Gleich zu Beginn des Gesprächs fragt Christoph Berger rhetorisch: «Wenn Sie heute etwas schreiben zu Corona, erhalten Sie immer noch negative Meldungen?» Auch er werde zuverlässig weiterhin damit bedient, erklärt der Chefarzt Infektiologie am Kinderspital Zürich gelassen, welcher der Schweiz während der Pandemie als «Impfchef» die Impfstrategie erklärt hatte.
Damals, als Bilder von Leichenzügen in Bergamo um die Welt gingen, sich um Luft ringende Covid-Patienten in den Spitalgängen stauten und die Intensivstationen auch bei uns überfüllt waren. Sars-CoV-2 hatte die Welt im Würgegriff und verteilte sich immer schneller um den Erdball. Mit Hochdruck arbeiteten Wissenschaft, Industrie und Politik daran, so schnell wie möglich einen Impfstoff zu entwickeln.
In dieser struben Zeit ab Anfang 2020 war Berger Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif). Und wird eines der Gesichter der Pandemie. So wie Bundesrat Alain Berset. Oder noch greller Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG), der «Mister Corona» schlechthin, der sich zu seinem Abschied in Schale in die Aare warf. Nun tritt Berger aus der Impfkommission aus, nachdem er bereits 2023 die Präsidentschaft abgegeben hatte.
Schnell prasselte während der Pandemie aus der bald polarisierten Gesellschaft viel auf ihn ein. Vonseiten der Impfturbos, die ihre Kinder so schnell wie möglich impfen wollten, und noch heftiger und aggressiver von den Impfgegnern. «Er musste sehr viel Aggression und Kritik aushalten, was ihm mit einer bemerkenswerten Ruhe und Kraft gelungen ist», sagt dazu Anita Niederer-Loher vom Ostschweizer Kinderspital, die als Ekif-Vizepräsidentin mit Berger zusammengearbeitet hat.
In der ersten Welle im März 2020 gab es noch keinen Impfstoff, die Situation war prekär. Mit Massnahmen wie Abstand halten, Lockdowns und Schulschliessungen wollte man Menschen retten und das Gesundheitswesen vor dem Zusammenbruch schützen.
Besonders die Schulschliessungen waren umstritten. Berger hält sie zum damaligen Zeitpunkt für richtig. Weil man das Virus noch nicht kannte und die gesamte Bevölkerung noch keine Immunität gegen das Virus hatte. «Man hat aber schnell gesehen, dass es die Alten und Risikopersonen viel mehr trifft. Ich bin deshalb total glücklich darüber, dass die Schulschliessungen in der Schweiz sehr kurz waren, auch im Vergleich mit den Nachbarländern.»
Ein Jahr nach dem ersten Covid-Fall konnte Ende 2020 in der Schweiz erstmals geimpft werden. Für Berger einer der besten Momente der Pandemie, weil die Impfstoffe von Moderna und Biontech schneller zur Verfügung standen als erwartet. Bald hat der Kinder-Infektiologe aber auch die schwierigsten Momente zu überstehen. «Ich habe immer versucht, die Impfung zu erklären. Ich bemerkte aber schnell, dass ein Teil der Menschen das gar nicht wissen wollte. Ich habe oft gegen eine Wand geredet», sagt Berger. Er aber wollte verstanden werden. «Die Polarisierung war das Schwierigste.»
Die verschiedenen Massnahmen halfen, aus der ersten Not herauszukommen. Mit der Impfung gelang es danach, die Risikopersonen vor schweren Verläufen zu schützen. «Weil die Impfung erfolgreich war, hätte man diese indirekten Massnahmen schneller wieder zurücknehmen können. Das ging zum Glück aber doch recht schnell.» Denn die Einschränkungen hatten immensen Einfluss auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. «Damit will ich aber überhaupt nicht sagen, dass die Impfung gefährlich war oder ist für Kinder. Aber sie war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so wichtig.»
«Rückblickend wäre eine raschere Lockerung der Massnahmen möglich gewesen. Damit hätten die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen wohl abgemildert werden können», sagt die Ekif-Vizepräsidentin Niederer-Loher. «Nur hatte zu dem Zeitpunkt niemand das heutige Wissen über den Verlauf und über die Dynamik des Virus.» Von einem Fehler könne man nicht reden. Die heutigen Entscheidungsgrundlagen hätten damals mit keinem Mittel schneller oder besser beschafft werden können.
