürdig erfassen, und zwar bis in den Jargon hinein, mit dem sie sich von ihren Eltern, Lehrern, der ganzen Erwachsenensphäre abgrenzen, also auch von der Autorin, die mit 40 Jahren ebenfalls schon zur Müttergeneration zählt. Wenn das gelingt, entstehen Kultromane wie Salingers «Der Fänger im Roggen» oder Herrndorfs «Tschick».
Darauf schielt Julia von Lucadou aber nicht. Ihr geht es unüberhörbar um einen gesellschaftskritischen Ansatz: Was machen soziale Medien wie Tiktok oder Instagram mit uns? Bereits in ihrem zu Recht gefeierten Debütroman «Die Hochhausspringerin» entwarf Julia von Lucadou eine auf Selbstoptimierung getrimmte nahe Zukunft, in der alle den Algorithmen und Follower-Zahlen ausgeliefert sind.
Im neuen Roman «Tick Tack» sind wir ganz in der Gegenwart. Kaum ein Teenager lässt sich noch in den klassischen sozialen Medien Facebook oder Twitter blicken. Das ist was für Zurückgebliebene, kurz bevor ihnen als einziger Follower ihr Rollator bleibt.
Was Julia von Lucadous 15-jährige Hauptfigur Mette sagt, gilt für viele Angehörige der Generation Z: «Tiktok ist ein organisches Add-on meines natürlichen Existenzmodus, evolutionär gesprochen.» Das mag etwas altklug klingen, aber schliesslich ist Mette ein hochbegabtes Kind. Als wir sie kennen lernen, befindet sie sich nach einem Suizidversuch gerade in einer Klinik, den Fragen einer «Zwangstherapeutin» ausgesetzt. Sie muss kooperieren, also reden über die «Sache», wie sie den Suizidversuch nennt, sonst wird ihre Verwahrung nicht aufgehoben. Später gesteht sie, die «Sache» sei einfach ein «Totalaussetzer» gewesen. Sie postet «Suicide-Storys», die sie «fast auf Fame-Level» katapultieren.
Mette entwickelt eine bizarre Wahrnehmungsweise. Sie demaskiert das Zureden von Therapeutinnen, Eltern, Lehrpersonen sofort als Versuche, sie zu überwachen oder zu manipulieren, verkennt aber in ihrer kindlichen Naivität alle tatsächlichen Überwachungen und Manipulation durch soziale Medien und durch Follower.
Sie disst speziell ihre Eltern, nennt sie «Helikopter-Eltern» mit dem «Upgrade Rasenmäher». Das heisst: Wie bei einer Demo, über der ein Polizeihelikopter kreist, fühlt sich Mette von ihren Eltern kontrolliert, die ihr andererseits auch jedes Hindernis aus dem Weg mähen.
Obwohl Mette überdurchschnittlich intelligent ist und eine Eliteschule besucht, gibt es Hemmnisse, die niemand aus dem Weg räumen kann. Sie kämpft gegen ihren Körper, ihr Gewicht. Die einen kommen bei Insta an, heimsen massenweise Likes ein, sie dagegen kriegt Penisbilder zugeschickt und speichert sie in einem «Dickpic-Ordner» ab für den Fall, dass einer der Absender irgendwann Politiker werden sollte. Sie hat sich damit abgefunden, dass «Schwellkörperfotos» zum Leben einer Frau gehören, selbst wenn sie den ersten Kuss noch vor sich hat.
Julia von Lucadou zeichnet das Porträt eines Teenagers, der zwischen realer Welt und der virtuellen Parallelwelt von Tiktok kaum einen Unterschied macht. Die Bewertungen, Hierarchien, Gesetze, die dort gelten, sind für sie die Realität. Das Ziel ist, eine strahlende Tiktok-Queen mit mehr als 50'000 Followern zu sein, die sich nicht länger mit dem ordinären Volk abgeben muss.
In Mette staut sich eine Wut aus Ungenügen, die sie anfällig macht auf vermeintliche Freunde. Ein gescheiterter Student namens Jo, Bruder einer Schulkollegin, einiges älter als Mette, schwärmt plötzlich von ihrer «Suizid-Performance», bedauert nur, dass sie keinen «Livestream» eingerichtet habe. Der Suizidversuch ist zum blossen «Content» geronnen, reduziert auf Klick- und Followerzahlen.
Wie ein gewiefter Social-Media-Manager entdeckt Jo ihr virales Potenzial, will sie zu einer «Anti-Greta» ohne «Gutmenschen-Ideologie» aufbauen. Inzwischen ist die Coronapandemie ausgebrochen. Mette soll zum Meme einer Bewegung für wahre Freiheit und Demokratie werden. Jo textet ihr Sätze in den Mund, die sie nur zu gern hört.
Plötzlich ist sie eine Sophie Scholl und die Regierung schon wieder ein Unrechtsregime. Den ganzen Irrsinn der Coronaleugner lässt Julia von Lucadou revueartig passieren, gespiegelt an der inzwischen 16-jährigen Mette und ihrem Einflüsterer Jo, der sie für seine immer kruderen und gewaltbereiten Pläne missbraucht.
Man folgt von Lucadou gebannt, wenn sie diesen Indoktrinations- und Manipulationsprozess eines Mädchens in den sozialen Medien schildert. Zwar könnte der falsche Eindruck entstehen, während der Lockdowns hätten sich vorwiegend junge Menschen zu Verschwörungstheoretikern radikalisiert, aber die Autorin wirkt dem entgegen, indem sie im Roman auch erwachsene Brandstifter auftreten lässt.
Zu bewundern ist, wie mutig und souverän sie sich über Bedenken hinwegsetzt, die Corona-Wirklichkeit sei noch zu aktuell, als dass sie schon Literatur werden könne. Julia von Lucadou beweist, dass Literatur nicht erst dann entstehen muss, wenn alles vorbei ist.
Querdenker die im Leben nichts gerissen haben nun aber Anerkennung und Freunde in dieser Bubble findet.
Und nun Putinlover die behaupten dass das demokratische System des Westens ihnen "nichts gebracht hätte", "keine Teilhabe" und nun Putin und Xi hinterher rennen - in der Hoffnung Anerkennung und Stärke zu bekommen. Seufz.