Es liegt ein neuer Bericht zu den Fällen von Belästigungen beim Westschweizer Fernsehen vor. Die Ergebnisse sind nicht schön. Zu «zahlreichen Persönlichkeitsverletzungen» sei es gekommen, schreibt das Anwaltsbüro, das den Bericht verfasst hat. Genaue Angaben zu den Fällen macht es nicht. Zwei Mitarbeiter in Genf sind suspendiert worden. Der Leiter der Personalabteilung verlässt den Sender.
SRG-Generaldirektor Gilles Marchand darf aber im Amt bleiben. Er war Chef des Westschweizer Fernsehens, als es zu den Belästigungen und Übergriffen kam. Der Verwaltungsrat der SRG hat ihm das Vertrauen ausgesprochen.
Das bedeutet aber nicht, dass Marchand in diesem Gremium unbestritten war, nachdem die Westschweizer Zeitung «Le Temps» die Belästigungen Ende Oktober 2020 publik gemacht hatte. Einer der neun Verwaltungsräte setzte sich dafür ein, dass Marchand sein Amt verlassen muss. Und die SRG arbeitete schon Pläne aus für den Fall, dass dies geschieht.
Den Angriff auf den SRG-Chef lancierte Andreas Schefer. Er ist Präsident der SRG Deutschschweiz – die mit Abstand grösste Sektion des öffentlichen Medienunternehmens. Schefer arbeitete früher für Radio DRS und kennt die SRG gut. Und er äusserte Zweifel daran, ob Marchand seine Verantwortung als Chef des Westschweizer Fernsehens zwischen 2001 und 2017 hinreichend wahrgenommen habe.
Die SRG traf Dispositionen für den Fall, dass die Untersuchung zu einem negativen Urteil über Marchand kommt. Mitte April hielt der Bericht fest, dass Marchand Belästigungsvorwürfe gegen einen Kadermitarbeiter des Westschweizer Fernsehens nicht genügend habe abklären lassen. Die Mehrheit des Verwaltungsrats stufte diesen Fehler aber nicht als schwerwiegend ein. Marchand durfte bleiben.
Was wäre passiert, wenn es anders gekommen wäre? Wenn der Verwaltungsrat zum Schluss gekommen wäre, dass Marchand nicht mehr zu halten ist?
Die erste sah vor, dass SRG-Präsident Jean-Michel Cina interimistisch die operative Führung des Rundfunks übernommen hätte, und zwar zusammen mit Walter Bachmann, dem Generalsekretär der SRG. Der vormalige Walliser Staatsrat Cina hätte den Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung der SRG also in Personalunion geführt.
Cina zeigte sich in Interviews betroffen über die Belästigungen in Genf. Er hält es für unerlässlich, dass sich die Betriebskultur ändert – auch im Tessin, wo Angestellte ebenfalls Übergriffe meldeten. Cina trug sich zeitweise mit dem Gedanken, den Wandel in der SRG selber herbeizuführen.
Im Vordergrund stand aber die zweite Option: Die Stellvertreterin Marchands hätte dessen Posten übernommen. Das ist Nathalie Wappler, die Direktorin von Schweizer Radio und Fernsehen. Ende 2020 fanden Gespräche zwischen Cina und Wappler statt. Thema: Sie könnte bald zur SRG-Chefin aufrücken.
Insider am Leutschenbach berichten, dass Wappler von der Idee angetan gewesen sei. Das Schweizer Fernsehen traf personelle Vorkehrungen: Wäre Wappler zur SRG-Direktorin aufgestiegen, hätte ein Gespann SRF geführt: Susanne Wille, die Chefin der Kulturabteilung. Und Christoph Gebel, Leiter Produktion und Technologie.
Wappler war nun in einer delikaten Lage. Als Stellvertreterin Marchands ist sie ihm zu Loyalität verpflichtet. Davon habe man aber nicht mehr viel gemerkt, berichten mehrere Quellen. An Sitzungen der SRF-Geschäftsleitung fielen plötzlich spitze Bemerkungen über Marchand.
Das Schweizer Fernsehen berichtete extensiv über die Belästigungen in Genf. Wappler liess sich in der Sendung «10 vor 10» ausführlich interviewen. Tenor: Am Leutschenbach geht man mit dem Personal professioneller um als in der Westschweiz.
Wappler nimmt an den Sitzungen des Regionalvorstandes der SRG Deutschschweiz teil. Präsident des Gremiums ist Walter Schefer. Er machte vor den Mitgliedern aus seinem Herzen keine Mördergrube. Und informierte darüber, dass er im SRG-Verwaltungsrat für die Abberufung Marchands plädiert habe. Wovon Wappler profitiert hätte.
Warum ist Marchand noch im Amt? Zum einen kam die Untersuchung in Genf für ihn wie erwähnt nicht so schlecht heraus wie befürchtet. In der SRG sind aber einige überzeugt, dass ihn ein anderer Umstand gerettet hat.
Wappler war als SRG-Direktorin vorgesehen. Die Nachricht verbreitete sich Anfang Jahr unter hohen SRG-Exponenten im Tessin und in der Romandie. In der Südschweiz fand man den Plan nicht so gut. In der Westschweiz fand man ihn verheerend.
Vertreter aus der Romandie machten SRG-Präsident Cina klar: Wir wollen Wappler nicht. Marchand hat zwar ein mieses Betriebsklima in Genf zu verantworten. Trotzdem ist er uns viel lieber als Wappler.
Warum? Es spricht sich in der SRG herum, dass Wappler am Leutschenbach einen Berg von Problemen vor sich herschiebt. Dass der von ihr verkündete Umbau des Senders nur stockend vorankommt. Bekannte Moderatoren verlassen SRF. Die Technik funktioniert nicht. Auf innovative neue Programme wartet man bisher vergeblich.
Jemand wies darauf hin, dass Wappler erst zwei Jahre im Amt sei. Sie habe noch keinen Leistungsausweis als SRF-Chefin. Den solle sie sich erarbeiten, bevor sie den nächsten Karriereschritt in Angriff nehme.
So platzte der Plan. In der SRG fragen sich einige, wie Marchand und Wappler nun noch zusammenarbeiten können, nach allem, was sich an der Spitze der SRG abgespielt hat.
Auf die Frage, ob sie der Ansicht sei, dass Marchand abtreten sollte wegen der Geschehnisse in Genf, antwortet Wappler: «Nein, das bin ich nicht. Die SRG und auch SRF haben derzeit diverse, anspruchsvolle Herausforderungen zu meistern. Dies tun wir entschlossen und geschlossen mit der Unterstützung des Verwaltungsrates und der ganzen Geschäftsleitung. Ich schätze die gute und einvernehmliche Zusammenarbeit mit Gilles Marchand bei all diesen herausfordernden Aufgaben sehr.»