Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann landete vor einigen Monaten einen journalistischen Coup: Das Team seiner Sendung «ZDF Magazin Royale» recherchierte monatelang zur Frage, wie die deutschen Strafermittlungsbehörden mit Hasskommentaren im Internet umgehen. Das Fazit war ernüchternd: Mehrere Polizeistellen unternahmen nichts.
Wie steht es um die Schweizer Justiz? watson hat Kenntnis von mehreren Fällen, bei denen Polizeien und Staatsanwaltschaften tatenlos blieben oder die Verfahren auch nach monatelangen Ermittlungen nicht abgeschlossen wurden. Einer der brisantesten vorliegenden Fälle endete erst kürzlich bei der Zürcher Staatsanwaltschaft mit einem Verfahrensverzicht, obwohl die Rechtslage und die bekannten Fakten für die Eröffnung eines Strafverfahrens sprachen.
Was ist passiert? Mitte Januar 2022 verschickte ein Berner Unternehmer* ein E-Mail mit dem Inhalt: «Ich würde gut aufpassen, was du von dir gibst, du hässliche linke Zecke. Man kann nicht alles schreiben, was einem gerade einfällt. Mit Konsequenzen muss man rechnen.» Sie richtete sich gegen einen Sport-Journalisten* eines grossen Schweizer Verlags. Seine Berichte provozierten nicht – wer aber über Sport berichtet, weiss: Fans können empfindlich reagieren, wenn sich ein Artikel kritisch mit einem Klub oder Sportler befasst.
Der Journalist erstattete daraufhin Anzeige wegen Beschimpfung, übler Nachrede und Drohung. Und hörte daraufhin monatelang nichts. Die lange Verfahrensdauer überrascht, da es eigentlich nicht viel zu ermitteln gab: Die E-Mail-Adresse des Absenders kann mit einer kurzen Google-Suche mit einem Studenten (dem heutigen Berner Unternehmer) in Verbindung gebracht werden.
Von der Zürcher Staatsanwaltschaft kam jedoch lange nichts: Sie reagierte erst am 30. August mit einem eingeschriebenen Brief, in dem sie die «Nichtanhandnahmeverfügung» eröffnete – übersetzt heisst das: Sie will keine Strafuntersuchung eröffnen. In einer kurz gehaltenen Begründung schreibt die Staatsanwältin: Das Strafrecht schütze zwar vor Äusserungen, die eine Person «als Mensch verächtlich» machen. «Linke Zecke» sei aber nicht ehrverletzend, da sich dieses Schimpfwort nicht gegen die «sittliche Stellung» richte.
Diese Begründung irritiert, weil Schimpfwörter wie «Zecke» oder «Parasit» von Hitlers Nazis und rechtsextremen Kreisen verwendet wurden, um Linke oder Menschen jüdischen Glaubens als «Volksschädlinge» abzuwerten. Sie sind also keine politische Kritik, sondern sagen indirekt aus: Du schadest der Bevölkerung und gehörst wie Ungeziefer vernichtet.
Auch fasste die Staatsanwältin die Drohung nicht als justiziabel genug auf: Das Strafrecht bestrafe nur «schwere Drohungen», die einen «vernünftigen Menschen mit einigermassen normaler psychischer Gesundheit» in Schrecken oder Angst versetzen können. Beachtet werden müssten zudem die «Umstände sowie die Vorgeschichte».
Der Entscheid der Staatsanwaltschaft ist nicht rechtskräftig und kann beim Zürcher Obergericht angefochten werden.
Journalismus-Verbände kritisieren das lasche Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Janosch Tröhler, Co-Präsident des Zürcher Pressevereins, sagt: «Wir verurteilen diese Arbeitsverweigerung. Bei solch offensichtlichen Angriffen hätten zumindest Ermittlungen eröffnet werden müssen, um die Gefahrenlage zu analysieren.» Tröhler erinnert, dass während der Pandemie aus verbalen und psychischen Angriffen gegen Medienschaffende zunehmend auch handgreifliche Attacken wurden.
Urs Thalmann, Geschäftsführer des grössten Journalistinnen- und Journalisten-Verbands Impressum, schliesst sich dieser Kritik an: «Die Begründung der Staatsanwaltschaft ist nicht nur bei der Beschimpfung abenteuerlich. Auch bei der angezeigten Drohung hätte die Justiz zumindest ermitteln müssen, ob vom Absender eine Gefahr ausgeht.»
Genau das tat etwa die Bundespolizei, als radikalisierte Gegner der Corona-Politik ähnlich lautende Drohungen an Bundesräte und Politikerinnen richteten: Das Fedpol zerrte zwar nicht jede Beschimpfung und Drohung vors Gericht – oft führte ein warnender Brief dazu, dass Wutbürgerinnen und Wutbürger um Entschuldigung für ihre Worte baten.
Diesen Service gibt es aber für Medienschaffende (noch) nicht, obwohl selbst Bundesbern mittlerweile erkannt hat, dass Angriffe auf Medienschaffende auch hierzulande ein Problem sind.
Bekannt sind die verbalen Attacken einer besonders aktiven Wutbürgerin aus dem Kanton Glarus*: Sie verschickte in den vergangenen Jahren mehrere hundert E-Mails mit wüsten Beschimpfungen und Drohungen an Schweizer Redaktionen und Bundesbehörden. Einzelne Journalisten, darunter den Autor dieses Artikels, kontaktierte sie mit hunderten Hassnachrichten per WhatsApp. Ein Strafverfahren gegen sie läuft seit August 2021, zu einem ersten Entscheid kam es diesen Frühling: Die Staatsanwaltschaften in Zürich und Glarus einigten sich darauf, wer das Verfahren führen soll.
Das fehlende Interesse zur Eröffnung und raschen Durchführung solcher Strafverfahren ist also nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz weitverbreitet. Mehrere befragte Chefreporter und Chefredaktorinnen sagen, dass eindeutige Fälle zwar zur Verurteilung gebracht werden können – es sei aber eine gewisse Hartnäckigkeit nötig. Ein leitender Journalist eines Zürcher Blattes sagt: «Wenn wir die Rechtsabteilung einschalten, klappt es in der Regel. Ein schneller Gang zur Polizeistelle reicht aber nicht aus, das ist klar.»
Das Problem ist vielen Medienschaffenden bewusst. In einer jüngst publizierten Umfrage gaben 83 von 198 befragten Journalistinnen und Journalisten an, dass sie schon einmal physisch oder psychisch angegriffen wurden. In zehn Fällen kam es zu tätlichen Angriffen. Durchgeführt wurde die Umfrage vom Bundesamt für Kommunikation (Bakom) im Auftrag von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Sie erklärte letztes Jahr: «Angriffe auf Medienschaffende und die Straflosigkeit bei solchen Verbrechen sind als Angriffe auf die Demokratie selbst zu betrachten.»
Verbessert werden soll die Situation nun mit einem «nationalen Aktionsplan für die Sicherheit von Medienschaffenden». Im Fokus steht dort unter anderem der «bessere Schutz vor Drohungen und Hassrede» im Internet. Urs Thalmann, der Geschäftsführer des Journalisten-Verbands Impressum, sagt dazu: «Es mutet eigentümlich an, dass der Bund ein grosses Massnahmenpaket zur Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten ankündigt und kantonale Behörden gleichzeitig die Gefährdung offenbar nicht wahrnehmen.»
* Alle anonymisierten Personen (Sport-Journalist, Berner Unternehmer, Glarner Frau) sind der Redaktion namentlich bekannt.