Nach Beginn der Impfungen an Weihnachten 2020 stand die Solidarität im Vordergrund. Impfen, um sich selbst, aber auch andere zu schützen. Dazu gehörte auch die Impfung von Kindern und Jugendlichen. Auch weil man anfangs dachte, die Impfung reduziere die Übertragung des Virus massgeblich. «Bei der ursprünglichen Wuhan-Variante von Sars-CoV-2 und bei der Variante Alpha hat das noch gestimmt. Nachher mit den folgenden Varianten aber nicht mehr», sagt Berger.
Der Solidaritätsgedanke war dann nach Berger nicht mehr entscheidend, sondern der Selbstschutz. Dieser war aber bei Kindern nicht gleich nötig wie bei Erwachsenen. Deshalb würde er heute bei den Empfehlungen zurückhaltender agieren und schneller reagieren. Die Impfung der Allgemeinbevölkerung, also auch der Jugendlichen, würde er heute ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr empfehlen. Bei den Erwachsenen sei die damalige Empfehlung aber richtig gewesen.
Immer wieder waren während der Pandemie die Nebenwirkungen ein Thema. «Nebenwirkungen gibt es bei einer Impfung. Wenn man Hunderte Millionen Menschen impft, kommen auch seltene Komplikationen vor. So wie Myocarditis», sagt Berger. Es habe aber gleichzeitig sehr viele Risikopersonen vor ganz schweren Covid-Verläufen geschützt und Todesfälle verhindert. Es sei immer eine Abwägung von Nutzen und Risiken. Der Covid-Impfstoff sei nicht nebenwirkungsreicher als andere Impfstoffe und könne als sicher betrachtet werden.
Christoph Berger war zudem jemand, der während der Pandemie einen extremen Moment erlebte. Im März 2022 wurde er entführt und bedroht. Der Entführer wurde schliesslich von der Polizei erschossen. Aufgrund dessen wurde das Verfahren eingestellt, noch immer am Laufen ist ein Verfahren der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit dem polizeilichen Schusswaffeneinsatz, wie die Staatsanwaltschaft Zürich auf Anfrage erklärt. Dazu sagt Berger: «Die Entführung hat für mich und meine Familie etwas bedeutet. Das ist aber Privatsphäre. Meine Tätigkeit als Ekif-Präsident hat das nicht beeinflusst, die habe ich ja auch weitergeführt. Ich hätte ja auch zurücktreten können.»
Jetzt tritt Berger aus der Impfkommission zurück. Derweil verändert sich das Virus laufend und zirkuliert schnell. «Wir leben damit», sagt Berger. Gefährdet seien aber weiterhin die Risikopersonen, welche das höhere Risiko mit einer Impfung vermindern könnten. Die Impfempfehlung wird heute aber nicht mehr gut befolgt, nur noch ein Fünftel der Senioren lässt sich impfen. Zum einen habe Covid an Schrecken verloren, zudem gebe es trotz der Hunderte Millionen erfolgreicher Impfungen immer noch Menschen, die keine mRNA-Impfung wollten. Berger sieht das gelassen, jeder sei selbst für seinen Schutz verantwortlich.
Mit einer nächsten Pandemie rechnet Berger in nächster Zeit nicht, für immer sei das aber nicht ausgeschlossen. Dann sei das Vertrauen ins Gesundheitswesen und deren Experten wichtig. Dieses ist durch die Impfskeptiker untergraben worden. Deshalb hat man befürchtet, dass die Impfquoten generell zurückgehen könnten.
Dem ist nicht so. «Grundsätzlich ist das Vertrauen in die Impfungen in der Schweizer Bevölkerung sehr hoch. Ganz besonders bei Kinderimpfungen. Das ist auch durch die Pandemie nicht gesunken. Eine grosse Mehrheit der Eltern will eine Impfung für ihre Kinder.» Die Impfquote sei nicht tiefer als vor der Pandemie, wenn nicht sogar höher. Das freut Berger beim Abschied.
Einen spektakulären Abtritt wie jenen von Daniel Koch wird Christoph Berger nicht haben. Das würde auch gar nicht zum Zürcher Kinderarzt passen. «Er hat immer Verantwortung übernommen und den Überblick behalten», sagt Niederer-Loher. Und jede Frage der Journalisten beantwortet. Er habe nie den Fokus verloren, worum es eigentlich ging – nämlich mit einer klaren Strategie möglichst viele schwere Erkrankungen zu verhindern. «Er musste aber auch sehr viel Aggression und Kritik aushalten, was ihm mit einer bemerkenswerten Ruhe und Kraft gelungen ist», sagt die Kinder-Infektiologin Niederer-Loher. (aargauerzeitung.ch)