Juni 2018 am Kriminalgericht in Luzern: Ein Taxifahrer wird zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Über Jahre hat er sechs Frauen sexuell genötigt, ihnen an die Brüste, zwischen die Beine gefasst. Im fahrenden Auto blieb ihnen nichts anderes übrig, als die sexuellen Handlungen über sich ergehen zu lassen. Das letzte Opfer, ein 18-jähriges Au-pair, fuhr der Taxifahrer auf eine abgelegene Strasse und vergewaltigte sie. Er wusste, dass er mit dem HI-Virus infiziert ist und wurde deshalb auch wegen versuchter schwerer Körperverletzung verurteilt.
Sein Verteidiger legt gegen den Schuldspruch Berufung ein. Er fordert, dass die Strafe auf drei Jahre reduziert wird und der Angeklagte lediglich sechs Monate davon absitzen soll. Vergangene Woche finden sich deshalb der Taxifahrer und dessen Opfer erneut vor dem Luzerner Kantonsgericht ein.
Wieder müssen die Frauen von den Übergriffen erzählen. Und noch mehr: Plötzlich befragt die Richterin eines der Opfer nach ihrer Kleidung an jenem Abend. Was sie getragen habe, welche Farbe das Kleid hatte und wie es oben aussah. Die Frau antwortete, dass das Kleid einen «U-Boot-Ausschnitt» hatte. Ob sie etwas darüber trug, will die Richterin wissen. So beschreibt es das Luzerner Newsportal «zentralplus».
«Das ist haarsträubend», sagt Corina Elmer, Leiterin der Fachstelle Frauenberatung sexuelle Gewalt. Die Fragen würden dem Opfer unterstellen, dass die Kleider Grund für den sexuellen Missbrauch waren. «Es ist nicht relevant und zeigt das problematische Vorurteil der Fachpersonen. Nämlich, dass die Kleidung dazu beiträgt, ob jemand sexuelle Gewalt erlebt oder nicht.» Leider komme es immer wieder vor, dass den Opfern solche Fragen gestellt würden. «Für Opfer einer Vergewaltigung ist es bei der Befragung so, als würde ihnen ein zweites Mal Gewalt angetan», sagt Elmer.
Das Kantonsgericht Luzern verteidigt die Fragestellung der Richterin. «Die Kleider spielen bei der Beurteilung des Delikts eine Rolle», sagt Barbara Koch, Generalsekretärin am Kantonsgericht Luzern. So habe es auch schon einen Fall gegeben, bei dem das Opfer eine Winterjacke getragen habe und deswegen das Vergehen weniger gravierend eingestuft wurde. «Ob der Angreifer das Opfer auf der nackten Brust oder durch die Jacke berührt, kann strafrechtlich einen Unterschied machen.»
Aber man müsse immer abschätzen, wie weit man bei Opfern von sexueller Gewalt mit der Fragestellung gehen könne. Gerichtsmitarbeitende werden laut Koch in ihrer Ausbildung auf solche Situationen geschult.
Für Elmer von der Frauenberatungsstelle reicht das allerdings nicht: «Die zuständigen Richter bräuchten dringend spezifische Fortbildung.» Sie führt das Beispiel des Kantons Zürich an, der eine Tagung für Staatsanwälte zum Umgang mit traumatisierten Opfern durchführte. «Solche Massnahmen verbessern den Kontakt mit Opfern von sexueller Gewalt.»
Entsetzt über die Fragen der Richterin ist auch das Luzerner Frauenstreik-Kollektiv. Am Montag schreibt es in einem offenen Brief an das Kantonsgericht: «Das Mitglied des Luzerner Gerichts impliziert die Mitschuld des Opfers und dies ist in keiner Weise tolerierbar.» Es handle sich hierbei um «Victim Blaming», die gesellschaftliche Tendenz, eher das Verhalten des Opfers zu hinterfragen, als den Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Beim Kantonsgericht Luzern ist die Kritik angekommen. Im Herbst möchte man gegenüber der Öffentlichkeit Klarheit schaffen. «Wir wollen an einem Mediengespräch erläutern, weshalb welche Fragen gestellt werden und den juristischen Hintergrund aufzeigen», sagt Koch.
Es kann durchaus sein, dass es zur Beurteilung des Falles, insbesondere zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen relevant ist, derartige Fragen zu stellen.
Dass die Richterin dem Opfer eine Mitschuld an den Ereignissen zurechnen will, ist damit überhaupt nicht gleichzustellen.
Wenn solches aus der Begründung des Urteils hervorgehen würde, wäre es natürlich ein Skandal, aber lasst unsere RichterInnen doch bitte erst einmal unbehelligt ihrer Fragepflicht nachkommen!